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unbeschadet überstanden und steht unter Denkmalschutz.
     Als der Zimmermannssohn August Borsig am 23. Juni 1804 in Breslau geboren wurde, hatte bereits in England die von James Watt zur Produktionsreife gebrachte Dampfmaschine weite Verbreitung gefunden, war die Steinkohle als hauptsächliche Energiequelle eingeführt, fuhr dort die erste Lokomotive von George Stephenson, entwickelte sich die Textilindustrie durch dampfbetriebene Webstühle. Die Nutzung der Dampfmaschine war der Antrieb für die grundlegende Wandlung des gewerblichen Wirtschaftslebens. Sie ermöglichte die fabrikmäßig organisierte Produktion durch mechanische Produktionstechniken sowie den Massengütertransport durch die Entwicklung des Verkehrswesens. Die industrielle Revolution bewirkte eine völlige Umgestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen.
     Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinkte Preußen, trotz vielversprechender Ansätze durch Friedrich II., dieser industriellen Entwicklung hinterher. Erst 1810 wurden hier der Zunftzwang aufgehoben und die Gewerbefreiheit verkündet. Nach dem Sturz Napoleons 1814 war die Kontinentalsperre aufgehoben, gab es Austauschmöglichkeiten mit den britischen Inseln. Preußische Techniker und Unternehmer versuchten nun, sich in englischen Fabriken ein Bild des dortigen Wissens- und Erfahrungsstandes zu
Maria Curter
Sehen Sie, sie geht!

August Borsig in der Maschinenbauerstraße

Jahrelang ist darum gestritten worden.
     Und 1994 wurde sie dann doch endlich angebracht – eine metallene Tafel: »August Borsig (1804–1854) gründete 1837 auf diesem Gelände eine der bedeutendsten Maschinenfabriken Deutschlands und gab damals der industriellen Revolution einen wichtigen Impuls«, steht da geschrieben. Die Gedenktafel befindet sich, zur Zeit hinter Baugerüsten und Planen versteckt, am Haus Chausseestraße 1/Ecke Torstraße im Berliner Stadtbezirk Mitte. Zwar war schon am 26. Februar 1860 eine Parallelstraße ganz in der Nähe nach Borsig benannt worden, aber nur Insider wußten um die Historie des Ortes vor dem Oranienburger Tor. Denn noch vor der Jahrhundertwende ist die alte Fabrik, mit der August Borsig begann und wo am 22. Juli 1837 das erste Eisen gegossen wurde, einer Wohnbebauung gewichen. Heute existiert in dieser Gegend lediglich ein ehemaliges Verwaltungsgebäude der Firma. Der 1899 in der Chausseestraße 13 von den Architekten Konrad Reimer und Friedrich Körte errichtete viergeschossige Bau mit einem lebensgroßen Schmied aus Bronze über der Toreinfahrt hat die Zeit

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verschaffen. Die erste Phase der Industrialisierung Preußens erfolgte mit englischen Maschinen – mit Dampfmaschinen für Gewerbe und Landwirtschaft sowie mit Webstühlen.
     Während Borsig an der Baugewerbeschule in Breslau das Zimmermannshandwerk erlernte, organisierte Christian Wilhelm Peter
Beuth in Berlin das, wozu man sich hier nicht zu schade war: vom Ausland zu lernen. Er reiste nach Frankreich, England und Belgien, erkannte, daß ein starkes Gewerbe und die industrielle Produktion für Preußens wirtschaftliche Entwicklung dringend notwendig waren. Auf sein Betreiben hin wurde im Herbst 1821 in Berlin die Königlich- Technische Schule, die sich später Königliches Gewerbe- Institut nannte, gegründet (siehe BM 11/95, S. 77 ff.). Selbständige, wirtschaftlich denkende private Unternehmer heranzubilden war das Ziel.

Was ein echter Berliner ist, der stammt aus Breslau

Mit ausgezeichnetem Abschlußzeugnis der Breslauer Baugewerbeschule und einem Stipendium versehen, kam August Borsig im Frühherbst 1823 nach Berlin und trat ins Königliche Gewerbe- Institut ein. Das Reglement der Schule, dessen Portal die Inschrift »Friedrich Wilhelm III. – Dem Gewerbefleiß« zierte, war streng, fast kleinlich: Fleiß, Ordnung, Moral, Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit der Teilnahme am Unterricht waren die obersten Grundsätze. Obwohl an Fleiß und Disziplin gewöhnt, erregte der um Haupteslänge die anderen überragende

Ehemaliges Geschäftshaus der Firma Borsig in der Chausseestraße 13
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Zeichnung der ersten Lokomotive von August Borsig, die in der Chausseestraße hergestellt wurde
Breslauer das Mißfallen des Direktors – Peter Beuth. Denn Borsig sortierte den angebotenen Lehrstoff danach, was er für sein Fortkommen für nützlich hielt, und konzentrierte nur darauf seinen Fleiß. Nach Berlin war er gekommen, um Baumeister zu werden. Die Chemie lag ihm überhaupt nicht. Warum sollte er also Zeit verschwenden mit solch einer komplizierten Materie. Doch der neue Werkstoff Eisen, aus dem die englischen Maschinen schon bestanden, zog ihn magisch an. Im Herbst 1825 sagte Borsig dem Institut kurz entschlossen, ohne Abschlußprüfung, Lebewohl. Allerdings soll Beuth selbst ihn der Schule verwiesen haben, weil er »in bestimmten Fächern nachlässig gewesen sei« und »in der Chemie nichts leiste«. Jedenfalls begab sich August Borsig in die Maschinenbauwerkstatt von Franz Anton Egells, um die praktische Eisenbearbeitung zu erlernen. Der Westfale Egells war früher in der ersten Preußischen Königli-
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chen Eisengießerei tätig. Sie befand sich in der Chausseestraße/Ecke Invalidenstraße am Ostufer der Panke vor dem Oranienburger Tor und stellte neben Kanonen und -kugeln auch schon Brücken und 1815 die erste deutsche Lokomotive her.
     Egells hatte zunächst im Jahre 1820 eine eigene kleine Maschinenbauanstalt in der Lindenstraße eingerichtet, die 1826 als »Neue Berliner Eisengießerei« vor das Oranienburger Tor zog. Damit begann das »Zeitalter des Berliner Maschinenbaus«. Hier nun erlernte der bisherige Zimmermann und Gewerbeschüler aus Breslau den praktischen Maschinenbau. Er arbeitete in der Gießerei, wurde Monteur, zeichnete und projektierte. Zehn Jahre später war er Leiter der Egell'schen Fabrik. Mit den in dieser Zeit gesparten 5 000 Talern gründete Borsig seine eigene Maschinenfabrik. Im November 1836 – er war inzwischen Berliner geworden – erwarb er vom Tierarzt Bitter zunächst das Grundstück Torstraße 46–52 für 10 000 Taler. Später, Anfang 1838, kaufte er das Terrain der Chausseestraße 1 und weitere in der Nähe gelegene Parzellen in der noch ländlichen Idylle.

116 200 Schrauben und kein Geld

Inmitten von Äckern, Gärten, Wiesen, Friedhöfen und verstreuten einzelnen Häusern wollte er nun seine Eisengießerei mit Maschinenräumen, Schornsteinen und

Nebengebäuden errichten, für die er kurz vor Weihnachten 1836 die Baugenehmigung in den Händen hielt. Doch dafür fehlte ihm das Geld, denn der Bodenkauf hatte seine gesamten Ersparnisse verschlungen. Das hielt ihn aber nicht davon ab, in provisorisch eingerichteten Bretterbuden ab 1. Januar 1837 mit etwa 50 Arbeitern seinen ersten großen Auftrag zu erfüllen: 116 200 Schrauben für den Bau von Gleisanlagen der Berlin- Potsdamer Eisenbahn und gußeisernes Schienenzubehör.
     Da er den Banken nicht kreditwürdig erschien, obwohl er ein Grundstück als Sicherheit zu bieten hatte, mußte Borsig versuchen, auf privater Basis Geld zu beschaffen. Den Hauptteil des benötigten Kapitals erhielt er vom ehemaligen Hofkleidermacher Freytag. Nun konnte Borsig daran gehen, richtige Fabrikgebäude bauen zu lassen und sich der Herstellung von Dampfmaschinen, Drehbänken sowie Gußteilen für den Eisenbahnbau zuzuwenden. Obwohl die Halle mit der Dampfmaschine für das Gebläse der Eisengießerei noch längst nicht fertiggestellt war, wurde am 22. Juli 1837 bei Borsig in der »Maschinenbauerstraße«, wie die Chausseestraße später im Volksmund hieß – bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten hier u. a. auch Pflug, Schwartzkopff und Wöhlert ihre Fabriken errichtet –, das erste Eisen gegossen. Für den Firmeninhaber selbst war dieser Tag das Gründungsdatum. Im Frühjahr 1838 nun standen
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ein Maschinenhaus und die erste selbstgebaute Dampfmaschine zur Verfügung.
     Nun wandte er sich der Auftragsbeschaffung zu. Das war weniger schwierig als die des Geldes. Denn ab etwa 1815 begann sich Preußens Wirtschaft nach und nach auf die industrielle Produktion umzustellen. Neben Eisengußwaren gab es einen hohen Bedarf an Dampfmaschinen für die Öl- und Sägemühlen, für Kattunfabriken, Spinnereien sowie Zuckersiedereien, der vorwiegend durch England gedeckt wurde. Hierin sah Borsig sein Betätigungsfeld, das ihm aber bald nicht mehr ausreichte. Etwa ab 1839 begann er sich mit dem Lokomotivbau zu beschäftigen. War doch sein erster Auftrag, eben jene Schrauben, verbunden gewesen mit dem Bau der ersten preußischen Bahnlinie Berlin–Potsdam, die 1838 eröffnet worden war. Und am 24. Juni 1841 war es soweit. Die erste Lokomotive, die »Borsig«, wurde von acht Pferden über das Fabrikgelände und die Chausseestraße zur Anhalter Bahn gezogen. Wie dem Biographen Hermann Vogt zu entnehmen ist, »wurde die ganze Nacht gearbeitet, um die Maschine zu montieren. Sonntag früh 4 Uhr wurde dieselbe geheizt und sodann zur Probe bis Großbeeren und zurück gefahren. Borsig hatte die ganze Nacht bei seinen Arbeitern gestanden und voller Erwartung auf sein Werk gesehen, von dem er noch nicht gewiß wußte, ob es ihm gelingen würde.« Als sich dann die Maschine ruhig und
sicher bewegte, soll er seinen Mitarbeitern schweißgebadet, aber hocherfreut zugerufen haben »Sehen Sie, sie geht!«.
     Als August Borsig am 6. Juli 1854 50jährig in Berlin starb, hinterließ er drei Produktionsstätten in Berlin: die Chausseestraße für den Lokomotivbau, in Moabit das Walzwerk mit Kesselschmiede und die 1850 aufgekaufte Maschinenbauanstalt der Königlichen Seehandlung an der Moabiter Kirchstraße für den Bau von Dampf- und anderen großen Maschinen. In Oberschlesien, in Biskupitz, wurden Vorbereitungen getroffen, Kohle und Roheisen zu gewinnen, um gänzlich unabhängig von England zu werden. 1854 betrug das investierte Kapital fünf Millionen Taler, waren 1 850 Arbeiter beschäftigt und die 500. Lokomotive wurde hergestellt.

Bildquellen:
Armgard Stuck;
Archiv Autor

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