82 Geschichte und Geschichten | Bundestagsentscheidung |
Herbert Schwenk
Von der Euphorie zur Ernüchterung Vor fünf Jahren entschied der Deutsche Bundestag für Berlin Am späten Abend des 20. Juni 1991 läutete die Freiheitsglocke im Turm des Schöneberger Rathauses. Am Tag darauf erschien die Berliner Presse mit Jubel-Meldungen: Niederlage für Bonn ... Parlament und Regierung kommen nach Berlin ... Das war eine Sternstunde des Deutschen Bundestages, die Abgeordneten haben Mut und Stil bewiesen ...
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(Berlin-Antrag)« bei 320 Gegenstimmen, einer Enthaltung und einer ungültigen Stimme. (vgl. Rubrik Dokumentiert) Damit war mit einem knappen Übergewicht von nur 18 Stimmen zugunsten der Verlagerung des Parlaments- und Regierungssitzes nach Berlin die Entscheidung gefallen und der noch am Vorabend herrschende Wirrwarr beendet: Bundeskanzler Kohl, der wie Außenminister Genscher, Altkanzler Brandt, SPD-Fraktionschef Vogel, Justizminister Schäuble und viele andere prominente Politiker in der entscheidenden Abstimmung für Berlin votierte, hatte sich noch am Vorabend »in letzter Minute« um einen Kompromiß bemüht, wonach die Entscheidung über den Parlaments- und Regierungssitz um »einige Jahre« verschoben werden sollte; die PDS zog ihren Antrag erst kurz vor der Abstimmung zurück, demzufolge Parlament und Regierung umgehend nach Berlin umziehen sollten.
Dieses knappe Abstimmungsergebnis überraschte schon vor fünf Jahren manchen im In- und Ausland. Immerhin sprachen viele Argumente für Berlin. Berlin ist als traditionelle Hauptstadt Deutschlands Sinnbild deutscher Geschichte schlechthin. Zudem ist es einzige Stadt, die Deutsches aus Ost und West in sich vereint. Keine andere Stadt könnte mit ihrer durchlebten deutsch-deutschen Geschichte glaubwürdiger die Aufgabe des gemeinsamen Neubeginns zur Herstellung der Einheit Deutschlands erfüllen als Berlin: |
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40 Jahre lang galt Berlin als das Symbol deutscher Einheit; Berlin war Klammer zwischen Ost und West selbst in den düstersten Tagen des kalten Krieges. Unverblümt mahnte die »Berliner Zeitung« in einem redaktionellen Kommentar am Tag der Bundestagsentscheidung: »Nun fordern wir das eine zurück, das uns gehört. Das 40 Jahre lang im Westen versprochen wurde. Das einst der Bundestag beschlossen hat. Woran die Menschen im Osten geglaubt haben. Und jetzt will der Treuhänder Bonn nicht zurückgeben, was ihm nicht gehört.« Hinzu kommt, daß die geographische Lage und Geschichte Berlin schon häufig zum Ausgangspunkt der Öffnung deutscher Politik gegenüber Osteuropa bestimmten. Karl Scheffler (1869-1951) schrieb schon 1910 in seinem bissig-respektlosen Buch »Berlin - ein Stadtschicksal«, daß die Stadt »immer nach Osten gerichtet« war und »Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten« bot. Um so mehr kann und muß Berlin diese traditionelle Rolle als »Brücke zum Osten« nach dem Zusammenbruch des »Realsozialismus« in Osteuropa und dem Ende der Spaltung Europas auf dem Weg der Neuorientierung und der Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit spielen.
Und dennoch: Die Gegner des Umzugs nach Berlin verstummen und ruhen nicht. Ihr Hauptargument ist die Aufrechnung »menschlicher und finanzieller Konsequenzen« des Umzugs vom Rhein an die Spree. |
Trotz der vielen starken Argumente für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz zeigten die vergangenen fünf Jahre, wie schwer der Bundestagsbeschluß umzusetzen ist. An Aktivitäten gab es keinen Mangel. Der Bundestag setzte Kommissionen ein, um weitere Entscheidungen zur Verwirklichung des Beschlusses vom Juni 1991 einzuleiten. Die Bundesregierung bildete einen Arbeitsstab »Berlin/Bonn«, der das Umzugskonzept vorantreiben sollte. Am 25. August 1992 unterzeichneten Bundeskanzler Kohl und der Regierende Bürgermeister Diepgen im Roten Rathaus einen siebenseitigen »Hauptstadtvertrag«, der die Kompetenzen von Bund und Senat beim Ausbau Berlins aufteilt und koordiniert.
Am selben Tag schlossen der Bundeskanzler und der brandenburgische Ministerpräsident eine parallele Vereinbarung. Auf der Grundlage des Hauptstadtvertrages wurde ein »Gemeinsamer Ausschuß« unter Federführung des Bundesbauministeriums und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin geschaffen, der u. a. über die neuen Standorte der Bundesministerien und Verkehrslösungen für das Stadtzentrum zu befinden hat. Am 30. Juni 1994 schlossen die Bundesregierung und das Land Berlin einen Finanzvertrag (»Hauptstadtfinanzierungsvertrag«), demzufolge Berlin 1,3 Milliarden DM aus Bundesmitteln zum Ausbau der Hauptstadt-Strukturen erhält, davon 1 Milliarde DM für hauptstadtbezogene Investitionsvorhaben im Bereich der Verkehrsinfrastruktur. |
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Schließlich bekräftigte und festigte das am 10. März 1994 vom Bundestag verabschiedete »Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin/Bonn-Gesetz)« die eingeleiteten Schritte des Umzugs und machte die Berlinentscheidung des Bundestages unumkehrbar. Nach einem Beschluß der Bundesregierung vom 12. Oktober 1993 soll der Berlinumzug von Bundestag und Bundesregierung bis zum Jahre 2000 abgeschlossen sein, wobei das Kanzleramt und die betreffenden Ministerien schrittweise nach Fertigstellung ihrer Dienstsitze in Berlin umziehen werden und es »keine Provisorien« geben soll.
Diesen Aktivitäten stehen handfeste Probleme und Widerstände entgegen. Allen voran sind das die Interessen der Bonner Region. Der Bundestagsbeschluß vom 20. Juni 1991 sah vor, daß Bonn als Verwaltungszentrum erhalten bleiben soll. Darauf beruft man sich am Rhein und fordert, einen möglichst großen Teil der etwa 21 000 Arbeitsplätze bei den Bundesministerien in Bonn zu belassen. So wurde erreicht, daß die Bundesministerien nur teilweise nach Berlin verlagert werden: Neben Bundeskanzleramt und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sollen von den 18 Ressorts, die vor den Bundestagswahlen vom |
16. Oktober 1994 bestanden (danach nur noch 16), zehn ihren Sitz in Berlin nehmen und zugleich in Bonn zweite Dienstsitze belassen; die übrigen acht Bundesministerien sollen in Bonn verbleiben und in Berlin lediglich zweite Dienstsitze einrichten. Parallel dazu sah der Bundestagsbeschluß vor, für Bonn einen Ausgleich für den Verlust des Parlamentssitzes und der Regierungsfunktionen sowie finanzieller Sonderbelastungen zu schaffen. So soll die Region Bonn etwa 7 300 neue Arbeitsplätze erhalten und für den Zeitraum bis 2004 eine Summe von 2,8 Milliarden DM als Ausgleich zur Verfügung gestellt bekommen. Im Oktober 1993 waren die Umzugskosten inoffiziell ab 1995 auf rund 25 Milliarden DM veranschlagt worden, allerdings ohne die Kosten der Verkehrsplanungen in Berlin und der Ausgleichsmaßnahmen für Bonn. Im Januar 1994 war offiziell von einem Finanzvolumen von 20 Milliarden DM, verteilt auf einen Zeitraum von zehn Jahren, die Rede. Nach einer Untersuchung der Bankgesellschaft Berlin sollen im Ergebnis des Berlinumzugs im besagten Zehn-Jahres-Zeitraum in der Berliner Region 200 000 zukunftssichere und feste Arbeitsplätze geschaffen werden.
In den vergangenen fünf Jahren ist ganz unbestritten einiges zur Verwirklichung der Hauptstadtentscheidung des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 auf den Weg gebracht worden. |
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Aber längst ist angesichts des Widerstandes aus der Bonner Region und der großen Finanzierungsprobleme die Euphorie in Ernüchterung umgeschlagen. Immerhin sollte der Bundestag schon binnen vier Jahren, | von 1991 aus gerechnet, in Berlin arbeitsfähig sein. Vielleicht wird man erst am 20. Juni 2001 mehr sehen und sagen können über die »Sternstunde des Deutschen Bundestages« vom 20. Juni 1991, kurz vor 22 Uhr ... | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/1996
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