INDUSTRIEALISIERUNG

Dia-Serie Industriealisierun

Die  I. brachte eine tief in das innere Gefüge der Stadt eingreifende und die weitere Stadtentwicklung entscheidend bestimmende Wandlung Berlins. Stark begünstigt durch die Jahrhunderte lange gewerbliche Tradition und die Funktion einer Hauptstadt setzte Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jh. die I. ein, und trotz einiger Standortnachteile (zum Beispiel Mangel an verwertbaren Roh- und Brennstoffvorkommen) entwickelte sich Berlin seit Mitte des 19. Jh. zu einem industriellen Zentrum und in der ersten Hälfte des 20. Jh. sogar zum führenden Industriestandort Deutschlands und einem der bedeutendsten Industriestandorte Europas BallungsgebietBallungsgebiet). In der "Stadt der Arbeit" (KRÜGER, B. 1928) gab es Mitte der 20er Jahre des 20. Jh. 294 300 gewerbliche Niederlassungen und 1 711 000 beschäftigte Personen, d.h. jede(r) zweite Berliner(in) war berufstätig. Zu jener Zeit hatten fast sämtliche Industriezweige Produktionsstätten in Berlin (vgl. Übersicht). Etwa ein Zwölftel aller deutschen Unternehmen war in der Stadt konzentriert und etwa zehn Prozent sämtlicher Beschäftigten Deutschlands arbeiteten hier. Sowohl die Organisationen der Arbeiterschaft wie der Unternehmerschaft hatten in Berlin ihre stärksten Positionen.

Industriezweige in Berlin (1928)

Industriezweig / Gewerbe
Betriebe
Personen
Eisen- und Metallindustrie
Bekleidungsgewerbe
Baugewerbe
Nahrungs-/Genussmittelgewerbe
Holz-/Schnitzstoffgewerbe
Vervielfältigungsgewerbe
Chemische Industrie
Papierindustrie
Textilindustrie
Musikinstrum.-/Spielwarenindustrie
Wasser-/Gas-/Elektr.-Versorgung
Leder-/Linoleumindustrie
Industrie der Steine und Erden
Kautschuk-/Asbestindustrie
15 329
79 341
12 192
11 687
8 375
1 503
916
2 248
2 773
810
119
1 639
648
206
393 284
208 218
104 630
84 849
58 212
52 811
24 977
21 518
19 008
13 505
12 464
9 483
7 724
5 330

Quelle: Krüger 1928/77

Aber noch bis weit ins 19. Jh. hinein bot der überwiegende Teil des heutigen Berliner Stadtgebietes ein Bild rein ländlichen Charakters. Erst die Einführung der Gewerbefreiheit (1810), der Beginn der industriellen Revolution um 1830 und die Gründung des Deutschen Zollvereins (1834), der einen expandierenden deutschen Groß- und Binnenmarkt schuf, begünstigt durch ein leistungsfähiges Wasserstraßennetz (erste Havel-Oder-Verbindung über den Finowkanal seit 1620; dessen Neueröffnung 1746; Müllroser Kanal zwischen Spree und Oder 1668; Plauer Kanal zwischen mittlerer Elbe und Havel 1746) und einen ständigen Zustrom von Arbeitskräften, darunter ausländischen, ermöglichten die Entstehung von Berliner Großindustrien und die Umwandlung der Königlichen
        Haupt- und ResidenzstadtKöniglichen Haupt- und Residenzstadt in eine Industriestadt.

Während der ersten Phase der I. bis Anfang der 70er Jahre des 19. Jh. gingen starke Impulse für die Umwandlung von Handwerks- und Manufakturbetrieben zur Fabrikproduktion vom Bau von EisenbahnenEisenbahnen aus. Die Nutzung der Dampfkraft und das darauf beruhende Eisenbahnwesen gaben den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der Berliner Maschinenbau- und Metallindustrie und damit der künftigen Stellung Berlins als Zentrum des deutschen Maschinenbaus und Grundlage der Entstehung eines universellen Industriezentrums. Die Maschinenbau- und Metallindustrie nahmen einen rasanten Aufschwung. 1801 war in Berlin erst eine Maschinenfabrik angesiedelt, in der 4 Arbeiter beschäftigt wurden; 1843 waren es 11 Maschinenfabriken (1 002 Arbeiter), 1852 30 (1 893 Arbeiter) und 1861 67 Maschinenfabriken mit 5 313 Arbeitern. Arbeiteten 1837 im Durchschnitt erst 24 Arbeitskräfte je Maschinenbaubetrieb, waren es 1846 bereits 78. Auch die Zahl der genehmigten Fabrikbauten markiert deutlich den Weg der I. Berlins: 1851-60: 621; 1861-70: 457; 1871-75: 681; 1876-80: 183; 1881-90: 525; 1891-95: 131.

In Berlin und seinen VorstädtenVorstädten entstanden bis Mitte des 19. Jh. industrielle Pionierunternehmen, die zum Kern erster Industriegebiete wurden: die Reviere vor dem Frankfurter und Schlesischen Tor sowie spreeabwärts in Moabit. Hauptstandort der Schwerindustrie wurde der nördliche Stadtrand vor dem Oranienburger Tor, beiderseits der heutigen Chausseestraße, im Volksmund damals wegen der vielen Fabrikschlote "Feuerland Feuerland" genannt - das "Birmingham der Mark" (LORENZ, W. 1995/20). In der Invalidenstraße an der Panke war die Königliche Eisengießerei entstanden, die 1805 ihre Produktion aufnahm. In der Maschinenbau-Anstalt von Freund (Gebrüder Georg Christian [1793-1819] und Julius Konrad [1801-1877]) erfolgte 1816 die Konstruktion der ersten funktionsfähigen Dampfmaschine in Berlin; bis 1834 wurden hier 17 Dampfmaschinen gebaut. Franz Anton Egells Egells(1788-1854) gründete 1822, nach mehrjährigem Aufenthalt in England, seine Neue Berliner Eisengießerei und 1826 die Egells’sche Maschinenbau-Anstalt und Eisengießerei. Borsig August Borsig Borsig(1804-1854), geb. in Breslau, von 1827-1836 Werkmeister und Leiter der Gießerei bei Egells, eröffnete 1837 in der Chausseestraße ein eigenes Unternehmen mit anfangs 50 Arbeitern (1847: ca. 1 200, 1864: ca. 1 800 Beschäftigte): die Eisengießerei und Maschinenbau-Anstalt Borsig. 1837 kamen Friedrich Adolpf Pflug Pflug(1810-1886) mit seiner Maschinen- und Waggonbau-Fabrik, 1843 das Unternehmen von Wöhlertf Friedrich Wöhlert und 1852 die Maschinenfabrik von Louis Schwartzkopff Schwartzkopff(1825-1892) hinzu.

Das erste Jahrzehnt des Baus von EisenbahnenEisenbahnen gab diesen ältesten Maschinenbaubetrieben kräftigen Auftrieb. Hatte die Maschinenbau-Anstalt Egells zunächst nur die Pflege und Wartung importierter Lokomotiven betrieben, baute die Berliner eisenverarbeitende Industrie zunehmend selbst Lokomotiven, Eisenbahnwaggons und anderes Eisenbahnzubehör nach und entwickelte es weiter. August Borsig stellte seine erste Lokomotive am 24.6.1841 mit einer Probefahrt am Anhalter Bahnhof vor, allerdings war sie noch nach amerikanischem Muster gebaut. Sie wurde von der Berlin-Anhalter Bahngesellschaft gekauft. 1844 stellte Borsig auf der Gewerbeausstellung die erste Eigenkonstruktion vor; zuvor hatte er 23 Lokomotiven nach amerikanischem Muster geliefert. Großen Absatz fanden auch seine Dampfmaschinen in der expandierenden Zuckerrübenindustrie. Selbst die alte Dampfmaschine, die bis 1904 im Kuppelraum des Wasserwerkes von Sanssouci, das 1841/42 im Stil einer maurischen Moschee in Potsdam erbaut worden war, ihren Dienst tat, stammte aus Borsigs Werk.

Pflug & Zoller, ehemalige Lieferanten von Hofkutschen, stellten sich 1839 auf die Fertigung von Eisenbahnwaggons um und hatten bald 800 Beschäftigte. Borsig kaufte in Oberschlesien eigene Erz- und Kohlengruben an; 1850 eröffnete der "Lokomotivenkönig" ein großes Eisen- und Gußstahlwerk in Moabit bei Berlin, das sein Sohn Albert Borsig (1829-1878) jedoch 1869 nach Oberschlesien verlagerte; 1887 wurde das Lokomotivwerk in der Chausseestraße aufgehoben; 1898 vereinigte Ernst von Borsig Borsig(1869-1933, Enkel des Firmengründers) die Berliner Werke zu einem großen Werk bei Tegel mit eigenem Stahlwerk, Walzwerk sowie eigener Pressen- und Hammerschmiede. Schon 1854 war die 500. Lokomotive ausgeliefert worden; bis 1873 baute die Firma Borsig 3 000 Lokomotiven. 1878 waren bei Borsig 3 500 Personen beschäftigt; beachtenswert waren auch Borsigs Verdienste in der Betriebsorganisation und betrieblichen Sozialpolitik. Louis Schwartzkopff hielt 1852 mit seiner Maschinenbau-Anstalt Einzug in der jungen Berliner Industrielandschaft. 1855 nahm er die Produktion von Ventilatoren und Kreiselpumpen und schließlich von Dampfkränen, Dampfhämmern und Dampframmen, Bergwerks- und Fördermaschinen auf. Seit 1860 widmete sich auch Schwartzkopff verstärkt dem Eisenbahnbau, bevor er 1866 in Spandau die Artillerie-Werkstätten und Gewehrfabrik, 1867 die Fabrikanlage in der Scheringstraße und 1900 die Werke in Wildau errichtete. 1895 kam eine eigene elektrotechnische Abteilung hinzu. Nach der Volkszählung von 1875 besaßen jedoch von den 3 635 "größeren" Betrieben nur 624 eigene Dampfmaschinen, während von den 52 639 Kleinbetrieben (bis zu 5 Arbeitern) lediglich 121 Antriebsmaschinen besaßen.

Zu einem weiteren Großbetrieb von überregionaler Bedeutung entwickelte sich die 1843 am Stralauer Platz (heute Bezirk Friedrichshain) in unmittelbarer Nähe zur Spree eröffnete Firma des Schlossermeisters Pintsch Julius Pintsch Pintsch (1815-1884). Sie stieg von einer kleinen Klempnerwerkstatt zu einem europäischen Marktführer für Gasgeräte und Gasbeleuchtungsanlagen auf. Das Großunternehmen, das ab 1863 seinen Hauptsitz in der Andreasstraße (Friedrichshain) nahm, war ab 1867 auch ein führender Rüstungsproduzent (Minen und Torpedos). 1907 wurde die Julius Pintsch AG Pintsch AG gegründet. Bis 1945 avancierte das Großunternehmen nach OSRAM zum zweitgrößten Glühlampenhersteller Deutschlands. Fast zeitgleich entwickelte sich ein weiteres industrielles Großunternehmen von den Anfängen einer Schlosserwerkstatt zu einem Großbetrieb: die 1846 von Heinrich Ferdinand Eckert Eckert(1819-1875) in der Königsstadt begründeten Eckert-Werke. Der Firmengründer baute 1848 den ersten deutschen Schwingpflug. Der ursprüngliche Hersteller von Bodenbearbeitungsgeräten Landmaschinen verbreiterte zunehmend sein Sortiment - bis hin zu Spiritusbrennereien, Säge- und Schrotmühlen. In den siebziger Jahren siedelte das Hauptwerk in die Gegend des Weidenwegs nahe dem Baltenplatz (heute Bersarinplatz, Friedrichshain) um und zog schließlich von dort nach Lichtenberg, wo er 1895 an der Frankfurter Allee ein neues großes Werk errichtete.

In der zweiten Phase der I. seit Anfang der 70er verwandelten sich die größeren Industriebetriebe in Aktiengesellschaften, zunehmend unter Beteiligung von Banken (u.a. Berliner Handelsgesellschaft, Disconto-Gesellschaft, Gebr. Schickler, Anhalt & Wagener). 1870 war die Eisengießerei und Maschinenfabrik L. Schwartzkopff zur Berliner Maschinenbau AG Maschinenbau-AG umgebildet worden; 1871 folgte die Freundsche Maschinenbau-Anstalt; auch die Firmen von Egells (ab 1871 Märkisch-Schlesische Hütten-AG); Wöhlert Wöhlert, Eckert und Borsig wurden Aktiengesellschaften, Borsig verblieb jedoch im Familienbesitz. Zudem erfolgte ein weiterer Strukturwandel der Berliner Industrie hin zur Elektroindustrie. Die Tendenz zur Entwicklung von Großbetrieben setzte sich in den sog. Gründerjahren (allein 1872 waren 174 Aktiengesellschaften gegründet worden) und auch nach dem "bereinigenden Gewitter" des sog. Gründerkrachs fort. Die bereits hochentwickelte Metallindustrie begünstigte die elektrotechnischen Industrie. Seit Werner Siemens Siemens (1816-1892, 1888 geadelt) mit dem Mechaniker Johann Georg Halske Halske(1814-1890) im Oktober 1847 in einem Hinterhaus der Schöneberger Straße 19 eine Mechanikerwerkstatt Siemens-Halske mit 10 Mann eröfffnet und die "Telegraphen-Bau-Anstalt Siemens & Halske" gegründet hatte, erlebte die Berliner Elektroindustrie ihre Geburtsstunde, und seit es 1866 Siemens gelungen war, eine Dynamomaschine herzustellen und 1879 die erste elektrische Lokomotive der Welt vorzustellen sowie in den 80er Jahren weitere umwälzende Erfindungen (Akkumulator, Transformator, Mehrphasenmotor) folgten, begann ihr großer Aufstieg Siemens. Am 15.8.1884 nahm das erste öffentliche Elektrizitätswerk Berlins und damals größtes auf dem europäischen Kontinent in der Markgrafenstraße 44 den Betrieb auf. Siemens gründete in Charlottenburg ein Elektro-Werk, in dem schon 1890 über 1 000 Personen beschäftigt waren. 1903 schloß sich die Firma von Johann Sigismund Schuckert (1846-1895) Siemens & Halske an, so daß das Großunternehmen nun rund 6 000 Beschäftigte zählte. Nach Gründung neuer Werke (darunter Kabelwerke) waren schließlich 1914 in den Berliner Werken des Siemenskonzerns 39 000 Personen beschäftigt. Einen ähnlichen Aufstieg nahm seit den 80er Jahren die AEG AEG auf dem Gebiet der Starkstromtechnik. Auf der Grundlage der Edisonschen Erfindung der Glühbirne begann der Ingenieur Emil Moritz Rathenau Rathenau(1838-1915) seit 1883 eine "Deutsche Edisongesellschaft für angewandte Elektrizität" aufzubauen, aus der die "Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft" hervorging (1887) und die sich nun auf den Bau von Straßenbahnen orientierte, nachdem der Konzern den Drehstrommotor entwickelt hatte. Allein bis 1900 errichtete die AEG weltweit 248 Elektrizitätswerke und baute 65 Bahnen mit ca. 1 300 km Gleislänge. In Berlin gründete die AEG AEG zahlreiche Fabriken, darunter die in der Ackerstraße und Brunnenstraße; 1897 entstand das große AEG-Industriegelände in Oberschöneweide zur Errichtung des Kabelwerkes Oberspree. 1902 wandte sich die AEG sogar dem Automobilbau zu (NAG). In Oberschöneweide wuchs die Zahl der Einwohner von 500 (1898) auf 19 000 (1900) und 26 000 1928. 1914 verlegte die AEG den Lokomotivbau von der Brunnenstraße nach Hennigsdorf. Waren 1890 bei der AEG insgesamt 2 000 Arbeitnehmer beschäftigt, so 1900 17 361, 1914 66 100 und 1928 80 000.

Wachsende Bedeutung erlangten auch andere Industriezweige in Berlin, darunter der Instrumenten- und Apparatebau, die Bekleidungsindustrie, die chemische Industrie sowie die Nahrungs- und Genußmittelindustrie.

Bedeutende Veränderungen vollzogen sich auch in der Berliner Textilindustrie. Während die traditionelle Textilindustrie (Baumwoll- und Wollspinnerei, Seiden- und Baumwollweberei) mehr und mehr an Bedeutung verlor (1861 nur noch etwa 15 000 Arbeitskräfte im Textilgewerbe), gewannen andere Bereiche sogar an Bedeutung. 1879 bestanden 55 Fabrikationsbetriebe für Damen- und Mädchenmäntel, 1896 waren es 171. Mitte der 90er Jahre waren etwa 100 000 Beschäftigte in der Berliner Konfektion tätig, davon über 75 Prozent Frauen. In der Köpenicker Straße siedelten sich neue Kattunfabriken und -bleichen an. Um den Spittelmarkt entstanden neue Produktionsstätten der Konfektionsindustrie, die mit Namen wie Valentin Manheimer Manheimer(1815-1889) seit 1837, Rudolph Hertzog Hertzog(1815-1894) seit 1839 und Hermann Gerson Gerson(1813-1861) seit 1841 verbunden waren.

Der Verbrauch und Handel mit chemisch-pharmazeutischen Produkten, Farben, Parfümerien, Ölen, Fetten, Seifen usw. veranlaßte zahlreiche Apotheken, sich zu Chemiebetrieben zu wandeln bzw. Unternehmer, neue Betriebe zu gründen. 1925 wurden in Berlin 916 Betriebe der chemischen Industrie mit rund 25 000 Beschäftigten gezählt. Zu chemischen Großbetrieben entwickelten sich die "Chemische Fabrik a. Aktien vormals E. Schering" mit Werken in der Müllerstraße (Wedding), in Charlottenburg und Adlershof. Ernst Ch.F. Schering Schering(1824-1889), einst Besitzer der "Grünen Apotheke" in der Chausseestraße, wurde 1868 Mitbegründer (bis 1880 Schatzmeister) der Deutschen Chemischen Gesellschaft und entwickelte seit 1870 sein Werk an der Müller-/Fennstraße zu einem Chemie-Großunternehmen von Weltruf. Gleiches gilt für die "Aktiengesellschaft für Anilin-Fabrikation", aus der 1898 das Warenzeichen Agfa abgeleitet wurde. 1867 war die für die chemische Industrie in Berlin wichtige Anilinfabrikation am Industrie Rummelsburger See durch Paul Mendelssohn Bartholdy Mendelssohn(1841-1880), Urenkel des Berliner Aufklärers Moses Mendelssohn (1729-1786) und Sohn des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) gemeinsam mit seinem Freund Carl Alexander Martius Martius(1838-1920) aufgenommen worden. Durch Firmenkäufe und -erweiterungen dehnte sich die Aktiengesellschaft für Anilin-Fabrikation beträchtlich aus (u.a. durch die Standorte in der Skalitzer Straße am Kottbuser Tor und in Treptow). 1925 ging das Unternehmen in der IG Farben auf und produzierte Kunstseide, seit 1937 unter dem Namen "IG Farben AG Aceta" als Zweigwerk der Agfa-Wolfen. Dem Chemiker Paul Schlack (1897-1987) gelang 1938 im Rummelsburger Werk eine bedeutende Erfindung, die zur Herstellung von Perlon führte.

Als Spezifik des Industriestandorts Berlin prägte sich immer mehr die Verarbeitung von Halbfabrikaten zu Endprodukten, die Fertigung qualitativ und technisch hochstehender Produkte aus. Im Sog der I. und ihrer Massenbeschäftigung erhöhte sich auch die Kaufkraft der Bevölkerung. Kaufhäuser traten zunehmend an die Stelle der alten Märkte und kleinen Läden. 1848 gründete Hermann Gerson am Werderschen Markt das erste Kaufhaus Berlins mit rd. 800 m² Verkaufsfläche, das nach Plänen von Theodor August Stein (1802-1876) errichtet und 1890 abgerissen worden war.

Die  I. in ihrer Gesamtheit steigerte erheblich die Nachfrage nach Arbeitskräften und bewirkte einen starken Zustrom von Menschen nach Berlin. "In keine andere Stadt Deutschlands ergoß sich nach 1871 ein solcher nicht abreißender Strom von Zuwanderern" (BAUER, R./HÜHNS, E. 1980/170), und Karl Scheffler Scheffler(1869-1951) sprach in diesem Zusammenhang 1910 von einer "von neuem hereinbrechenden Unkultur", die dazu beitrüge, daß Berlin "gewissenmaßen die Hauptstadt aller modernen Häßlichkeit" würde (SCHEFFLER, K. 1910/123, 166). Allein in den "Gründerjahren" 1871-1873 kamen 400.000 Menschen in die Stadt, vorwiegend im Alter von 20 bis 30 Jahren. Es entstanden neue Siedlungen in den Außenbezirken, die die StadtgebietsflächeStadtgebietsfläche vergrößerten, die städtebauliche Struktur Berlins weiter veränderten und die Einwohnerdichte (1861: 89 je Hektar, 1881: 169, 1914: 286) erhöhten. Auch die Städte und Gemeinden im Berliner Umland wuchsen. Insgesamt nahmen die Stadtentwicklungsprobleme im 19. Jh. zu. Zählte Berlin 1830 noch 247.500 Einwohner, waren es 1850 418.733; allein von 1861-1871 wuchs die Einwohnerzahl von 547.200 auf 824.484, also um 51 Prozent; 1877 wurde Berlin Millionenstadt, 1905 Zweimillionenstadt (Bevölkerungsentwicklung
        in BerlinBevölkerungsentwicklung in Berlin).

Auch die "soziale Topographie" Berlins erfuhr durch die I. enorme Veränderungen. Schon Ende der 40er Jahre des 19. Jh. gab es in Berlin etwa 18.000 bis 20.000 Fabrikarbeiter, darunter über 4 500 Frauen und an die 1.000 Kinder unter 14 Jahren. Hinzu kamen 17.000 Tagelöhner, Erd- und Eisenbahnbauarbeiter, 20.000 bis 25.000 Gehilfen, Gesellen und Lehrlinge der verschiedensten Gewerbe, 5.700 männliche und 16.900 weibliche Dienstboten sowie etwa 17.000 weitere Lohnarbeiter. Im Zeitraum von 1861 bis 1875 stieg die Zahl der in Industrie, Gewerbe und Verkehr Beschäftigten von 119.593 auf 282.982, also um 137 Prozent; über 20 Prozent aller Arbeiter waren "Schlafburschen"; die Zahl der Beschäftigten in der Metall- und Maschinenbaubranche wuchs im Zeitraum 1861-1875 von 21.000 auf 33.000, die Zahl der "Dienstboten", überwiegend Frauen und Mädchen, von 32.000 auf über 76.000, in der Textilindustrie allerdings sank die Zahl der Beschäftigten von 22.000 (1861) auf knapp 9.000 (1875). Berlin hatte die höchste durchschnittliche Bevölkerungsdichte pro Grundstück unter allen europäischen Großstädten erreicht (Hobrecht-PlanHobrecht-Plan, Wilhelminischer
        MietskasernengürtelWilhelminischer Mietskasernengürtel).

Quellen und weiterführende Literatur: Literaturquellen
Ring 1884/65-99; Nohl/Ullmann 1906/124-130; Scheffler 1910/123-124, 166; Pinner 1928/72-74; Krüger 1928/77-81; Utermann 1928/81-85; Horloff 1928/87-72; Leyden 1933/149-151; Kiaulehn 1958/133-168; Schmieder 1962/663-762; Bauer/Hühns 1980/114-116, 121-126, 163-170; Dietrich (2) 1981/159-198; Lange 1984-I/178-188; Ludewig 1986/50-65, 166-167; Demps 1987/38-39; 50-51; 56-57; 66-67; 70-71; 76-77; 84-85; 92-93; Demps/Materna 1987/327-361, 413-425; Herrmann 1987/53, 58, 72-79; Bauer 1988/218f., 273-276; Mieck 1988/519-521, 540-586; Baudisch/Cullen 1991/41f.; Gottwaldt 1991-2./10-12; Baedeker 1992/97-101; Biographisches Lexikon 1993/56, 105, 322; Berlin Handbuch 1993/1401-1406; Eickelpasch 1993/1395-1406; Mieck 1993/481; Reuter/Möschner 1993/7, 37, 63; Ribbe/Schmädeke 1994/92-94, 129-144; Lorenz 1995/15-48, 87-93, 110; Peters 1995/102-107, 125-129; Baudenkmale 1996/225; Glatzer 1997/89-132; Hinkelmann 1999/26-33

(c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung), 2004
Stadtentwicklung