HAUPTSTADTPROJEKTE Nach
der Vereinigung Berlins am 3.10.1990 sowie der Hauptstadtentscheidung
des Deutschen Bundestages (1991), dem Hauptstadtvertrag
(1992) und dem Berlin-Bonn-Gesetz (1994)
rückte die Bewältigung konkreter H. auf die Tagesordnung der
Politik. Unter H. werden Projekte verstanden, die sich zum einen aus dem
Umzug von Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin und zum anderen aus
der Wahrnehmung der Hauptstadtfunktion Berlins ergeben. Es zeigte sich
jedoch, daß die im Beschluß des Bundestages vom 20.6.1991
getroffene Zeitvorgabe von vier Jahren für die Herstellung der Arbeitsfähigkeit
des Bundestages in Berlin bei Einhaltung der ursprünglich von Bundestag
und Bundesregierung gesetzten Prämisse, "kein Umzug in Provisorien",
nicht realisierbar war. Am 12.10.1993 beschloß die Bundesregierung,
"bis zum Jahre 2000 nach Berlin umzuziehen". Der Bundestag stimmte dem
am 10.3.1994 zu. Damit waren neue verbindliche Zeitrahmen für die
Realisierung der H. gesetzt. Auf der Grundlage des Hauptstadtvertrages
vom 25.8.1992 war ein Gemeinsamer Ausschuß unter Vorsitz des
damaligen Bundesbauministers Klaus Töpfer und dem Regierenden Bürgermeister
Eberhard Diepgen gebildet worden, der die Standortfragen der H. maßgeblich
vorbereitete, über die das Bundeskabinett am 14.3.1995, 24.1. und
17.4.1996 Beschlüsse faßte.
Zur Realisierung des Hauptstadtausbaus und der im FNP 94 vorgezeichneten Stadtentwicklung mußten neue Konzepte zur städtebaulichen Gestaltung der Innenstadt entwickelt werden. Dabei war ebenso an das historische Erbe des Werdens und Wachsens der Stadt anzuknüpfen wie den infolge der Kriegszerstörungen und der Teilung der Stadt geschaffenen Realitäten Rechnung zu tragen. Wichtigste Bereiche der Um- und Neugestaltung der Innenstadt sind die Gebiete des Großen Spreebogens am Reichstagsgebäude als Kern des künftigen Parlaments- und Regierungsviertels, der Spreeinsel mit dem ehemaligen Schloßbereich, den ehemaligen DDR-Regierungsbauten (Staatsratsgebäude, Palast der Republik, Außenministerium, ZK-Gebäude), dem Potsdamer/Leipziger Platz sowie dem Bereich Brandenburger Tor/Pariser Platz. Für alle diese Stadtquartiere wurden in der ersten Hälfte der 90er Jahre im Ergebnis städtebaulicher Wettbewerbe neue Konzepte entwickelt und deren Realisierung in Angriff genommen. An der Spitze aller H. stand die Unterbringung
von Parlament und Regierung. Ursprüngliche Pläne für zahlreiche
Neubauten mußten beizeiten Sparzwängen geopfert werden. Nunmehr
waren die Regierungsinstitutionen in zum Teil renommierten Altbauten aus
der Vorkriegszeit bzw. Gebäuden des ehemaligen Partei- und Regierungsapparates
der DDR unterzubringen. Im wesentlichen wurden dafür drei Stadtgebiete
vorgesehen: der Spreebogen am nördlichen Rand des _ Großen Tiergartens,
der Bereich der Spreeinsel und das Umfeld des ehemaligen Regierungsviertels
an der Wilhelmstraße und Leipziger Straße. Hinzu kommen einzelne
Standorte am südlichen Rand des ehemaligen Diplomatenviertels an der Stauffenbergstraße
und nördlich des Spreebogens an der Invalidenstraße. Als
erstes Verfassungsorgan hatte der Bundespräsident Anfang Februar 1994
seinen Hauptsitz in das 1785 erbaute
Schloß Bellevue nach Berlin verlegt.
Im Schloßpark entsteht nach Entwurf der Frankfurter Architekten Martin
Gruber (* 1963) und Helmut Kleine-Kraneburg (* 1961) ein Neubau für
das Bundespräsidialamt, der ursprünglich 1998 und nun im Sommer
2000 fertiggestellt sein soll (Projektkosten: 94 Mill. DM). Am 19.4.1999
fand die erste feierliche Bundestagssitzung im Reichstagsgebäude
statt, das nach einem Entwurf von Sir Norman Foster (* 1935) mit Kosten
in Höhe von 600 Mill. DM umgebaut worden ist. Es folge am 23.5.1999
die Neuwahl des Bundespräsidenten, bevor Anfang September 1999 der
Deutsche Bundestag seine volle parlamentarische Arbeit in Berlin aufnahm.
In unmittelbarer Umgebung - im 200 m langen "Alsenblock" nördlich des
Reichstages, im "Luisenblock" östlich der Spree, in den "Dorotheenblöcken"
nördlich und südlich der Dorotheenstraße sowie einigen Altbauten
- entstanden bzw. entstehen Büros für Fraktionen, Ausschüsse
und die Abgeordneten des Bundestages. Allein die 6- bis 7geschossigen Gebäude
von Alsen-und Luisenblock bieten auf rund 50 000 m² Hauptnutzfläche
etwa 1 700 Räume, die Dorotheenblöcke rund 2 000 Räume auf
ca. 45 000 m². Die Baukosten für die drei Parlamentsblöcke wurden
mit 1,7 Mrd. DM veranschlagt.
Hinzu kommen die Gebäude für jene sechs Ministerien, die in Bonn verblieben sind und in Berlin "zweite Dienstsitze" nahmen. Für das Bundesministerium der Verteidigung wurden Bauteile des sog. Bendlerblocks am Reichpietschufer 74-76 (Projektkosten: mindestens 120 Mill. DM) hergerichtet. Das Gebäude entstand bis 1938 durch Neu- und Erweiterungsbauten an der heutigen Stauffenbergstraße (ehemalige Bendlerstraße, benannt nach dem Ratsmaurermeister Johann Christoph Bendler [1789-1873]). Im Gebäude des ehemaligen Oberkommandos des Heeres befand sich das Zentrum des militärischen Widerstandes gegen die NS-Diktatur. Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg (1907-1944) und seine Mitverschworenen planten von hier aus ein Bombenattentat auf Hitler im Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei Rastenburg in Ostpreußen. Nach dem Scheitern des Staatsstreichs wurden Stauffenberg und mehrere Offiziere noch am Abend des 20.7.1944 im Bendlerblock verhaftet und auf dem Hof des Gebäudes erschossen. Zur Mahnung und Erinnerung an die NS-Gewaltherrschaft wurde an diesem Ort am 20.7.1952 der Grundstein für die Gedenkstätte des Deutschen Widerstands gelegt; drei Jahre später erhielt die Bendlerstraße den Namen Stauffenbergstraße. Weitere Ministerien, die ihren "zweiten Dienstsitz" in Berlin nehmen, sind: das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technik in der ehemaligen Ständigen Vertretung der Bundesrepublik mit Anbau in der Hannoverschen Straße 30 (Kosten: 18,6 Mill. DM); das Bundesumweltministerium zunächst in gemieteten Büros am Alexanderplatz 6 und später Umzug nach Schiffbauerdamm 15 (Kosten: noch nicht bekannt); das Bundesernährungsministerium zunächst in der Scharrenstraße 2-3 und später Wilhelmstraße 54 (ehemaliger Sitz des preußischen Ministerpräsidenten - Projektkosten: 20 Mill. DM); das Bundesgesundheitsministerium Büros in der Mohrenstraße 62 (Kosten: 10 Mill. DM) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Stresemannstraße 92 (Kosten: 21 Mill. DM). Auch der Bundesrat beschloß am 27.9.1996,
nach Berlin umzuziehen. Sein neuer Standort ist das Gebäude des ehemaligen
Preußischen Herrenhauses, der ersten Kammer des Preußischen
Landtages, in der Leipziger Straße 3-4 (Preußisches
Abgeordnetenhaus/Berliner Abgeordnetenhaus). Es wurde 1899-1904 nach
Plänen von Friedrich Schulze-Kolbitz (1843-1912) errichtet, 1934 als
"Preußenhaus" dem Reichsluftfahrtministerium angegliedert, im II.
Weltkrieg schwer beschädigt, 1947-1952 teilweise wieder aufgebaut und
danach von der Akademie der Wissenschaften der DDR genutzt. Der Umbau nach
Plänen des Architekten Peter P. Schweger (* 1935) kostete rd. 200 Mill.
DM. Der Sitzungsbetrieb wurde Ende September 2000 aufgenommen. Mit 14 000
m² (davon 500 m² der Plenarsaal) steht der Länderkammer doppelt soviel
Fläche zur Verfügung wie in Bonn. Der Ausbau Berlins als Bundeshauptstadt stellt auch erhebliche Anforderungen an alle Bereiche der städtischen Infrastruktur. Zu den wichtigsten H. dieser Kategorie zählen die Vorhaben zur Weiterentwicklung des Verkehrswesens sowie der Ver- und Entsorgungsnetze der Stadt. Beim Ausbau des Straßenverkehrs sind drei "Straßenringe" vorgesehen. Der Ausbau des traditionell leistungsfähigen Berliner Stadtverkehrs ist vor allem auf die bessere Verknüpfung des Verkehrs beider Stadthälften, auf die weitere Modernisierung und größere Umweltverträglichkeit gerichtet. Die Netze von S- und U-Bahn werden erweitert, der Nord- und Südring geschlossen. Das S-Bahn-Streckennetz wird von 282 km (1993) auf ein "Zielnetz" von 327 km erweitert (S-BAHN 1994). Im März 1998 wurde der mit einem Kostenaufwand von 125 Mill. DM umgestaltete Bahnhof Alexanderplatz neueröffnet; im Mai 1998 der Regionalverkehr am Bahnhof Berlin-Alexanderplatz aufgenommen. Bedeutende Umgestaltungen werden auch an anderen Bahnhöfen vorgenommen, darunter die Bahnhöfe Friedrichstraße, Zoologischer Garten und Lichtenberg. Der Ausbau der alten Bahnmetropole Berlin (Eisenbahnen) sieht vor, bis zum Jahr 2002 20 Mrd. Mark in das Schienennetz der Hauptstadt zu investieren. Wichtigstes Vorhaben im Bahnkonzept ist der Bau eines neuen Zentralbahnhofs inmitten eines neuen Stadtteils im Bereich des Lehrter Stadtbahnhofs an der Ost-West-Trasse der S-Bahn, der über einen Nord-Süd-Tunnel mit einem zweiten ähnlich großen Bahnhof an der Papestraße im Süden verbunden wird. Der neue Zentralbahnhof mit seinen geplanten unterschiedlichen Ebenen für Fern-, Regional-, U- und S-Bahn wird mit 1,58 Mrd. DM eines der teuersten H. werden. Es wird damit gerechnet, daß diesen Bahnhof nach seiner Fertigstellung täglich 240 000 Fahrgäste benutzen werden - etwa 90 000 mehr als 1998 zum Beispiel den Bahnhof Zoologischer Garten benutzten. Dazu entstand eine Tunnelbaugrube von 45 m Tiefe, 160 m Breite und mehreren Kilometer Länge. Zwei Jahre lang wurde die Spree um 70 m nach Norden umgeleitet. Die Tunnelbauten werden mit 4,5 Mrd. DM veranschlagt. Eine gewaltige neue Stabbogenbrücke über den Humboldthafen wird die Bahnsteige für Fern- und Regionalzüge sowie für die S-Bahn aufnehmen und das gläserne Bahnhofsdach tragen. Am -Potsdamer Platz entsteht etwa 20 m unter Straßenniveau bis 2005 der neue Regionalbahnhof Potsdamer Platz, in Ergänzung zu den gleichnamigen S-und U-Bahnhöfen. Der neue Bahnhof (Ausmaß 260 mal 50 m, 2 Bahnsteige mit 4 Gleisen), der rund 260 Mill. DM kosten wird, soll die Expreß-Bahnverbindungen Dessau-Stralsund, Wittenberge-Jüterbog und Stralsund-Elsterwerda unter dem Tiergarten über den neuen Lehrter Bahnhof herstellen. Die U-Bahn-Linie 5 soll über den Alexanderplatz hinaus zum neuen Lehrter Bahnhof verlängert werden; die Eröffnung ist für Ende 2004 geplant; Kostenanschlag: 1,288 Mrd. DM bei 295 Mill. DM geplantem Bundesanteil. Beabsichtigt ist auch der Bau einer Linie S 21 als zweiter Nord-Süd-Bahn vom Nordring (Westhafen/ Wedding) über Lehrter Bahnhof, Potsdamer Platz und Gleisdreieck zur Yorckstraße/Kolonnenstraße. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf rund eine Milliarde DM. Mit dieser Bahn erhielten etwa 60 S-Bahnhöfe eine direkte Verbindung zum neuen Zentralbahnhof. Über dieses Konzept sowie andere Vorhaben der Verkehrsplanung (etwa den Bau eines Großflughafens) bestehen Kontroversen. Diese sowie Konkurse beteiligter Firmen und Baupannen (Wassereinbrüche in Baustellen, Geländeabsenkung im Baubereich des Lehrter Stadtbahnhofs) verzögern die Bauvorhaben. Nachdem ursprünglich der Tunnel "um das Jahr 2000" befahrbar sein sollte, wird nun das Jahr 2004 anvisiert, intern jedoch mit noch längeren Zeitspannen gerechnet. Wiederholt wurde bekräftigt, daß der vorgegebene Kostenrahmen für den Berlinumzug von insgesamt 20 Mrd. DM nicht überschritten wird, obwohl mehrere H. teurer ausfallen als geplant. Vor allem der Baugrund im Bereich der Spree (instabiler Boden, hoher Grundwasserstand) war teilweise falsch eingeschätzt worden und erforderte höhere Aufwendungen. Hinzu kamen etliche Fälle von Verschwendung (u.a. luxuriöse Ausgaben für Provisorien der Bundesregierung beim Berlinumzug) sowie permanentes Tauziehen zwischen Berlin und dem Bund bei der Finanzierung von Projekten. So hatte eine Senats-Studie ergeben, daß bei Projekten im Wert von 2,5 Mrd. DM (darunter die Sanierung von S-Bahn und Olympiastadion und der Bau von Straßen und Grünanlagen) offen sei, ob und wie sich Bund und Berlin an der Finanzierung beteiligen. Allen Querelen zum Trotz: Planung und Vollzug des Bundestagsbeschlusses vom 20.6.1991 dürfte als eine bedeutende "Leistungsschau des bundesrepublikanischen politischen Systems" (WELCH GUERRA, M. 1999/161) in die Geschichte eingehen. "Die Hauptstadtplanung hat die Bundesrepublik über die erfolgten Maßnahmen in Raumordnung, Städtebau und Architektur hinaus verändert. Viel spricht dafür, daß auch nach dem Abklingen der Hauptstadtplanung die Erfahrungen weiterwirken werden, die verschiedene Institutionen und Gruppen gesammelt haben. So hat die lokale Politik in Bonn und in Berlin gelernt, eine differenzierte Öffentlichkeitsarbeit und auf bestimmte Zielgruppen gerichtete Techniken zur Ermittlung von Konsens besser einzusetzen. Dies dürfte bei den kommenden Verteilungskämpfen und Implementationsmühen in der Konkurrenz der Städte und bei der Durchsetzung von Großprojekten gegenüber der eigenen Bevölkerung auch in Zukunft von Bedeutung bleiben. Fraglich ist, ob die lokale Politik in den kleineren betroffenen Kommunen ... ihre unbefriedigenden Erfahrungen angemessen verarbeitet hat. Dabei spricht viel dafür, daß bei der weiteren Europäisierung nationaler und lokaler Politik ähnliche Verteilungsmechanismen für strukturpolitische Ressourcen auftreten werden. Hingegen ist bei vielen anderen Ergebnissen der Hauptstadtplanung offen, inwieweit sie Bestand haben werden", resümiert der Wissenschaftler Max Welch Guerra (geb. 1956). (WELCH GUERRA, M. 1999/169)
Quellen und weiterführende Literatur: (c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004 |