FISCHERINSEL
Der
topographische Begriff F. bezeichnet zum einen ein durch den Magistratsbeschluß
Nr. 79 im Jahr 1969 benanntes Straßengebilde von Wohn- und Zufahrtsstraßen
im Bezirk Mitte, das von der Neuen Roßstraße ab Roßstraßenbrücke
zur Gertraudenstraße führt und jenseits in die Breite Straße
einmündet. Es ist zum anderen die Bezeichnung des gesamten historischen
Terrains der südlichen Spreeinsel zwischen Gertraudenstraße/Mühlendamm
und dem Spreekanal, welches vom Straßengebilde F. durchschnitten
wird und seit altersher in Anlehnung an die dort lebenden Bewohner "Fischerinsel "
heißt. Während hier bis zum 15. Jh. Bürger der Fischer-
und Schiffergilde, Kaufleute und Handwerker wohnten, erfolgte im Zuge
der Regulierung der Spree und des Spreearmes im 17. und 18. Jh. eine verstärkte
Ansiedlung von Ausländern, vor allem Handwerkern aus Holland und
Glaubensflüchtlingen (Refugiés) aus Frankreich. Seit Mitte
des 19. Jh. verkümmerte der sog. Fischerkiez infolge Überbauung
und wachsender Industrialisierung
Berlins zu einem "Arme-Leute-Viertel".
Geographisch
handelt es sich bei der F. um eine der langgestreckten Talsandinseln eiszeitlichen
Ursprungs im Warschau-Berliner-Urstromtal ( Geographische
Bedingungen der Stadtwerdung). Auf jenem Baugrund, umflossen auf östlicher
Seite von der Spree sowie auf südlicher bzw. westlicher Seite von
einem Spreearm (später "Spreekanal"), entstand Alt-Cölln
als eine der beiden Keimzellen der späteren Metropole. Während
der Süden der Insel seit dem Ende des 12. Jh. besiedelt wurde, blieb
der Norden der Insel noch Jahrhunderte lang Sumpfland, bevor der Lustgarten
angelegt und die Museumsinsel bebaut wurden. Die Bezeichnung F. blieb
indes auf den Südteil beschränkt. Welche Ausdehnung die Insel
in Vorzeiten hatte und welchen Verlauf der Spreearm bzw. spätere
Spreekanal ursprünglich nahm, ist umstritten ( Friedrichsgracht).
Einst bestand die F. aus einem rechtwinklig angelegten Straßennetz
von neun kleinen Gassen und Straßen, die insgesamt 16 verschiedene
Namen trugen.
Ein
gravierender Einschnitt in der über 800jährigen Geschichte der
F. vollzog sich nach dem II. Weltkrieg. Während es im gesamten Stadtzentrum
zu schweren flächenhaften Zerstörungen gekommen war ( Kriegszerstörungen),
waren die Gebäudeschäden auf der F. punktueller Natur, darunter
auch die der Petrikirche.
Nach Expertenansicht von 1945 wären 40-50 Prozent der Gebäude
wiederaufbaufähig gewesen (BERLINER WOHNQUARTIERE 1994/202). Bereits
im ersten Flächennutzungsplan vom 12.8.1955 wurde auch die Frage
nach dem weiteren Schicksal der F. gestellt. Die Vorgabe lautete, nur
"alle nicht wieder aufzubauenden Ruinenteile abzureißen", aber "Generalreparaturen
an der vorhandenen und erhaltungswürdigen Bausubstanz durchzuführen".
(Zit. nach H. NÄTHER 1994/15). Demzufolge war vorgesehen, bis 1965
entsprechend den Möglichkeiten das historisch wertvolle alte Stadtviertel
wiederaufzubauen und zu sanieren. Der Ost-Berliner Magistrat, vertreten
durch Chefarchitekt Hermann Henselmann (1905-1995), erteilte 1957 den
Auftrag zur "Planung der städtebaulichen Reorganisation des Stadtviertels
am Fischerkietz". Dabei sollte der historische Charakter der F. gewahrt
werden, zugleich aber wurde bereits vor einer "falsch verstandenen Romantik"
gewarnt. Ein daraufhin ausgearbeitetes städtebauliches Konzept von
Hans Schmidt und Georg Münter sah noch vor, Sanierung von historischem
Baubestand, notwendigen Abriß und Neubau von viergeschossigen Häusern
sinnvoll zu verbinden. Während Henselmann das Konzept wegen zu wenig
Erhaltung des alten Stadtbildes kritisierte, waren die zuständigen
staatlichen Stellen nicht einmal bereit, die vorgeschlagenen Maßnahmen
zur Restaurierung zu akzeptieren. Das Konzept wurde endgültig nach
der Wende im DDR-Bauwesen (sichtbar auf der ersten Baukonferenz im April
1955) hin zu einer rigorosen Ökonomisierung hinfällig, als in
Berlin-Ost die Ära des industriellen Bauens, des typisierten komplexen
Wohnungsbaus begann. Noch vor dem Mauerbau, im April 1961, beschloß
der Ost-Berliner Magistrat im Rahmen eines auf sieben Jahre angelegten
Bauplans den "Aufbau des Zentrums der Hauptstadt der DDR".
Danach
erfolgte 1964-1967 eine rigorose Neubebauung der Friedrichsgracht
auf der Spreeinsel, der historischen Sperlingsgasse sowie der Scharren-
und Brüderstraße , die keinerlei Sensibilität im Umgang
mit dem historischen Stadtraum erkennen läßt. Es entstand ein
Komplex mit Kleinstwohnungen nach dem Konzept von Heinz Graffunder (1926-1994)
und Manfred Prasser (* 1932), wobei die 1789 erbaute Jungfernbrücke
erhalten blieb. 1967/68 entstand in der Breiten Straße zwischen
Neumannsgasse und Scharrenstraße das in trostloser Stahlbeton-Skelettmontagebauweise
nach Entwürfen von Rolf Göpfert (1903-1995) errichtete Gebäude
des DDR-Ministeriums für Bauwesen und der Bauakademie der DDR. Ihre
"Krönung" aber erfuhr die Neubebauung des historischen Stadtraumes
im Neubaugebiet "Fischerinsel" (Fischerkietz).
Mit
dem im März 1966 vom Politbüro des ZK der SED und dem Ministerrat
der DDR beschlossenen Programm zum Aufbau des Berliner Stadtzentrums ( Generalbebauungsplan
der DDR [1968]) war auch das weitere Schicksal der F. besiegelt. Um
das Stadtzentrum war ein Ring von Wohnhochhäusern, darunter auf der
Fischerinsel mehrere vielgeschossige Wohnhochhäuser, vorgesehen.
Die städtebauliche Planung folgte strikt ökonomischen Überlegungen
nach dem Grundsatz der Konzentration der Industrie- und Wohnflächen,
also der Verdichtung der vorhandenen Bebauung - ganz im Unterschied zur
später geübten Praxis des Bauens "auf der grünen Wiese"
im Zusammenhang mit dem erklärten Ziel, die Wohnungsfrage als soziales
Problem zu lösen.
Statt
einer behutsamen Sanierung und Rekonstruktion der uralten schwierigen
Bausubstanz erfolgte so bis 1973 eine völlige städtebauliche
Neugestaltung eines der ältesten Kietze der Stadt unter radikaler
Beseitigung des historischen Bauerbes. Seitdem steht die F. mit ihren
sechs 21geschossigen Wohntürmen, darunter ein Doppelpunkthaus, als
Beispiel gnadenloser "Kahlschlagsanierung" im Stadtkern Berlin/Cöllns.
Lediglich zwei Gebäude wurden in Kopien an anderer Stelle neu errichtet:
die historische Gaststätte "Zum Nußbaum " im Nikolaiviertel
und das Rokokohaus
Friedrichsgracht Nr. 15 am Märkischen Ufer Nr.
12. Im Fischerkiez wurde die Plattenbauweise im großen Stil und
erstmals in der DDR auch beim Bau von Wohnhochhäusern mit mehr als
10 Geschossen angewandt - dies galt als eines der Argumente für die
"Leistungsfähigkeit des sozialistischen Bauwesens der DDR". Es entstanden
1 469 WE für ca. 3 500 Einwohner. 17 Prozent der Wohnungen haben
vier Zimmer. Gleichzeitig mit der Neubebauung der F. ging die monströse
Verbreiterung der Verkehrsader Grunerstraße und Mühlendamm
über die Gertraudenstraße zur Leipziger Straße einher,
die den historischen Bereich um die Klosterstraße,
der einst das Oderberger Stadttor und Hohe
Haus beherbergte, zerschneidet.
Nach
der Wiedervereinigung Berlins erfaßte die Bauplanung auch die F.
An der Breiten Straße/Ecke Mühlendamm
errichteten die drei Spitzen-Wirtschaftsverbände BDI, BDA und DIHT
ihr neues Verbandshaus in Berlin (4 500 m² groß, 200 Mill. DM teuer)
mit großem Atrium im Inneren. Das vom Senat am 18.5.1999 verabschiedete
städtebauliche Konzept "Planwerk Innenstadt" ( Innenstadt)
sieht vor, entlang der Gertraudenstraße und gegenüber dem Ermelerhaus
weitere Neubauten zu errichten. Der von der Senatsverwaltung vorgeschlagene
Bau von Luxusappartements nebst Privatisierung von Grünflächen
auf der Südostspitze der F. scheiterte am Widerstand der Bezirksverordnetenversammlung
des Bezirks Mitte.
GÜNTER
PETERS, 1995: "ARMUT" VERHÜTETE DEN KAHLSCHLAG
"Eine
bauliche Realisierung der ,Kahlschlaggebiete’ scheiterte an
den politisch-ökonomischen Bedingungen, an der Vorrangigkeit
der ,Hauptstadt-Vorhaben’, an der schwierigen Verlagerung
von Industrie und Gewerbe sowie nicht zuletzt an der Wohnungsnot.
Somit verhütete die ,Armut’ den Kahlschlag. Trotzdem
gab es in den sechziger Jahren einen Abgang von 20 430 Wohnungen.
Er wurde verursacht durch flächenmäßige Kahlschläge
im Bereich der Mauer nach 1961 und durch den Aufbau des Stadtzentrums,
vor allem im Bereich des Scheunenviertels und der Fischerinsel."
Quelle:
Peters 1995/247
|
Quellen
und weiterführende Literatur: 
Herrmann 1987/142-144; Schulz/Gräbner 1987/90-91; Berliner Wohnquartiere
1994/201-206; H. Näther 1994/14-19; Fritzsche 1995/128-129; Peters
1995/246-249
(c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004
Stadtentwicklung
|