55 Probleme/Projekte/Prozesse | Industriestandort am Rummelsburger See |
Grundstück in der Neuen Bahnhofstraße
in Boxhagen-Rummelsburg bezogen und den gesamten Betrieb von Britz bei Berlin
dorthin verlegt. Georg Knorr hatte eine Reihe von Eisenbahnbremsen erfunden. In den folgenden Jahren wurde das Grundstück erweitert, und von 1913 bis 1916 entstand
nach Plänen des Architekten Alfred Grenander ein Neubau für den Fabrik- und
Verwaltungskomplex. Grenander zeichnete auch für den in den 20er Jahren errichteten
imposanten Erweiterungsbau der Knorr-Bremse in der Hirschberger Straße
verantwortlich. »Durch seine harmonischen,
formvollendeten Linien zieht das neue Werk schon
von weitem die Blicke auf sich«, stellte die
»Berliner Nachtausgabe« am 12. August 1929
fest. Die Knorr-Bremse hatte sich bis Mitte der 20er Jahre zur bedeutendsten
Spezialfabrik ihrer Art in der Welt entwickelt.
Nach Kriegsende war der Betrieb ab Oktober 1946 zunächst Sowjetische
Aktiengesellschaft, von 1954 bis 1990 der VEB Berliner
Bremsenwerk. Am 6. Juni 1990 wurde das Gemeinschaftsunternehmen Berliner
Bremsenwerk-Knorr-Bremse AG gegründet und kurze
Zeit später in ein Zweigwerk der
Münchener Knorr-Bremse AG umgewandelt.
Die Apparatefabriken Treptow, ebenfalls nicht weit von der Rummelsburger Bucht entfernt, entstanden 1926 auf dem von der AEG erworbenen Grundstück in der Hoffmannstraße. Von 1946 bis 1953 Sowjetische Aktiengesellschaft, wurde der Betrieb 1954 | ||||||
Kurt Laser
Industriestandort Rummelsburger See Angesichts der gegenwärtigen Brache vom »Industriestandort Rummelsburger
Bucht« zu sprechen, ist in erster Linie Sache des Historikers.
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56 Probleme/Projekte/Prozesse | Industriestandort am Rummelsburger See |
an die DDR übergeben. Das 1971
gebildete Volkseigene Kombinat Elektro-Apparatewerke Berlin-Treptow war dann mit über
8 000 Beschäftigten der größte Betriebe der
Elektrobranche Berlins und der bedeutendste Hersteller von Automatisierungsgeräten der DDR. Am ursprünglichen Standort sind die »Treptowers« bald fertig, die einen
bestimmten Anteil an Gewerbeflächen bieten werden. Der historische Gebäudekomplex ist in den Neubau integriert.
Die EAW Industrieholding GmbH, die im Januar 1993 von der Treuhandanstalt den größten Teil der in eine Kapitalgesellschaft verwandelten Elektro-Apparate-Werke übernahm, hat ihren Standort jetzt in der Rummelsburger Hauptstraße 13. In das 1936 bis 1938 für die Aceta GmbH gebaute Haus war bereits 1957 die Relaisfabrik der Elektro-Apparatewerke umgezogen. Zur EAW Industrieholding gehören die EAW Elektronik GmbH und die EAW Relaistechnik GmbH in der Hauptstraße 13. Auf der Rummelsburger Seite der Bucht war die chemische Industrie vorherrschend, während auf der Halbinsel Stralau die Glas- und die Getränkeindustrie sowie die mit der Schiffahrt zusammenhängenden Industrie- und Dienstleistungsbranchen zu finden waren. Stralau, ein Dorf, in dem es über Jahrhunderte hinweg nur elf Fischerhäuser gab, entstand etwa zeitgleich mit Berlin und Cölln. Der Fischfang war bis ins 19. Jahrhundert der vorherrschende Erwerbszweig. Der | zwischen 1895 und 1899 gebaute, bis 1932 für die Straßenbahnlinie 82 genutzte
und kürzlich von Tauchern untersuchte Tunnel von Stralau nach Treptow war eine
technische Attraktion.
Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich die Halbinsel Stralau zu einem Industriestandort. Die erste Anlage war am Spreeufer im Jahre 1865 die Teppichfabrik von M. Protzen & Sohn, die den bis dahin ausschließlich in England üblichen Kettendruck für Teppiche nach Deutschland bzw. Berlin brachte. Dieser ermöglichte den Übergang zur Massenproduktion von Teppichen. Das Unternehmen von Protzen & Sohn gehörte zu den bedeutenden Teppichfabriken Berlins und wirkte am Standort Stralau bis 1945. Außer der Druckerei und Weberei besaß die Fabrik noch eine eigene Färberei für Schafgarne sowie eine zum eigenständigen Bau von Maschinen angelegte mechanische Werkstätte mit Schlosserei. Die Firma stellte neben Brüssel- und Germania-Teppichen auch Möbelstoffe und Kameltaschen her. Sie beschäftigte die für die damalige Zeit nicht geringe Zahl von 500 Mitarbeitern. Heute sind das Fabrikgebäude (nach 1896), die Fabrikantenvilla (um 1910) mit Remise (um 1890) und ein Teil des Villengartens noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz.1) 1883 wurde am Rummelsburger See die Berliner Jute-Spinnerei und Weberei errichtet, von der heute nur noch Reste existieren. Die Fabrik verfügte über Weberei, Spinnerei, | |||||
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Sacknäherei, Appretur- und
Retiradengebäude, Kessel-, Maschinen- und
Werkstatträume, ein Verwaltungsgebäude und ein
technisches Büro mit Wasserturm, Speicher-
und Lagerräumen.2) 1888 entstanden die
Grauertsche Maschinenfabrik und die Holzverarbeitungsfabrik von Sommerlatte,
später Gebr. Opwis, ein Jahr später die
Mörtelwerke von Gustav Weidner,3) auf die heute
noch eine verblichene Hausinschrift hinweist.
Der Standort war natürlich auch ideal für Bootswerften. Zu den bekanntesten gehört die Hansa-Werft in der Tunnelstraße, die heute noch existiert und 1911 von den drei Brüdern Geppert auf der Rummelsburger Seite an der Cöpenicker Chaussee gegründet wurde. Sie mußte im Zusammenhang mit dem Bau des Kraftwerks Klingenberg 1926 nach Stralau umziehen. Die Bootswerft Deutsch und die Werft der Havel-Spree-Dampfschiffahrtsgesellschaft »Stern« entstanden 1888. Auf dem Gelände der Stern-Werft war später ein Schiffsreparaturbetrieb der »Weißen Flotte«, an den heute nur noch ein Kran erinnert. Jüngeren Datums, aus den 20er Jahren, war der bis 1996 in der Tunnelstraße in Stralau bestehende Betriebsteil der Werft Stralau/Deutsche Binnenwerften GmbH. Zu den mit der Binnenschiffahrt zusammenhängenden Betrieben gehört die erst 1945 als »Generaldirektion Schiffahrt« gebildete Deutsche Binnenreederei, von 1983 bis 1990 Stammbetrieb des Kombinats Binnenschiffahrt und | Wasserstraßen. Hier unterzeichneten
am 19. November 1996 die Deutsche Binnenreederei GmbH, Deutsche
Binnenwerften GmbH mit ihrem Sitz in der
Köpenicker Wendenschloßstraße, die Märkische
Service- und Bunkergesellschaft GmbH und die Mohrs + Hoppe GmbH eine
Kooperationsvereinbarung über die Gründung
eines »Schiffahrtscenter Berlin«. Die Partner
vereinbarten den Bau eines neuen »Hauses der Binnenschiffahrt« in Alt-Stralau.
Ein interessanter Betrieb auf der Halbinsel Stralau war die 1881 am Rummelsburger See entstandene Palmkernöl- und Schwefelkohlenstoffabrik Rengert & Co, später von der Victoria-Mühle übernommen. Sie gewann Pflanzenöl aus Palmenkernen und anderen ölhaltigen Samen und Früchten als Rohstoff für Margarine. 1883 bis 1885 wurde der imposante Speicher im Neo-Renaissance-Stil, wahrscheinlich nach Entwürfen von Albert Diebendt, gebaut. Das heute unter Denkmalschutz stehende Gebäude ist nach der Teppichfabrik M. Protzen & Sohn die zweitälteste industrielle Anlage auf der Halbinsel und das älteste erhaltene Fabrikgebäude.4) Auf zwei Betriebe in Stralau soll etwas näher eingegangen werden: Die Engelhardt-Brauerei und die Stralauer Glashütte. Die Engelhardt-Brauerei ist nach einem Mann benannt, der etwa zehn Jahre lang mit geringem Erfolg in der Nähe des Berliner Zentrums eine Brauerei betrieb. In Stralau war er nie tätig. Aber bis 1990 trug die dorti- | |||||
58 Probleme/Projekte/Prozesse | Industriestandort am Rummelsburger See |
ge Brauerei seinen Namen, und heute gibt es immer noch die Engelhardt-Brauerei in Charlottenburg. Die Keimzelle war eine
in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in
der Chausseestraße 33 entstandene
Braustätte obergärigen Bieres. Sie wurde 1887 von
dem Kaufmann Ernst Engelhardt und dem Braumeister Rudolf Frömmchen
übernommen. Das Geschäft bewährte sich nicht
besonders. 1894 schied Frömmchen als Teilhaber
aus, 1897 verkaufte Engelhardt die Firma an Otto Mayer. Unter dem Namen »Ernst
Engelhardt Nachfolger« wurde sie weitergeführt.
Aber auch der neue Inhaber konnte wegen Krankheit das Geschäft nicht rentabel gestalten.
So verkaufte er es 1902 an den ihm verwandten Ignatz Nacher aus Gleiwitz, der als Prokurist schon seit einem Jahr die Geschäftsführung in seinen Händen hatte. Dieser führte den Betrieb zunächst in Form einer Offenen Handelsgesellschaft, dann als Aktiengesellschaft so erfolgreich weiter, daß sich aus der kleinen Braustätte eines der bedeutendsten Großunternehmen der deutschen Brauindustrie entwickelte.5) Der Engelhardt-Brauerei gelang es mit dem nach einem eigenen Verfahren erzeugten Spezialprodukt, dem Caramelmalzbier, eine führende Stellung im Brauereigewerbe zu erringen. Obwohl sie danach das Hauptgewicht ihrer Produktion auf das untergärige Bier legte, blieb sie längere Zeit die größte Malzbierbrauerei der Welt. Der kleine Betrieb war der Produktion bald nicht mehr gewachsen. | So wurden in den folgenden Jahren die Josty-Brauerei in der Bergstraße und die »Genossenschaftsbrauerei Groß-Berlin« in Pankow in der damaligen Kaiser-Friedrich-Straße hinzugekauft. Nach Pankow wurde die gesamte Erzeugung verlegt. 1910 wurde eine zweite Braustätte durch Fusion mit der Kaiser-Brauerei AG in Charlottenburg gewonnen. 1916/17 wurden weitere Brauereien in Berlin Mitte, im Wedding und im Prenzlauer Berg erworben. Der Aufstieg der Engelhardt-Brauerei war nicht allein in der guten Qualität und der großen Beliebtheit der Erzeugnisse begründet, sondern auch auf verschiedene Neuerungen technischer und organisatorischer Art zurückzuführen. Dazu gehörte vor allem die Pasteurisierung des Malzbieres, die die Engelhardt-Brauerei, einer Anregung von Max Delbrück folgend, als erste in Deutschland einführte. Das neue Verfahren ermöglichte erstmalig eine Flaschenabfüllung obergärigen Bieres. Die Engelhardt-Brauerei führte auch als erste Brauerei das Flaschenpfand ein.6) 1917 fusionierte die Engelhardt-Brauerei mit der Victoria Brauerei in der Krachtstraße in Stralau. Diese, 1886 als Heydensche Brauerei in der Lützowstraße gegründet, hatte 1897 die an dieser Stelle in Stralau existierende Brauerei aufgekauft. Dabei handelte es sich um die hier seit 1887 betriebene Familienbrauerei Scharschuh, die mehrfach den Besitzer gewechselt hatte.7) Die Victoria-Brauerei verlegte Sitz und Produktion vollständig nach | |||||
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Stralau. Hier verfügte sie seit der
Jahrhundertwende über eine eigene Mälzerei mit einer Jahresproduktion von 6 000 Tonnen. Die Engelhardt-Brauerei besaß
nunmehr drei leistungsfähige Betriebe. Ihr
Groß-Berliner Absatzgebiet erfuhr gleichzeitig
Verstärkung durch den Erwerb der Berliner
Stadtbrauerei GmbH und durch die 1918 vollzogene Übernahme des gesamten Aktienkapitals der Brauerei Oswald Berliner.
Der Stralauer Betrieb beschäftigte 1929 rund
320 Arbeitskräfte, deren Tagesproduktion etwa 200 000 Hektoliter erreichte. Für
besonders erwähnenswert hielt ein Chronist die
Trommelmälzerei, die mit 17 Trommeln ausgestattet war, von denen jede 220 bis 270
Zentner Gerste faßte. Nach einem
größeren Brand 1925 wurde von 1926 bis 1928 die
alte Mälzerei vergrößert und die Produktion
auf 130 000 Zentner Malz im Jahr gesteigert.
In den Jahren 1929 bis 1930 baute der namhafte Berliner Industriearchitekt Bruno Buch
das Sudhaus um und projektierte den Neubau des Flaschenkellergebäudes, das heute
unter Denkmalschutz steht.8) Im Jahre 1933
wurden der jüdische Geschäftsführer
Ignatz Nacher und alle anderen jüdischen
Mitarbeiter mittels finanzieller Intrigen aus der
Firma gedrängt. Die Engelhardt-Brauerei steigerte ihren Gewinn von 116 635,19 RM im Geschäftsjahr 1934/35 auf 608 445,61
RM im Geschäftsjahr 1942/43. 9)
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Charlottenburger Engelhardt-Brauerei das | wegen der Arisierungspolitik des
Konzerns in Verruf geratene Symbol des Betriebes,
der Engel, durch ein anderes Zeichen ersetzt. Der 1949 auf der Stralauer Halbinsel
enteignete, seit 1969 zum Getränkekombinat
Berlin gehörende volkseigene Betrieb
Engelhardt behielt den Engel in etwas veränderter
Form bei. Der Betrieb entwickelte sich in der Folgezeit zu einer der leistungsstärksten
Brauereien der DDR. 1991 wurde sie stillgelegt.
Dieses Schicksal traf 1996 auch die Stralauer Glashütte. 1889 erwarb Edmund Nathan, ein jüdischer Kaufmann, das als »schmales Handtuch« bekannte Wiesen- und Sumpfgelände in der damaligen Dorfstraße. Es war 370 Meter lang und 38 Meter breit. Nathan wollte das Grundstück als Großlagerplatz für Flaschen nutzen. Er mußte es aber im gleichen Jahr wieder veräußern. 1890 erhielten die Käufer Evert und Neumann die Konzession zum Bau und Betrieb einer Flaschenfabrik, die später in Stralauer Glashütte umbenannt wurde. Nathan war einer der Gesellschafter und wurde mit der Leitung des Unternehmens beauftragt. Die Projektierung der Fabrikhallen, der Schmelzwannen und des Gemengehauses übernahm einer der führenden deutschen Glastechnologen, der Ingenieur Robert Dralle. Da es sich um ein spezialisiertes Gewerbe handelte, mußten die Glasmacher aus anderen Regionen Deutschlands angeworben werden. Sie kamen unter anderem aus Thüringen, aus Hamburg und Flensburg. Um die Glasma- | |||||
60 Probleme/Projekte/Prozesse | Industriestandort am Rummelsburger See |
cher in der Nähe unterzubringen, baute
die Firma von 1900 bis 1901 Wohnungen, die sogar mit Zentralheizung ausgestattet
waren. Von den drei sogenannten
»Hüttenhäusern« in Alt-Stralau sind heute noch zwei
vorhanden. Das »soziale Gewissen« der
Unternehmer schloß vor über 90 Jahren nicht aus,
die Arbeiter auszusperren und sie auch zeitweise aus den Wohnungen zu jagen, als sich
die Stralauer am großen Glasarbeiterstreik
des Jahres 1901 beteiligten.
Die Nähe des Betriebes zum Wasser und zur Bahn waren günstige Voraussetzungen für die Produktion. Die wichtigsten Rohstoffe wurden auf dem Wasserwege transportiert. Es war aber dennoch ein teurer Standort. Als sich herausstellte, daß das Eigenkapital zu gering, die Liquidität mangelhaft, die Selbstkosten hoch waren, führte das 1896 zum Konkurs des Unternehmens. Doch bereits am 23. Dezember des gleichen Jahres gründeten Gläubiger und der Konkursverwalter W. Goedel die »Stralauer Glashütte Actiengesellschaft«.10) In den Öfen wurde grünes, braunes oder goldgelbes Glas geschmolzen und zu Flaschen der verschiedensten Art verarbeitet. Versuche, 1945 das unbedingt notwendige Fensterglas hier zu produzieren, mußten bald wieder aufgegeben werden. Für die Produktion von Flachglas war das Werk nicht geeignet. 1909 gab es eine einschneidende Veränderung für die Glashütte. Die von dem Amerikaner Michael J. Owens ent- | wickelte vollautomatische Flaschenmaschine kam in Stralau zum Einsatz. Während des Ersten Weltkrieges wurden auch Glasbehälter für Giftgasgranaten hergestellt. Sowohl zu dieser Zeit als auch im Zweiten Weltkrieg waren Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter eingesetzt. Nach 1918 entwickelte sich das Unternehmen erfolgreich und erwarb weitere Grundstücke in Alt-Stralau und in der Kynaststraße. Ein Bericht aus den 20er Jahren schildert die Glashütte als einen »modern eingerichteten Betrieb, der mit automatischen Flaschenmaschinen arbeitet ... Bei vollem Betrieb sind 600 Arbeiter in der Fabrik beschäftigt ... Die Tagesproduktion beträgt bei vierundzwanzigstündiger Arbeitszeit durchschnittlich 130 000 Flaschen.« Zwischen 1933 und 1945 blühte das Geschäft der Glashüttenaktionäre. Die Versorgung der Wehrmacht und der besetzten Gebiete erforderte sehr viele Flaschen, weil kein Rücklauf an die Brauereien bzw. Spiritusfabriken erfolgte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Glashütte zu 70 Prozent zerstört. Am 23. Mai 1945 gaben die sowjetische Bezirkskommandantur und das Bezirksamt Friedrichshain den Betrieb für die Wiederaufnahme der Arbeit frei. Es wurden Bier- und Seltersflaschen für Berlin, aber auch Champagnerflaschen als Reparationsauftrag für die Sowjetunion produziert. Im Frühjahr 1949 wurde das Glaswerk Stralau volkseigen und entwickelte sich erfolgreich.11) Die 1990 gegründete Stralauer Glas- | |||||
61 Probleme/Projekte/Prozesse | Industriestandort am Rummelsburger See |
hütte GmbH wurde ein Jahr später von
den Nienburger Glaswerken übernommen und produzierte noch bis 1996 am
Gründungsort. Von der alten Glashütte stehen
das Wohnhaus (1905), das Verwaltungsgebäude (um 1900 gebaut, 1918/19 erweitert) und
das Werkstattgebäude (1919) unter Denkmalschutz.
Auf der anderen Seite der Rummelsburger Bucht wurde 1889 die Landgemeinde Boxhagen-Rummelsburg unter Einbeziehung der Kolonie Lichtenberger Kietz gebildet. 1912 erfolgte trotz Protest der Industrie ihre Eingemeindung in die 1907 gebildete Stadt Lichtenberg. Hier entwickelte sich seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein wichtiger Industrie- und Gewerbestandort. Der vormals ländliche Charakter des Gebiets ging verloren, der See wurde beinahe vollständig zugebaut. 1863 entstanden die Wedde'schen Kalkwerke, 1865 die zwei Jahre später wieder eingegangene Tonwarenfabrik und Dampfschneidemühle von Simon, 1866 die ebenfalls später wieder verschwundene Färberei von Thiele und Seeger und die Lehmannsche Woll- und Plüschwarenfabrik.12) An den 1867 entstandenen, 1870 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Norddeutschen Eiswerken war Carl Bolle zeitweilig beteiligt, bevor er die Geschäftsidee seines Lebens hatte. Aus einem Saisongeschäft machte er mit seiner Molkerei am Lützower Ufer einen Betrieb, der den Berlinern die | frische Milch bis an den
Frühstückstisch brachte. Carl Bolle war bis zu seinem
Tode im Jahre 1910 ein erfolgreicher geachteter Geschäftsmann. Er baute und
verkaufte Häuser, zog einen Seefischhandel auf
und baute in Köpenick und Rummelsburg Eiswerke. Doch aus dem »Spreeathener«
von 1889 erfahren wir, daß der Maurer Carl
Bolle ohne Erfolg versucht habe, »im Fischgeschäft und im Eishandel zu reüssieren«.
1872 kam es zur Gründung der Cementbau-Aktiengesellschaft, die das östliche Gelände des Boxhagener Gutes erwarb, parzellierte und für die Bebauung vorbereitete. Diese Gesellschaft errichtete zwischen 1872 und 1875 rund 60 sogenannte Schlackebetonhäuser, von denen noch einige in der Nöldner- und Spittastraße erhalten sind.13) Die Gesellschaft für Anilinfabrik gründete der jüdische Chemiker Paul Mendelssohn Bartholdy 1867 gemeinsam mit seinem Partner Carl Alexander von Martius auf dem heutigen Gelände der Hauptstraße 913. Nur wenige Jahre vorher waren in Höchst (1862), in Elberfeld (1863) und in Ludwigshafen (1865) Fabriken für die Produktion synthetischer Farbstoffe entstanden. Die Idee der Firmengründer war, aus Destillationsprodukten des Teers Benzol und andere Aromate zu gewinnen, ersteres mittels Salpetersäure in Nitrobenzol zu überführen und dieses zu Anilin zu reduzieren. Das gelang, und der Farbenindustrie im Berliner Raum konnte Anilin geliefert werden. Obwohl die Qualität | |||||
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des Rummelsburger Produktes sogar
im Ausland geschätzt war, hielt sich der geschäftliche Erfolg in Grenzen. Ein
entscheidender Schritt für das
Chemieunternehmen war 1872 der Kauf der Jordanschen
Farbenfabrik im nahe gelegenen Treptow, am Wiesenufer, der späteren Lohmühlenstraße.
Beide Betriebe firmierten seit 1873 als Aktiengesellschaft für Anilinfarben.14) Mit der Produktion eigener Farbstoffe setzte auch der geschäftliche Erfolg ein. Der weitere Ausbau der Azofarbenherstellung führte das Unternehmen erst nach Mendelssohn Bartholdys Tod 1880 aus dem bescheidenen Rahmen ihrer ersten zehn Jahre zu der späteren Weltfirma. Andere Produktionsgebiete, wie die Photographie, die die Agfa weltberühmt machte, wurden auf dem Gelände in Treptow heimisch. Die Firmenbezeichnung »Agfa« ist am 13. Februar 1897 als Warenzeichen »für chemische Präparate und fotografische Zwecke« u. a. angemeldet worden. Die Fabrik in Treptow, in der Lohmühlenstraße, entwickelte sich zur Hauptproduktionsstätte der Berliner Agfa und später des Berliner Zweiges der I. G. Farben. Aber auch wenn Treptow und dann vor allem die Agfa-Werke in Wolfen dem Rummelsburger Betriebsteil den Rang abliefen, blieb hier fast die gesamte Produktionspalette erhalten. Die Schwerpunkte der Produktion lagen seit 1925 im wesentlichen auf dem Gebiet der Acetatkunstseide. Daneben wurden Materialien | für fotografische Zwecke,
Feuerlöschmittel, Asbestfabrikate, Düngemittel, Farben,
Farbstoffe, Firnisse, Lacke, Beizen, Klebstoffe, Gerbmittel, Bohnermasse,
Gummiwaren, Sprengstoffe, Blitzlichtpulver,
Feuerwerkskörper, Pech, Asphalt und Teer produziert.
Am 15. September 1925 gründeten die Actiengesellschaft für Anilinfabrikation, Berlin, und die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, Elberfeld, im Rummelsburger Betriebsteil mit einem Stammkapital von 2 Millionen RM die Aceta GmbH für Kunstseidenproduktion. Acetatseide wurde in dieser Zeit in England, den USA, Italien, Frankreich und Belgien gesponnen. Das Rummelsburger Werk arbeitete nach einem Verfahren, das im Werk Wolfen der I. G. Farben entwickelt worden war. Es ließ sich jedoch nicht ohne weiteres in die Großproduktion übertragen. So mußten zunächst Verluste hingenommen werden. Die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken schieden daher 1928 wieder aus. Das Produktionsgebäude für die Acetat-Herstellung wurde 1926/27 in der Hauptstraße gebaut. Mit der Herstellung von Acetatkunstseide wurde eine Arbeit wieder aufgenommen, mit der zwanzig Jahre zuvor in den Farbenfabriken Bayer begonnen worden war, Acetatseide nach einem Trockenspinnverfahren herzustellen. Dieses Verfahren konnte jedoch damals nicht produktionsreif gemacht werden. Mit der Agfa-Seide aus Wolfen, Bobingen und Rottweil, der Travis-Seide aus Premnitz, der Kupferseide aus Dormagen | |||||
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und der Acetatseide in
Berlin-Lichtenberg war die I. G. Farbenindustrie mit allen
seit den 20er Jahren gebräuchlichen Verfahren an der Kunstseidenproduktion
beteiligt.15) Die I. G. Farbenindustrie AG hatte am
30. Januar 1930 sämtliche Geschäftsanteile
der Aceta GmbH übernommen. Die Firma wurde im Handelsregister 1937 als Aceta
GmbH gelöscht und firmierte seitdem als I. G.
Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Aceta,
Berlin-Rummelsburg.16) In der Nacht zum
29. Januar 1938 gelang hier dem Chemiker Paul Schlack, aus polymerisiertem
Caprolactam eine neue synthetische Faser zu
erzeugen, für die der geheime Arbeitstitel
zunächst »Perlusan« lautete. Die produktionsreife Faser erhielt den Namen »Perlon«. 1945
fiel der Betrieb unter die Befehle Nr. 64 und 124 der Sowjetischen Militäradministration
in Deutschland und firmierte zunächst als I.
G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Werk Aceta in Auflösung. Bis zur Überführung in Volkseigentum im Dezember 1949 wurde das Unternehmen treuhänderisch
verwaltet. 1951 erhielt es den Namen VEB Kunststoffwerk Aceta. Die Firmensignets sind heute noch an den Außenwänden zu erkennen. Hergestellt wurden in der ersten Zeit versuchsweise Perlon-Nähseide und ab 1953 Perlondraht.18)
1956 entstand in der Hauptstraße 12 ein Werkteil des VEB Fotochemische Werke Köpenick. Der Köpenicker Betrieb existiert noch, während der Rummelsburger Werkteil | abgewickelt wurde. Auf dem Gelände
Hauptstraße 9/10 waren nach 1945 die Betriebe Felix Böttcher, Druckwalzen KG, Wilhelm Didzuhn, Gummiersatzteile für Kfz, die Regena-Gummiwarenfabrik untergebracht, die unter Treuhandverwaltung standen.
Danach wurden die drei Betriebe zum VEB Druckwalzen und Gummiwaren zusammengeführt, der von Juni 1962 bis Ende 1968 VEB Teforma Gummiwarenfabrik für technische Formartikel hieß. Ab Januar 1969 war es der Betrieb I der Gummiwerke Berlin des VEB Gummikombinat Berlin.19) Die 1991 gebildete Polymant GmbH befindet sich heute in Liquidation. Wie in Alt-Stralau entsteht auch in Rummelsburg ein neues Wohngebiet mit etwa 1 360 Wohnungen, außerdem der Gerichtsgarten im Bereich der ehemaligen Haftanstalt und ein Gewerbepark. Es wird davon ausgegangen, daß Rummelsburg auf Grund seiner einzigartigen Lage und seiner Geschichte als traditionsreicher Gewerbestandort gute Bedingungen für die Ansiedlung zukunftsträchtiger Produktionen, etwa in den Bereichen Umweltschutz, Recyclingtechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau oder der Medizintechnik bietet. Das 13,8 Hektar große Gebiet des Gewerbeparks Klingenberg, zu dem das gleichnamige Heizkraftwerk nicht gehört, ist als östliches Teilgebiet des städtebaulichen Entwicklungsgebietes Rummelsburger Bucht mit 175 000 Quadratmetern Brutto- | |||||
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geschoßfläche als Schwerpunkt des
produzierenden Gewerbes im Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht
vorgesehen.20)
Quellen und Anmerkungen:
| 13 Hans-Jürgen Rasch: Die Dörfer in Berlin,
Berlin 1988, S. 47
14 Erich Stenger: 100 Jahre Fotographie und die Agfa. 18391939, München 1939, S. 20 ff.; F. Haber: Franz Oppenheim zum Gedächtnis am Jahrestag seine Todes (13. Februar 1929). Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation, In: Zeitschrift für angewandte Chemie, 43 (1930), S. 41 ff; Die Farbstoffe der Aktiengesellschaft für Anilin-Fabrikation Berlin. Ihre Eigenschaften und Anwendung in der Textil-Färberei, Berlin 1904 15 Robert Bauer: Unternehmen Chemiefaser bei der deutschen Industrie, Frankfurt a. M. 1962, S. 90 f. 16 Landesarchiv Berlin, Rep. 250-02-02, Nr. 2, unpaginiert 17 Robert Bauer: Unternehmen Chemiefaser, S. 66 ff. 18 Landesarchiv Berlin, Rep. 250-02-02, Nr. 2, unpaginiert 19 Stammbaum des VEB Gummikombinat Berlin, Manuskript, Berlin, 1970, S. 1 f. 20 Entwicklungsgebiet Rummelsburger Bucht, S. 20 f. Mit diesem Artikel setzen wir die Veröffentlichung von Beiträgen eines wissenschaftlichen Kolloquiums an der Humboldt-Universität zum Thema »Stadt und Provinz. Berlin und Brandenburg in Wechselbeziehung« fort. | |||||
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