28   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Nächstes Blatt
Herbert Schwenk
Vom Rhein an die Spree

Der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin

»Wir freuen uns, Herr Regierender Bürgermeister, hier sein zu können. Und wir wollen uns ordentlich verhalten.«1) Mit diesen an den damaligen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen gewandten Worten bezog Bundeskanzler Gerhard Schröder am Nachmittag des 23. August 1999 seinen Sitz in Berlin im neuen Übergangsquartier am Schlossplatz 1 - in der historischen Mitte der Stadt, auf dem Boden der einstigen, schon 1747 abgebrochenen Dominikanerkirche, im 1964 eingeweihten DDR-Staatsratsgebäude mit dem Eosanderportal des einstigen Berliner Schlosses. Das war knapp neun Jahre nach der Wiedervereinigung Berlins am 3. Oktober 1990 und etwas mehr als acht Jahre nach dem historischen Hauptstadtbeschluss des Deutschen Bundestags vom 20. Juni 1991.
     Die ursprünglichen Vorstellungen von einem raschen Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin erwiesen sich als illusionär. Viel Zeit sollte noch vergehen, bis Deutschland seit dem 1. September 1999 wieder offiziell

von Berlin aus regiert wird - nun bereits zum fünften Mal in der preußischen und deutschen Geschichte. Damit ist nach der Weimarer und Bonner Republik die so genannte Berliner Republik Realität geworden. Nach 42 Jahren war jene Situation eingetreten, die der Parlamentarische Rat am 10. Mai 1949 als Bedingung für eine erneute Bestimmung Berlins zur deutschen Hauptsstadt vorgegeben hatte: »Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie, gleiche und direkte Wahlen in ganz Berlin und der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind. Der Bundestag versammelt sich alsdann in Berlin.«2) Vierzig Jahre mussten vergehen, bis der Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991 die denkwürdige Entscheidung für die Verlagerung des Parlaments- und Regierungssitzes mit dem Kernbereich der Regierungsfunktionen nach Berlin fällen konnte.

Irrungen und Wirrungen bis zum Umzug

»Zehn leidvolle und leidenschaftliche Jahre folgten dem Umzugsbeschluss«, titelte die »Berliner Morgenpost« am 21. Juni 2001 ihre Zehn-Jahres-Rückschau auf den Berlin-Beschluss des Deutschen Bundestags. So gespalten wie das Abstimmungsverhalten beim Umzugsbeschluss verliefen auch die Jahre danach. Immer wieder gab es neue Vorbehalte und Widerstände gegen den Umzug.

BlattanfangNächstes Blatt

   29   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
So plädierte im Juni 1993 die CSU-Landesgruppe in Bonn für eine Verschiebung des Umzugs aus Kostengründen und der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) forderte sogar einen Baubeginn frühestens im Jahr 2001. Es zeigte sich bald, dass weder die ursprünglichen Zeitvorgaben für den Umzug nach Berlin noch die Einhaltung der ursprünglich von Bundestag und Bundesregierung gesetzten Prämisse »kein Umzug in Provisorien« realisierbar waren. Ein Blick auf die Geschichte des Berlin-Fahrplans zeigt die Irrungen und Wirrungen.
     Nachdem sich die Bundesregierung Ende 1991 für das so genannte Kombinationsmodell, d. h. eine »vertikale« Aufteilung der Ministerien, entschieden hatte, billigte das Bundeskabinett am 3. Juni 1992 den Vorschlag, zehn der damals 18 Ministerien, das Kanzleramt und das Bundespresseamt nach Berlin zu verlegen. Die Ministerien, die nach Berlin ziehen (außer dem Ressort Familie-Senioren), behalten einen »zweiten Dienstsitz« in Bonn. Dagegen erhalten die in Bonn verbleibenden Ministerien einen »zweiten Dienstsitz« in Berlin. Insgesamt sollten 36 Bundesinstitutionen ihren Sitz wechseln, davon 14 in die neuen Bundesländer. Am 26. Juni 1992 setzte der Bundestag als Zeit des Berlin-Umzugs 1998-2002 fest; das Bundeskabinett korrigierte am 12. Oktober 1993 den Umzug »bis zum Jahre 2000«. Und das erste Konzept des Bundeskabinetts vom Dezember 1992 für die Unterbringung der Ministerien in Berlin sah noch einen großflächigen Abriss und Neubau von Gebäuden vor.
Nach jenen Planungen der damaligen Bundesbauministerin Irmgard Schwätzer von Ende 1992 sollten historische Gebäude wie das der ehemaligen Reichsbank bzw. des ZK der SED, des ehemaligen Luftfahrtministeriums und des Staatsrats der DDR abgeräumt werden. Der »Hauptstadtvertrag« zwischen der Bundesregierung und dem Land Berlin sowie Brandenburg vom 25. August 1992 teilte die Kompetenzen von Bund und Senat bzw. brandenburgischer Landesregierung beim Ausbau Berlins als Sitz von Bundestag und Bundesregierung auf. Auf der Grundlage des Hauptstadtvertrages wurde ein Gemeinsamer Ausschuss unter Leitung des Bundesbauministers und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin geschaffen, der maßgeblich die Standortfragen des Berlin-Umzuges vorbereiten sollte.
     Das »Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestags vom 20. 6. 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin/Bonn-Gesetz)«, das der Bundestag am 10. März 1994 verabschiedete, setzte den Umzug nach Berlin definitiv in Gang und legte Einzelheiten rechtskräftig fest. Das Gesetz änderte die Aufteilung der Ministerien zwischen Berlin und Bonn: Nun sollten acht von den inzwischen 14 Ministerien ihren »ersten Dienstsitz« in Berlin nehmen, die übrigen sechs in Bonn verbleiben und einen »zweiten Dienstsitz« in Berlin erhalten. Zugleich wurde beschlossen, einen Ausgleich für die Bonner Region zu schaffen, um die mit dem Umzug verbundenen Nachteile aufzufangen.
BlattanfangNächstes Blatt

   30   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Dienstrechtliche Begleitgesetz, das den Umzug von insgesamt 20 000 bis 27 000 Beschäftigten nebst Familien regelt und dem der Bundesrat am 5. Juli 1996 zustimmte, sollte das Umzugsvorhaben »sozialverträglich« gestalten.

Umzugskosten: 20 Milliarden Mark

Brisantestes Problem in Verwirklichung der Hauptstadtentscheidung des Deutschen Bundestags vom 20. Juni 1991 waren stets die Umzugskosten. Ursprünglich sollte der Umzug die gigantische Summe von »bis zu 130 Mrd. M« kosten - so jedenfalls hatten es Umzugsgegner vor zehn Jahren zur Abschreckung errechnet. Nach einer mehr als zweijährigen Debatte, in der stark voneinander abweichende Umzugskosten zwischen 7 und 30 Mrd. Mark errechnet wurden, hatte das Bundeskabinett am 14. Januar 1994 ein vom Bundesministerium der Finanzen vorgelegtes Kostenkonzept gebilligt. Danach sollen die Umzugskosten in einem Zeitraum von zehn Jahren (nach dem Preisstand von 1993) auf 20 Mrd. DM begrenzt werden. Nach dem von der damaligen Bundesbauministerin Irmgard Schwätzer und dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen unterzeichneten Finanzvertrag erhält Berlin in den Jahren 1995 bis 2004 zusätzlich einen Kostenausgleich von 1,3 Mrd. DM vom Bund zum Ausbau der Hauptstadtstrukturen, davon eine Milliarde für

hauptstadtbezogene Investitionsvorhaben im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, darunter 295 Mill. DM für eine umstrittene Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 (»Kanzler-Bahn«) vom Alexanderplatz zu dem im Bau befindlichen neuen Zentralbahnhof am Lehrter S-Bahnhof. Das Prestigeprojekt »Kanzler-Bahn« wurde erst im Ergebnis der Ablösung des von Diepgen geführten CDU-SPD-Senats im Juni 2001 gestoppt.
     In den Finanzvereinbarungen nahm auch die Gestaltung der Zukunft der Bonner Region einen breiten Raum ein, für die 1986 immerhin ein »hauptstadtinduzierter Beschäftigungseffekt« von 45 000 Arbeitsplätzen errechnet worden war.3) Nach einer parallel abgeschlossenen Vereinbarung mit dem Bund zur Finanzierung von Ausgleichsmaßnahmen für den Verlust des Parlamentssitzes und der Regierungsfunktionen sowie finanzieller Sonderbelastungen im Zeitraum bis 2004 soll die Bonner Region eine Summe von 2,8 Mrd. DM, darunter zur Schaffung von etwa 7 300 neuen Arbeitsplätzen, erhalten.
     In den folgenden fünf Jahren wurde das Thema Kosten des Berlin-Umzugs zu einem Dauerthema der deutschen Innenpolitik. Unter dem permanenten Einsparungsdruck korrigierte die Bundesregierung ihr ursprüngliches Abriss- und Unterbringungskonzept zu Gunsten einer verstärkten Nutzung von Altbauten bei Verringerung des Raumanspruchs.
BlattanfangNächstes Blatt

   31   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
So wurden schließlich 80 Prozent der nach Berlin umgesiedelten Politikstellen in insgesamt 18 denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht. Die Kosten für die Unterbringung der Ministerien in Berlin (Renovierungs- und Baukosten) sollten auf 2,976 Mrd. DM gedrückt werden. Die Gesamtsumme von 20 Mrd. DM für den Berlin-Umzug sollte unbedingt eingehalten werden.

Die neuen Standorte an der Spree

Als erstes Verfassungsorgan verlegte der damalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker am 11. Januar 1994 seinen Sitz in das 1785/86 nach Plänen von M. P. Boumann erbaute und für 20 Mill. DM renovierte Schloss Bellevue. Im Schlosspark entstand ein markanter viergeschossiger Neubau in elliptischer Form (Architekten: Martin Gruber und Helmut Kleine-Kraneburg) für die 150 Beamten des Bundespräsidialamtes, der 91 Mill. DM kostete und am 23. November 1998 durch den Bundespräsidenten Roman Herzog eingeweiht wurde.
     Weitaus mehr Probleme bereitete die Unterbringung von Parlament und Regierung in Berlin. Im Wesentlichen wurden dafür drei Stadtgebiete vorgesehen: Erstens der Spreebogen am nördlichen Rand des Tiergartens mit dem Reichstagsgebäude als Kern des künftigen Parlaments- und Regierungsviertels, zweitens die Spreeinsel

mit dem ehemaligen Schlossbereich und ehemaligen DDR-Regierungsbauten (Staatsratsgebäude, ZK-Gebäude) und drittens das Umfeld des ehemaligen Regierungsviertels an der Wilhelmstraße und Leipziger Straße. Hinzu kommen einzelne Standorte am südlichen Rand des ehemaligen Diplomatenviertels an der Stauffenbergstraße und nördlich des Spreebogens an der Invalidenstraße. Für einige dieser Stadtquartiere wurden in der ersten Hälfte der 90er Jahre im Ergebnis städtebaulicher Wettbewerbe neue Konzepte entwickelt und mit den sich wandelnden Umzugsplänen koordiniert.
     Hauptstandort des neuen Parlaments- und Regierungsviertels wurde der Spreebogen mit dem Reichstagsgebäude. Der alte monumentale Parlamentsbau auf dem Platz der Republik (1864-1926 und 1933-1948 Königsplatz) war 1884-1894 nach Plänen von Paul Wallot unter der Ägide dreier deutscher Kaiser entstanden und im Zweiten Weltkrieg, zuletzt als »Festung« fungierend, schwer beschädigt worden. Nachdem es schon von Oktober bis Dezember 1990 Tagungsstätte eines vorläufigen gesamtdeutschen Parlaments war, konstituierte sich darin am 20. Dezember 1990 der erste gesamtdeutsche Bundestag nach der Wiedervereinigung. Durch eine Entscheidung des Ältestenrates des Bundestags vom 30. Oktober 1991 wurde das Reichstagsgebäude dazu bestimmt, auf Dauer den Deutschen Bundestag zu beherbergen.
BlattanfangNächstes Blatt

   32   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Gebäude wurde nach entsprechenden Wettbewerbsvorschlägen unter Leitung von Lord Norman Foster seit April 1996 mit Kosten in Höhe von 600 Mill. DM um- und ausgebaut. Bei der Neugestaltung wurden die originalen äußeren Formen des Wallot-Baus erhalten bzw. wieder hergestellt und die Innenausbauten der sechziger Jahre mit ihren entfremdeten Verschachtelungen rückgebaut. Der verglaste Plenarsaal wurde wieder zentral angelegt und das Gebäude mit modernster Technik ausgestattet. Die neue Kuppelkonstruktion, die über eine spiralförmige Rampe zu einer Aussichtsplattform in 50 m Höhe führt, soll die Transparenz der parlamentarischen Arbeit symbolisieren. »Bei der Renovierung des geschundenen Reichstages zum größten High-Tech-Stadion des abendländischen Parlamentarismus kam zu guter Letzt doch noch die großartige Ursprungsform zum Vorschein«4), meint Architekturhistoriker M. Mönninger.
     Unbeschadet etlicher Baumängel und eines Honorarstreits zwischen Lord Foster (Gesamthonorar: 41 Mill. DM) und der Bundesbaugesellschaft Berlin (BBB), konnte am 6. September 1999 die erste Sitzungswoche des Bundestags im Reichstagsgebäude beginnen.
     Die Gestaltung des neuen Parlaments- und Regierungsviertels im Spreebogen erfolgte nach einem städtebaulichen Konzept der Berliner Architekten Axel Schultes und
Charlotte Frank, für das sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl Ende Juni 1995 entschieden hatte.
     Grundidee ist ein West und Ost symbolisch verknüpfender gigantischer Gebäudezug, das 102 m breite und fast 1,5 km lange »Band des Bundes«. Es erstreckt sich durch den Spreebogen von den Neubauten des Deutschen Bundestags im Umfeld des Reichstagsgebäudes westwärts zum neuen Bundeskanzleramt bis zum Kanzlergarten jenseits der Spree. Das Ostende des Bandes bilden zwei durch die Spree getrennte und eine Doppelstockbrücke verbundene neue Parlamentsbauten, die der Münchner Architekt Stephan Braunfels entwarf: Das östlich der Spree liegende Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (ursprünglicher Name »Luisenblock«) mit der großen Bundestagsbibliothek und das auf der westlichen Spreeseite liegende Paul-Löbe-Haus (zunächst als »Alsenblock« bezeichnet), das trotz seiner riesigen Ausmaße von 102 m Breite und 200 m Länge mit rund 1 000 Büroräumen als architektonisch besonders gelungen gilt. Dritter großer Parlamentsneubau ist das gegenüber dem Lüders-Haus und bereits außerhalb des Bandes liegende Jakob-Kaiser-Haus (anfangs »Dorotheenblöcke« genannt). Am Westende des Bandes entstand zu dem ein markanter neuer Wohnkomplex mit der 500 m langen gewundenen »Moabiter Wohnschlange« (Architekt: Georg Bumiller) mit rd. 700 Wohnungen für Bundesbedienstete und Abgeordnete.
BlattanfangNächstes Blatt

   33   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt

Preisgekrönter Entwurf für das Parlamentsviertel im Spreebogen, aus: Ergebnisse des Internationalen Wettbewerbs, hrsg. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, 1993
Einziger kompletter Neubau für ein Mitglied der Bundesregierung ist das Kanzleramt mit seinem 36 m hohen achtstöckigen Kubus (»Kanzlerwürfel«) als Leitungsgebäude und seinen zwei, von 13 transparenten Wintergärten unterteilten 18 m hohen Büroflügeln mit 370 Büros (zum Vergleich: Weißes Haus 132 Zimmer, Elysée-Palast 365 Zimmer) für die 510 Mitarbeiter. Die gesamte Anlage ist mit hochmoderner Technik ausgestattet. Aus den ursprünglich geplanten Kosten für den Neubau des Kanzleramts in Höhe von 250 Mill. DM und dann »bis zu 400 Mill. DM« wurden schließlich 465 Mill. DM. Die Übergabe war für den 23. Dezember 1999 vorgesehen - aber erst am 2. Mai 2001 - vier Jahre und drei Monate nach dem ersten Spatenstich am 4. Februar 1997 durch Helmut Kohl - konnte Bundeskanzler Schröder die Schlüssel für sein neues Amtsgebäude in Empfang nehmen, begleitet von Staunen und Kritik gleichermaßen bezüglich der Größe (mit 12 000 m² größter Regierungssitz der Welt, achtmal mehr als das Weiße Haus in Washington), Kosten und futuristischer Architektur des Bauwerks. Beim Umzug waren 3,7 km Akten, etwa 500 Regalmeter Bücher sowie diverse Bilder, Büro-Materialien und Pflanzen ins neue Kanzleramt zu transportieren.
BlattanfangNächstes Blatt

   34   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
     Im Unterschied zum Bundeskanzleramt fanden die acht Ministerien, die mit ihrem ersten Dienstsitz nach Berlin zogen, nach der Devise »Den Geist eines Gebäudes bestimmen seine Nutzer« vorwiegend in sanierten und teilweise erweiterten Altbauten ihre neuen Berliner Standorte. Das Auswärtige Amt bezog das sanierte Gebäude des ehemaligen ZK der SED am Werderschen Markt, ergänzt durch einen Neubau (Kosten: 545 Mill. DM). Dagegen mietete der Bund für das Innenministerium mit einer Laufzeit von 30 Jahren einen modernen, seit 1992 bestehenden Gebäudekomplex in Alt-Moabit an der Spree an und zahlt dafür monatliche Mietkosten von 1,1 Mill. Gleich mehrere Altbauten am Hausvogteiplatz bezog das Justizministerium (Kosten: 230 Mill. DM). Das Finanzministerium nahm seinen Standort im 1935/36 erbauten und mit 350 Mill. DM sanierten ehemaligen Reichsluftfahrtministerium bzw. Haus der Ministerin der DDR (1949 bis 1989). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezog als Zwischenquartiere mit einem Aufwand von 10 Mill. DM sanierte Altbauten in der Glinka- und Jägerstraße. Danach erfolgt der Umzug in die Taubenstraße (Umbaukosten: 115 Mill. DM). Zwischenquartier musste zunächst auch das 1998 zusammengelegte Bundesministerium für Bauwesen und Verkehr in der Krausenstraße beziehen, um danach in das sanierte, 1875-1878 errichtete Gebäude der ehemaligen Geologischen Landesanstalt und Bergakademie in der Invalidenstraße überzusiedeln (Kosten: 292 Mill. DM). Im Jahr 2003 soll das Ministerium einen Neubau am nahe gelegenen Schwarzen Weg erhalten. Auch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bezog einen Komplex älterer Gebäude an der Wilhelmstraße/Mauerstraße sowie das benachbarte »Kleisthaus«, wobei die Herrichtungskosten auf 85 Mill. DM reduziert werden sollten. Etwas weiter entfernt liegt der neue Standort des Wirtschaftsministeriums mit seinen 1 466 Mitarbeitern, ein Altbau-Gebäudekomplex nebst Neubau an der Scharnhorststraße/ Invalidenstraße (Gesamtkosten: 550 Mill. DM).
     Hinzu kommen die Gebäude für jene sechs Ministerien, die mit ihrem Erstsitz in Bonn verblieben sind und in Berlin »zweite Dienstsitze« nahmen. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technik zog in die ehemalige Ständige Vertretung der Bundesrepublik mit Anbau in der Hannoverschen Straße (Kosten: 24 Mill. DM). Das Bundesumweltministerium mietete zunächst Büros am Alexanderplatz an und soll 2005 einen Neubau am Leipziger Platz neben dem Bundesrat beziehen (Kosten: noch unbekannt). Auch das heutige Verbraucherschutzministerium musste zunächst in ein Zwischenquartier in die Scharrenstraße gehen, um danach einen sanierten Altbau in der Wilhelmstraße zu beziehen (Kosten: 24 Mill. DM).
BlattanfangNächstes Blatt

   35   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Gesundheitsministerium nahm seinen Zweitsitz in sanierten Büros des ehemaligen DDR-Kombinats Robotron in der Mohrenstraße (Kosten: 12 Mill. DM) und schließlich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem sanierten Gebäude in der Stresemannstraße (Kosten: 26 Mill. DM). Für das Bundesministerium der Verteidigung wurden Bauteile des Bendlerblocks am Reichpietschufer hergerichtet (Kosten: 116 Mill. DM). Hinzu kommt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, das ein saniertes und erweitertes Gebäudeensemble zwischen der Dorotheenstraße und dem Reichstagufer bezog (Kosten: 218 Mill. DM). Insgesamt nahmen am 1. September 1999 mehr als 5 500 Regierungsmitarbeiter ihre Arbeit auf, bis Ende 1999 kamen weitere 2 800 hinzu.
     Schwer tat sich auch der Bundesrat mit seinem Umzug nach Berlin. Noch am 5. Juli 1991 hatte er beschlossen, vorerst in Bonn zu bleiben. Am 27. September 1996 korrigierte er diese Entscheidung zu Gunsten eines Umzugs nach Berlin.
     Neuer Standort wurde das 1899-1904 errichtete, im Zweiten Weltkrieg erheblich beschädigte und für rd. 200 Mill. DM sanierte Gebäude des ehemaligen Preußischen Herrenhauses in der Leipziger Straße. Ende September 2000 konnte die Länderkammer darin ihren Sitzungsbetrieb aufnehmen.
Mit 14 000 m² steht der Länderkammer nun doppelt soviel Fläche wie in Bonn zur Verfügung.

Das größte Umzugsunternehmen

Der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin gilt als größtes Umzugsunternehmen in der deutschen Geschichte. Ab 1. Juli 1999 rollte offiziell der Umzug der Bundestags gen Osten. Allein für den Umzug des Bundestags mit seinen 2 370 Mitarbeitern waren 50 000 m³ Umzugsgut auf 24 Bahnzüge mit je 16 Doppel-Tragewagen für etwa 40 Container zu verteilen, darunter 120 000 Möbelstücke, 38 000 laufende Meter Akten, 46 000 Bücherkartons, 1 300 Computer, 3 400 Kunstgegenstände. Pro Tag waren bis zu 200 Packer bei der Arbeit. Bis zum 5. Juli 1999 waren in Bonn bereits knapp 4 000 Räume in 81 Liegenschaften des Bundestags leer geräumt worden. Immerhin beschäftigt der Bundestag 23 Ständige Ausschüsse, elf Unterausschüsse, fünf Enquetekommissionen sowie Vermittlungs- und Untersuchungsausschuss. Allein während der 1998 abgelaufenen Legislaturperiode hatte der Bundestag 11 472 Drucksachen mit einer Auflagenhöhe von jeweils 4 000 Exemplaren auf den Weg gebracht, das sind - rechnet man für jede Drucksache mindestens eine Papierseite - stolze 46 Mill. Seiten ...

BlattanfangNächstes Blatt

   36   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
     Während sich der Umzug der Ministerien entsprechend der Herrichtung ihrer Berliner Domizile in eigener Regie vollzog (das Innenministerium zum Beispiel begann als erstes seinen Umzug mit 200 von 900 Mitarbeitern schon im Herbst 1998), gestalteten sich die Umzüge von Bundestag und Bundeskanzler mit 250 Mitarbeitern im Sommer 1999 zum Medienereignis. Schon am 19. April 1999 hatte die erste feierliche Bundestagssitzung im erneuerten Reichstagsgebäude stattgefunden. Es folgte am 23. Mai 1999 die Neuwahl des Bundespräsidenten Johannes Rau, bevor Anfang September 1999 der Deutsche Bundestag seine volle parlamentarische Arbeit in Berlin aufnahm. Mit dem Einzug des Deutschen Bundestags in das umgebaute historische Wallot-Gebäude ging zugleich die 50-jährige Bonner Ära des Bundestags zu Ende, wo vom 7. September 1949 (Konstituierung des ersten Deutschen Bundestags) bis zum 1. Juli 1999 (letzte Bundestagssitzung) insgesamt 8 071 voll stimmberechtigte Bundestagsabgeordnete in 2 785 Plenarsitzungen 8 575 Gesetzentwürfe behandelt und 5 489 Gesetze verabschiedet hatten. Mit teilweise erheblichem Terminverzug begann im Juli 2001 die zweite große Politiker-Umzugswelle, nun allerdings innerhalb der Stadt: mit dem Bezug des Paul-Löbe-Hauses am 23. Juli als erstem der neuen Parlamentsblöcke mit Büros für Fraktionen, Ausschüsse und die Abgeordneten des Bundestags, für die Gesamtkosten in Höhe von 1,928 Mrd. DM veranschlagt waren, die jedoch um mindestens 250 Mill. DM überzogen werden. Und natürlich erhielten die Mitarbeiter des Bundestags auch in Berlin eine eigene Betriebskinder-Tagesstätte mit 176 Plätzen, von denen Mitte des Jahres 2001 erst 70 in Anspruch genommen wurden ...
     Der Umzug an die Spree reduziert sich natürlich nicht auf Bundestag, Bundespräsident, Bundeskanzleramt und Ministerien. Hinzu kommen die Vertretungen aller Bundesländer in Berlin, darunter etliche Standorte auf dem Areal der ehemaligen »Ministergärten«, das günstig zwischen dem Bundesrat an der Leipziger Straße und dem Reichstagsgebäude liegt. Als elftes bzw. zwölftes Bundesland weihten Ende Juni 2001 Niedersachsen und Schleswig-Holstein ihre Vertretungen ein, als letztes wird Nordrhein-Westfalen voraussichtlich im Frühjahr 2002 folgen. Kurioser Weise wird selbst das Land Berlin eine eigene Vertretung in Berlin haben.
     Dem Parlaments- und Regierungsumzug folgten selbstredend auch ausländische diplomatische Vertretungen an die Spree - im Mai 2001 arbeiteten bereits 111 Botschaften in Berlin, an 127 Länder waren Grundstücke vermittelt worden, mehr als 20 haben ihren Standtort im alten Diplomatenviertel am Tiergartenrand, 39 Staaten hatten ihre Vertretungen noch in Bonn. Die »schönste Botschaft Israels in der Welt« (Architektin: Orit Willenberg-Giladi) zum Beispiel wurde am 9. Mai 2001 im Grunewald in Anwesenheit von Außenminister Shimon Peres eingeweiht.
BlattanfangNächstes Blatt

   37   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattNächstes Blatt
Und natürlich kamen im Sog des Hauptstadtumzugs auch die Zentralen der Wirtschaft und zahlreiche Lobbyisten aller Couleurs nach Berlin. Rund 40 Verbände und Spitzenorganisationen siedelten bzw. werden sich in Berlin ansiedeln. An der Breiten Straße errichteten die Wirtschaftsverbände BDI, BDA und DIHT ihr neues »Haus der Wirtschaft« in Berlin (4 500 m² groß, 200 Mill. DM teuer). In der Summe sei im Ergebnis des Berlin-Umzugs von rd. 15 000 Personen aus Politik und Wirtschaft, so die Bankgesellschaft Berlin, eine Kaufkraft von jährlich 1,5 Mrd. DM nach Berlin geflossen, was bis zu 21 000 neue Arbeitsplätze schaffen könnte ...
     Noch ist die bisherige Umzugsplanung nicht vollständig realisiert, da denken auch die in Bonn Verbliebenen über einen »Totalumzug« nach Berlin nach, beispielsweise Bundesbauminister Kurt Bodewig (SPD). Rund 13 000 Beschäftigte des Bundestags, Bundesrats, Bundespräsidialamts und der Regierung (auf sie entfallen allein 8 400) nahmen bereits ihren Hauptwohnsitz in Berlin, die Zahl der Pendler zwischen Bonn und Berlin hat sich von mehr als 2 000 (1999) auf 900 verringert. In den Dienststellen in Bonn verblieben rd. 11 700 Beschäftigte. Aus Bonn-Befürwortern und Skeptikern von 1991 wurden Freunde Berlins, zum Beispiel der CDU-Politiker Friedbert Pflüger: »Ich räume ein, dass ich mit dem heutigen Wissen anders votiert hätte.«5)
     Manche Hauptstadtprojekte harren noch ihrer Vollendung.
Das Paul-Löbe-Haus, das am 23. Juli 2001 für 170 Abgeordnete bezugsfertig war und am 3. September an den Bundestag übergeben wird, sollte bereits Ende 1999 fertig sein. Noch größer sind die Terminverzüge beim Jakob-Kaiser-Haus, das nun erst ab 23. Oktober 2001 bezogen werden kann, und beim Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das u. a. die riesige Parlamentsbibliothek aufnehmen wird, sogar erst ab Ende 2002. Die für den Berlin-Umzug und Bonn-Ausgleich veranschlagte Summe von 20 Mrd. DM soll dennoch eingehalten werden. Bis Anfang 2001 waren rd. 11 Mrd. DM ausgegeben worden, bis 2004 sollen noch 8,2 Mrd. DM und der Rest bis 2006 folgen.
     Es gab auf dem Weg vom Rhein an die Spree viele Pleiten und Pannen, die nicht nur mit dem traditionell instabilen Baugrund im Spreebereich zusammenhängen, zuletzt insbesondere auf der Baustelle des Jakob-Kaiser-Hauses, die sich in einer Kostenerhöhung um 65 auf 965 Mill. DM niederschlagen. Es gab auch reichlich Verschwendung, etwa luxuriöse Ausgaben selbst für Provisorien der Bundesregierung beim Berlin-Umzug. Die Grenze zwischen Verschwendung und Großzügigkeit bei den Umzugspraktiken ist halt fließend; immerhin hatte ja die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) am 24. Februar 1997 anlässlich des ersten Spatenstichs für die Errichtung der Bundestagsneubauten selbst die Devise ausgegeben: »Für Berlin ist das Beste gerade gut genug.«6))
BlattanfangNächstes Blatt

   38   Probleme/Projekte/Prozesse Umzug von Parlament und Regierung  Voriges BlattArtikelanfang
Da war sogar an die Kosten für Nachhilfe der schulpflichtiger Kinder der Bediensteten (der Bund übernimmt die Kosten bis zu einer Höhe von 2 400 DM) oder an die Bezuschussung eines neuen Herdes (bis zu 450 DM) gedacht worden, wenn die Energieart in der neuen Wohnung eine andere ist als in der alten vor dem Umzug, und wenn gar ein umgezogener Beschäftigter in Berlin eine »minderwertige Tätigkeit« ausüben muss, darf er die frühere Amtsbezeichnung und frühere Dienstbezüge behalten ... Und immer wieder lag das permanente Tauziehen zwischen Berlin und dem Bund bei der Finanzierung von Projekten wie ein Schatten über dem Umzug.
     Aber allen Querelen zum Trotz: Planung und Vollzug des Bundestagsbeschlusses vom 20. Juni 1991 dürften als eine respektable Leistung in die Geschichte eingehen. »Die Hauptstadtplanung hat die Bundesrepublik über die erfolgten Maßnahmen in Raumordnung, Strukturpolitik, Stadt- und Regionalplanung, Städtebau und Architektur hinaus verändert. Viel spricht dafür, dass auch nach dem Abklingen der Hauptstadtplanung die Erfahrungen weiterwirken werden, die verschiedene Institutionen und Gruppen gesammelt haben«,7) wertet der in Berlin lehrende und forschende Wissenschaftler Max Welch Guerra, der selbst aktiv an Auseinandersetzungen um die Hauptstadtplanung teilgenommen und das Innere des Räderwerks der räumlichen Hauptstadtplanung in einem Buch aufgezeichnet hat.
     Und bestätigt nicht der Berlin-Umzug von Parlament und Regierung aufs Neue, was der Schriftsteller und Kritiker Karl Scheffler (1869-1951) vor rund 90 Jahren in seiner Aufsehen erregenden Berlin-Kritik über die »Tragik des Schicksals« dieser Stadt geschrieben hat, nämlich dazu verdammt zu sein, »immerfort zu werden und niemals zu sein«?8)
Quellen:
1 »Berliner Morgenpost« vom 24. 8. 1999
2 Ebenda
3 Max Welch Guerra, Hauptstadt Einig Vaterland: Planung und Politik zwischen Bonn und Berlin, Verlag Bauwesen, Berlin 1999, S. 122
4 Michael Mönninger: Die politische Architektur der Hauptstadt. In: Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, Berlin 1900-2000, Katalog zur Ausstellung »Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, Berlin 1900-2000«, Hrsg. Thorsten Scheer, Josef Paul Kleihues, Paul Kahlfeldt, Nicolai, Berlin 2000, S. 393
5 »Berliner Zeitung« vom 20. 6. 2001
6 »Berliner Kurier« vom 25. 2. 1997
7 Max Welch Guerra, Hauptstadt Einig Vaterland: Planung und Politik zwischen Bonn und Berlin, Verlag Bauwesen, Berlin 1999, S. 169
8 Karl Scheffler, Berlin - Ein Stadtschicksal: Nachdruck der Erstausgabe von 1910, Fannei & Walz Verlag, Berlin 1989, S. 219 (Berliner Texte, Band 3, hrsg. von Detlef Bluhm)

Die angeführten Daten zum Berlin-Umzug entsprechen dem bis Ende Juli 2001 veröffentlichten Stand

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
www.berlinische-monatsschrift.de