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Herbert Schwenk
»Immerfort zu werden und niemals zu sein« Der Kunsthistoriker Karl Scheffler
»Blicke ich auf mein langes Leben zurück, so muß ich sagen, daß die Deutschen es mir nicht leicht gemacht haben, sie zu lieben. Immer war ich im Widerspruch zur Majorität.« Das schrieb der Schriftsteller, Kunstkritiker und Kunsthistoriker Karl Scheffler im Jahre 1945, als er das 75. Lebensjahr schon überschritten hatte. Sein stolzes Alter hatte es ihm ermöglicht, gleich mehrere wichtige Abschnitte der Geschichte zu erleben und kritisch zu begleiten - von der »Belle Epoque« bis zur Hinterlassenschaft von Faschismus und Krieg. Aber nie hatte sich der immerfort Werdende, der nach besseren Verhältnissen Suchende, der niemals Ankommende in Übereinstimmung mit den jeweiligen Zuständen befunden, die er gerade durchlebte. »Immer erschütterte von neuem abgrundtiefe politische Dummheit, die am Ende notwendig in Schlechtigkeit umschlagen mußte. Sie war das Ergebnis einer eingeborenen Instinktlosigkeit | |||||||
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für das Vernünftige, für das Mögliche, doch auch Produkt sträflicher Unbildung«, bemerkt er in seinem autobiographischen Bericht »Die fetten und die mageren Jahre«. Aus den Defiziten der Gesellschaft und ihrer Individuen an Bildung, Vernunft und Moral hat Karl Scheffler schon frühzeitig seine Aufgabe und seinen Platz abgeleitet: die Berufung zum schreibenden Kritiker. Daran | |||||||
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hat er keinen Augenblick gezweifelt.
»Nichts war mir wirklicher als der Trieb in
der Brust, als die Leidenschaft, mir selber und damit auch anderen Rechenschaft zu geben ...« Und daraus erwuchs schließlich
seine Arbeitsmethode, aus allem, selbst aus dem Kleinsten, eine Aufgabe zu
machen, sich niemals mit den gewonnenen Erkenntnissen zufrieden zu geben, Wandlungen im Urteil und deren Eingeständnis nicht zu scheuen und ständig zu schreiben, um
sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Ein Autodidakt braucht mehrere Paar Augen und Ohren Im Unterschied zu vielen anderen Autoren vollbrachte Karl Scheffler seine
umfangreiche Lebensleistung als Autodidakt. Als
der am 27. Februar 1869 in Hamburg Geborene in jungen Jahren, im Frühjahr 1888,
nach Berlin kam, verfügte er über keine durch Examen bestätigte Bildung. Er hatte weder Latein noch Griechisch gelernt, keine
höheren Schulen besucht, kein Studium der Kunstgeschichte absolviert. Aber er hatte einen enormen Wissensdurst, ein brennendes Interesse an der Kunst und ihrer
Geschichte.
| Wissen über klassische wie
zeitgenössische Kunst und Literatur an. Ganz wesentlich befördert wurde dieses Bestreben durch seine Tätigkeit an der Zeitschrift »Kunst und Künstler«, deren Redaktion
Scheffler seit 1906 inne hatte und die er fast drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrer Einstellung im Jahre 1933, leitete. Die Redaktionsarbeit füllte seine Nachmittage und Abende
aus; die intensiven Gespräche mit
Künstlern, Sammlern, Schriftstellern,
Kunsthändlern, Museumsdirektoren, Beamten des
Kulturministeriums und anderen Personen erweiterten ständig Schefflers Wissen. Erstaunlich ist, daß diese intensive Arbeit
für die Zeitschrift, für die sich Scheffler
allein »mehrere Paar Augen, Ohren und
Hände« gewünscht hätte, noch Zeit für
andere Schreibarbeit ließ. Neben seinen
Aufsätzen, Buchrezensionen,
Ausstellungsberichten und Chroniknotizen für die
Zeitschrift schrieb Scheffler in schneller Folge
Bücher, zuweilen zwei in einem Jahr.
Insgesamt mehr als 50 seit 1902.
So erschienen - um nur die wichtigsten Werke zu nennen - 1904 »Die moderne Malerei und Plastik« sowie »Konventionen der Kunst«, 1907 »Der Architekt« und »Moderne Baukunst«, 1908 »Paris« sowie »Die Frau und die Kunst«, 1910 »Berlin, ein Stadtschicksal«, 1913 »Die Architektur der Großstadt«, 1915 »Deutsche Kunst«, 1917 »Der Geist der Gotik«, 1919 »Bismarck«, »Die Melodie« sowie »Die Zukunft der deut | ||||
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schen Kunst«, 1921 »Der deutsche
Januskopf«, 1926 »Zeit und Stunde«, 1927 »Die
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert. Malerei und Plastik« (zwei Bände) sowie »Der
junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt«,
1931 »Berlin. Wandlungen einer Stadt«, 1932
»Der neue Mensch«, 1935 »Deutsche
Baumeister«, 1942 »Die großen französischen Maler des 19. Jahrhunderts« und im Jahre 1946
»Die fetten und die mageren Jahre. Ein
Arbeits- und Lebensbericht«.
Ein Vorurteil wiegt schwerer als fünfzig Bücher Ein solch produktives schriftstellerisches Werk erfordert Talent und Anstrengung gleichermaßen. Im zuletzt genannten Werk beschreibt Scheffler ausführlich seine »Werkstatt«, deren »Geheimnis« es war, den Stoff nicht vorher in allen Einzelheiten zu durchdenken, sondern »durchzuempfinden«, so daß sich erst beim Schreiben die gedanklichen Formulierungen einstellten, »nicht selten mich selbst überraschend. Dieses eben machte das Schreiben zu einem unvergleichlichen Genuß. Alles kam darauf an, den Punkt zu suchen und zu finden, woraus alles einzelne sich automatisch fast erklärt; war er gefunden, so drängten sich Bestätigungen und Beweise nur so herbei ...« Der fleißige Schriftsteller hat den Widerspruch zwischen seiner realen Leistung und deren öffentlicher Anerkennung nicht ohne Bitter | keit registriert. »Die Leistung konnte
das Vorurteil nicht wettmachen«, resümierte
er in der Rückschau auf sein Leben. Neidische Konkurrenten warfen Karl Scheffler
»Unwissenheit« vor, aufgrund seiner oft
beißenden Kritik empfanden ihn viele als
»Störenfried«. Niemals und von niemandem ist ihm je die Leitung einer kulturellen Einrichtung angetragen worden, kein
Institut, keine Regierung, keine Zeitung oder Zeitschrift hat ihm eine Studienreise
ermöglicht. Und doch hat er Werke zur
Kunstgeschichte auf einem Niveau verfaßt, das selbst
Professoren ausreichend erschien, ihren Studenten daraus ganze Kapitel mit der
Bemerkung vorzulesen, besser könne man es nicht sagen. Als einzige Ehrung wurde ihm 1944 anläßlich seines 75. Geburtstages die
Ernennung zum Ehrendoktor der Universität Zürich zuteil.
Tief erlebt er den Wandel der deutschen Hauptstadt zur »Moderne« mit allen ihren Licht- und Schattenseiten. Dieses Erleben wird zum Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens. Es war dies das Wachstum der Großstadt zur Weltstadt, die Verdichtung der Innenstadt, die Entstehung des Neuen Westens der Stadt, der Übergang zum Straßenbahn- und Autoverkehr, die Herausbildung von Vergnügungswie Mietskasernenvierteln, das Emporwuchern gleißender Kauftempel wie dunkler Hinterhöfe, die sich rasch ausbreitende Kriminalität ... Diesen gewaltigen Wandel Berlins von der | |||||
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einstigen feudalabsolutistischen
königlichen Residenz zum großbürgerlichen
Wirtschafts- und Machtzentrum hat Karl Scheffler
intensiv wie nur wenige empfunden, kritisch verarbeitet und eindrucksvoll beschrieben. Das »Wundere dich über alles!« wurde zum Credo seines Schreibens. »Man ist entweder in jeder Minute ein
Schriftsteller, oder man ist es überhaupt nicht. Das
Leben muß ununterbrochen im Herzen pochen, als Allheit in jedem Teilchen ... Die Grundempfindung, die alles belebt, ist die
nicht nachlassende Verwunderung darüber,
daß die Welt ist, wie sie ist, daß sie
überhaupt ist.«
Barbarisches Kolonistenvolk im Stammbaum der Berliner? Seinem »Wundern über alles« ließ Karl Scheffler in vielen Werken freien Lauf, am eindrucksvollsten wohl in dem 1910 erschienenen Buch »Berlin, ein Stadtschicksal«. Dreizehn Bücher hatte er bereits geschrieben und vier Jahre Redaktionstätigkeit von »Kunst und Künstler« hinter sich, aber was seine bissige, geistreich-provokative Feder anbelangt, überragte dieses Werk all seine früheren und späteren Schriften. Gerade dieses Buch sorgte seinerzeit wie kein zweites für Aufsehen. Unter dem beklemmenden Eindruck der Wilhelminischen Ära nahm Scheffler eine äußerst kritische Betrachtung der Geschichte Berlins vor. Viel | leicht hat gerade die öffentliche
Resonanz auf dieses Buch wesentlich Schefflers eingangs zitiertes Urteil geprägt,
demzufolge die Deutschen es ihm nicht leicht
gemacht hätten, sie zu lieben, und er immer im
Widerspruch zur Majorität gestanden habe ...
Nie zuvor hatte jemand den Berlinern eine solche kompakte, respektlose Einschätzung vorgelegt. Da wagte es einer, das Werden Berlins eine bloße Folge neuen Zuzugs »aus dem Westen, dem Süden oder gar aus fremden Ländern« zu nennen. Oder Berlin als eine »Kolonialstadt« zu bezeichnen. Und die Geschichte Berlins mit seiner »Soldatengeschichte« und seiner Geschichte als Garnisonstadt in einen Topf zu werfen! Scheffler beklagte in seinem ersten großen Berlin-Buch die künstliche Anlage der Stadt, den »formlosen Stadtkörper«, den »Mangel an klarer Gliederung«, den »verworrenen Grundriß«, aber auch das fehlende »Kulturgewissen« seiner »mit hungrigem Emporkömmlingswillen, festen Nerven und derbem Lebensappetit« zugewanderten Bewohner. Die Ohren müssen den verwunderten Berlinern geklungen haben, als es inmitten der »fetten Jahre« jemand wagte, Barbaren als Vorfahren der Berliner auszumachen: »Es war barbarisches Kolonistenvolk, das die neue Zeit lärmend begrüßte, als es aus dem Dunkel seines vegetativen Lebens nun zum Licht des geschichtlichen Bewußtseins emporzusteigen begann.« Und dieser wenig schmeichelhaften historischen | ||||
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Replik setzte Scheffler die Krone auf, als
er erbarmungslos den Mythos vom »schönen Spreeathen« zerstörte: »Durch das
Zusammenwirken alles Dieses ist Berlin eine der häßlichsten Städte Deutschlands
geworden. Es ist gewissermaßen die Hauptstadt
aller modernen Häßlichkeit.« Zwei Jahrzehnte später entschied sich Scheffler, eine Neubearbeitung des 1910
erschienenen Buches vorzunehmen. Unter dem Titel »Berlin. Wandlungen einer
Stadt«, verlegt 1931 bei Bruno Cassirer, nahm er seiner damaligen Kritik die Schärfe und setzte die Akzente neu. Im Vorwort
versicherte er den Berlinern, daß sein Buch
von 1910 keine »Geburt des Hasses auf Berlin« gewesen sei. »Es war zwar leidenschaftlich geschrieben, aber auch objektiv. Wenn
Unwille einen Anteil gehabt hat, so hätte ich sagen dürfen, daß es Groll aus
gekränkter Liebe sei.«
Ein »Weihelicht« dem »ewigen Werden« Eine These durchzieht - einem Motto gleich - das Schaffen Kurt Schefflers seit dem Berlin-Buch von 1910. Diese These, mehrfach wiederholt und modifiziert, besagt, daß Berlin als Tragik des Schicksals dazu verdammt sei, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Zwei Jahrzehnte später umhüllte er diese These mit der Aura des Unerklärbaren, Geheimnisvollen und über | ließ es der Göttin der Geschichte, zu
wissen, »warum es Berlins Schicksal gewesen
ist, immerfort zu werden und niemals zu
sein«. Gegen Ende seines Lebens dann erschien es Karl Scheffler wichtig, die zunächst
als Schicksal Berlins ausgemachte politische Philosophie auf das ganze Land zu
projizieren, Deutschland zu sehen als ein »Land der Mitte, mit offenen Grenzen, das beständig gefährdet ist, in dem Rassen, Völker und Stämme sich immer wieder befeindet und auch gemischt haben, und in dem
darum naturgemäß Unsicherheit, äußere
und innere, herrschen mußte, in einem Lande, dessen historisches Schicksal es war,
immerfort zu werden und niemals zu sein«.
Welche Botschaften konnte dieser profunde Kritiker noch vermitteln, nachdem er die »Emigration im eigenen Land« unter dem Faschismus und die Vertreibung durch den Krieg nach Überlingen am Bodensee überstanden und sich selbst seit 1940 noch sechs Bücher (davon drei veröffentlichte) abgerungen hatte? Scheffler sah die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen als »magere Jahre«, dementsprechend hatte er manche pessimistische und beklemmende Äußerung zu Papier gebracht. Ihm war Mißliches widerfahren; er hatte depressive Stimmungen durchgemacht und keinen Tag »ganz ohne Schmerzen« erlebt; er sah sich in die Einsamkeit gedrängt, die eine alles überschattende Melancholie hervorgebracht hatte. Die »Aussicht auf eine ge- | |||||
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 11/1996
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