HAUPTSTADTENTSCHEIDUNG
DES BUNDESTAGES (1991)

Am 20.6.1991 Umzug beschloß eine Mehrheit des Deutschen Bundestages die Verlagerung des Parlaments- und Regierungssitzes mit dem Kernbereich der Regierungsfunktionen von Bonn nach Berlin. Der Beschluß sah ferner vor, daß

der Bundestag innerhalb von vier Jahren in Berlin arbeitsfähig sein und
spätestens in zehn Jahren seine volle Arbeitsfähigkeit erreicht haben soll,
Bonn als Verwaltungszentrum erhalten bleibt,
neben Parlament und Bundesregierung auch der Bundespräsident nach Berlin umziehen,
der Bundesrat jedoch seinen Sitz in Bonn behalten werde.

Von den anwesenden 660 Abgeordneten Abstimmung stimmten 338 nach einer ganztägigen Debatte für den Antrag zur "Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin-Antrag") bei 320 Gegenstimmen, einer Enthaltung und einer ungültigen Stimme.

Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz im Deutschen Bundestag am 20.6.1991

Mitglieder des Bundestages Abstimmung für
Bonn Berlin in % für Berlin
Abgeordnete der CDU 124 146 54,1
Abgeordnete des CSU 40 8 16,7
Abgeordnete der SPD 126 110 46,6
Abgeordnete der FDP 26 53 67,1
Abgeordnete der PDS/Linke Liste 1 17 94,5
Abgeordnete des Bündnis 90/GRÜNE 2 4 66,7
Abgeordnete fraktionslos 1 - -
von 658 Abgeordneten¹ 320 338 51,4
davon aus den alten Bundesländern 291 214 42,4
davon aus den neuen Bundesländern mit Berlin 29 124 81,1
darunter Bundeskanzler und Bundesminister 5 13 72,2
¹Anwesend 660 Abgeordnete, die ihre Stimme abgaben, darunter eine ungültige Stimme und eine Enthaltung

Quelle: Lehmann, Hans Georg: Deutschland-Chronik 1945 bis 1995, Bonn 1995, S. 467

Der letzte deutsch-deutsche Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8.1990 hatte die Entscheidung noch offengelassen. Zwar schrieb der erste Satz des Artikels 2 jenes Vertrages die Hauptstadtfunktion Berlins fest ("Die Hauptstadt Deutschlands ist Berlin"), jedoch der folgende Satz erlaubte noch Kompromisse ("Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden"). Bis zum 20.6.1991 war die Entscheidung über den künftigen Sitz von Parlament und Regierung völlig offen. Noch am Vorabend hatte sich der Bundeskanzler "in letzter Minute" um einen Kompromiß bemüht, wonach die Entscheidung über den Parlaments- und Regierungssitz um "einige Jahre" verschoben werden sollte ("Zeitschienen-Antrag"). Die PDS hatte ihren Antrag, wonach Parlament und Regierung umgehend nach Berlin ziehen sollten, sogar erst kurz vor der Abstimmung zurückgezogen. Bei der entscheidenden Abstimmung hatten Bundeskanzler Kohl ebenso wie Außenminister Genscher, Altkanzler Brandt, SPD-Fraktionschef Vogel, Justizminister Schäuble und andere prominente Politiker für Berlin votiert.

Die Befürworter des Berlinumzugs stützen sich vor allem auf die Argumente der Geschichte und der Glaubwürdigkeit. Berlin ist als traditionelle Hauptstadt Deutschlands Sinnbild deutscher Geschichte schlechthin. Zudem ist es einzige Stadt, die Deutsches aus Ost und West in sich vereint. Keine andere Stadt könnte mit ihrer Geschichte glaubwürdiger die Aufgabe des gemeinsamen Neubeginns zur Herstellung der Einheit Deutschlands erfüllen. "Nun fordern wir das eine zurück, das uns gehört. Das 40 Jahre lang im Westen versprochen wurde. Das einst der Bundestag beschlossen hat. Woran die Menschen im Osten geglaubt haben. Und jetzt will der Treuhänder Bonn nicht zurückgeben, was ihm nicht gehört." (BERLINER ZEITUNG, 20.6.1991) Hinzu kommt, daß Berlin seine traditionelle Rolle bei der Öffnung deutscher Politik gegenüber Osteuropa, als "Brücke zum Osten", mehr denn je nach dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" in Osteuropa und dem Ende der Spaltung Europas auf dem Weg der Neuorientierung und der Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit spielen kann. Den Ausschlag in der Debatte hätten vor allem die Argumente von Wolfgang Thierse und Wolfgang Schäuble gegeben, würdigte später Eberhard Diepgen (DIEPGEN 1995/44).

Die Gegner des Umzugs von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree führen demgegenüber die menschlichen und finanziellen Konsequenzen ins Feld. Sie fordern, einen möglichst großen Teil der etwa 21 000 Arbeitsplätze bei den Bundesministerien in Bonn zu belassen. So wurde erreicht, daß die Bundesministerien nur teilweise nach Berlin verlagert werden: Neben Bundeskanzleramt und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sollen von den 18 Ressorts, die vor den Bundestagswahlen vom 16.10.1994 bestanden (danach nur noch 16), zehn ihren Sitz in Berlin nehmen und zugleich in Bonn zweite Dienstsitze belassen; die übrigen acht Bundesministerien sollen in Bonn verbleiben und in Berlin lediglich zweite Dienstsitze einrichten. Für Bonn sei ein Ausgleich für den Verlust des Parlamentssitzes und der Regierungsfunktionen sowie finanzieller Sonderbelastungen zu schaffen. Im Oktober 1993 waren die Umzugskosten inoffiziell ab 1995 auf rund 25 Mrd. DM veranschlagt worden, allerdings ohne die Kosten der Verkehrsplanungen in Berlin und der Ausgleichsmaßnahmen für Bonn. Im Januar 1994 war offiziell von einem Finanzvolumen von 20 Mrd. DM, verteilt auf einen Zeitraum von 10 Jahren, die Rede. Zur Verwirklichung der Hauptstadtentscheidung des deutschen Bundestages von 20.6.1991 wurden etliche Maßnahmen auf den Weg gebracht, darunter der Abschluß des Hauptstadtvertrages vom 25.8. 1992Hauptstadtvertrages vom 25.8. 1992.
Jedoch angesichts des Widerstandes aus der Bonner Region und der großen Finanzierungsprobleme werden die Umzugspläne nur mit Verzögerungen realisiert.

Quellen und weiterführende Literatur: Literaturquellen
Berliner Morgenpost v. 20. u. 21. Juni 1991; Berliner Zeitung v. 20. u. 21. Juni 1991; Brunn/Reulecke 1992/1-7; Bundeszentrale für politische Bildung 1993/27-36; Eickelpasch 1993/1421-1423; Kühne 1993/232-235; Berlin kurzgefaßt 1995/56-63; Diepgen 1995/43-53; Hauptstadt 1995/3-17; König 1995/123-144; Lehmann 1995/466-467; Welch Guerra 1999/15-23

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