URSPRUNG
DER STADT IN DER STADTGESCHICHTSFORSCHUNG
Der
Ursprung Berlins ist seit Jahrhunderten umstritten. Weil die Quellen zur
Frühgeschichte von Alt-Berlin und Alt-Cölln vor allem durch die Stadtbrände
von 1376 und 1380 vernichtet wurden und steinerne Zeugen aus der Zeit
der Stadtgründung und frühen Stadtentwicklung
weitgehend fehlen, lag vieles lange Zeit im Dunkeln. Erst die systematische
Stadtgeschichtsforschung des letzten Jh. fügte Teilerkenntnisse zum
Ursprung der Stadt zu einem Gesamtbild zusammen.
Jahr |
Zeittafel zu den Anfängen von Berlin und Cölln (nach Hypothesen
von K. F. KLÖDEN, 1839) |
Nach | 700 |
Nach | 934 |
Nach | 938 |
Nach | 940 |
Nach | 954 |
Nach | 960 |
Nach | 963 |
Nach | 983 |
Nach | 1000 |
Nach | 1007 |
Nach | 1100 |
Nach | 1109 |
Nach | 1113 |
Nach | 1139 |
Nach | 1157 |
Nach | 1209 |
Nach | 1220 |
Nach | 1238 |
Nach | 1245 |
Nach | 1246 |
Nach | 1247 |
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Cölln, ein wendisches Dorf im Lande der Sorben. |
Kaiser Heinrichs Heer zieht durch Cölln gegen die Ukern. |
Markgraf Gero. Cölln gehört zu dessen Markgrafschaft. |
Abermalige Empörung und Unterwerfung der Sorben. |
Vermutlicher Anfang des Schlosses von Berlin. |
Vermutlicher Bau der Petrikirche zu Cölln und des Marktes mit der Nikolaikirche zu Berlin. |
Durchmarsch der Pommern durch Berlin und Cölln. |
Allgemeine Empörung der Wenden. Die Kirchen und Klöster werden zerstört. Krieg. |
Ende des Krieges. Das ganze Land ist wieder unterworfen. |
Berlin befindet sich vielleicht unter polnischer Herrschaft. |
Vermutlicher Bau des Mühlendamms, der Mühlen und des Kohlmarktes. |
König Heinrich V. geht mit einem großen Heer durch Cölln und Berlin. |
Wahrscheinlicher Bau der Marienkirche und des neuen Marktes zu Berlin. |
Wahrscheinliche Vergrößerung Berlins bis zur Klosterstraße. |
Friede. Markgraf Albrecht der Bär zieht mit seinem Heer durch Cölln und Berlin
nach Polen. |
Vermutliche Eroberung Berlins, Zerstörung des Schlosses sowie des Weddings. |
Berlin und Cölln erhalten Stadtrecht und Rathäuser. |
Markgräflicher Hof in der Klosterstraße ist eingerichtet. |
Vermutliche Stiftung des Dominikanerklosters zu Cölln. |
Vermutliche Stiftung des Franziskanerklosters zu Berlin. |
Die Mauern beider Städte sowie Wall und Gräben sind fertig. |
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Quelle:
Karl Friedrich Klöfen: Ueber die Entstehung, das Alter un die früheste
Geschichte der Städte Berlin und Kölln. Ein Beitrag zur Geschichte
der Germanisierung slavischer Gegenden, Berlin 1839, S. 359-361:
1839
hatte der Berliner Historiker, Naturforscher und Pädagoge Karl Friedrich
von Klöden (1786-1856), Direktor der städtischen Gewerbeschule
zu Berlin, Ansichten zum Ursprung der Städte Berlin und Cölln
publiziert. Neben einigen bemerkenswerten Erkenntnissen wie jenen von
einem "langsamen" Werden Berlins und dessen Rolle als früher "Handelsstation"
stellte er auch höchst fragwürdige Hypothesen auf, allen voran
die von der Existenz eines "festen Schlosses" in Berlin schon im Jahre
954 (vgl. oben). Dem widersprach vehement Ernst Fidicin (1802-1883) in
seinem 1840 erschienenen Buch "Die Gründung Berlins". Indem er sich
exakt an vorhandene Urkunden hielt, stellte er zwar Klödens Hypothesen
in Frage, konnte sie jedoch nicht verdrängen. Im gesamten 19. Jh.
blieben die Ansichten vom deutschen Burg-Schloß am Spreepaß
und wendischen Fischerdorf Cölln auf der gegenüber liegenden
Seite in den Standardwerken zur Geschichte Berlins bestimmend.
Die
Vermutung, Berlin und Cölln könnten aus Dörfern entstanden
sein, erhielt durch die Arbeiten des Archäologen Albert Kiekebusch
(1870-1935) Auftrieb. Er hatte 1916 aus der Bedeutung des Hufenlandes
für die Geschichte Berlins die Auffassung abgeleitet, daß Berlin
vorher ein nach deutscher Art eingerichtetes Kolonistendorf gewesen sei.
Die Hypothese vom "Dorf Berlin" stützte er auf eine vermeintliche
Parallele zwischen der Anlage des Berliner Hufenlandes und der Feldmarken
der deutschen Dörfer des unteren Spreetals (Lichtenberg, Rosenfelde/seit
1699 Friedrichsfelde, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf, Dahlwitz). Kiekebusch
ergänzte seine Ansicht zur Existenz einer vorstädtischen Siedlung
Berlin durch die Vermutung einer dörflichen Siedlung slawischen Ursprungs,
die auch der Stadt Cölln historisch vorangegangen sei.
Bedeutenden
Einfluß auf den wissenschaftlichen Meinungsstreit hatten die Forschungen
von Stadtarchivar Paul Clauswitz (1839-1927). Dieser stützte sich
auf Archivar Hermann Krabbo (1875-1928), der 1912 in einer Publikation
die Städtegründungen der askanischen Markgrafen-Brüder
Johann I. (1213?-1266) und Otto III. (1215?-1267) von Brandenburg an Hand
aller bekannten Schriftquellen analysiert hatte. Krabbo und Clauswitz
maßen dabei der um 1280 verfaßten sog. Sächsischen Fürstenchronik
(Chronica principum Saxoniae) große Bedeutung bei, derzufolge die
jungen Markgrafen Johann I. und Otto III. neben anderen Orten auch Berlin
"gegründet" hätten. Da jedoch die Markgrafen frühestens
von 1225/1226 an die Mündigkeit erreicht haben dürften, käme
ein Gründungsdatum für Berlin erst in der Zeit danach in Frage.
Allerdings ist die Deutung des Wortes "extruere" in der Fürstenchronik
nicht eindeutig: Der früheren Übersetzung mit "gründen"
stehen inzwischen auch "errichten", "aufbauen" oder "erweitern" gegenüber
(MÜLLER 1979/23 u. 57). Im Falle einer Auslegung mit "erweitern"
wäre denkbar, so 1952 der Brandenburg-Historiker Johannes Schultze
(1881-1976), daß sich die Notiz der Fürstenchronik auch auf
die Erweiterung der Berliner Nikolaisiedlung durch das Marienviertel mit
der Anlage des Neuen Marktes, der 1240 "sicher" vorhanden gewesen sei,
beziehen könnte. Unbeschadet der Ungenauigkeit ist der in der Sächsischen
Fürstenchronik enthaltene Ansatz eine bis heute gültige Aussage,
daß Berlin und Cölln von den Markgrafen-Brüdern "um 1230"
das Stadtrecht verliehen wurde.
Noch
massiver meldete Stadtarchivdirektor Ernst Kaeber (1882-1961) diese Zweifel
an. Er beeinflußte nachhaltig den Meinungsstreit zur Entstehung
von Berlin und Cölln. Ganz im Gegensatz zu A. Kiekebusch und anderen
verfocht Kaeber die Auffassung, daß die Städte Berlin und Cölln
keine Vorsiedlungen hatten: Berlin und Cölln seien "sofort als Stadt"
gegründet worden. Zugleich bekräftigte Kaeber die Überlegungen
von Clauswitz über den Zeitansatz "um 1230" für die Entstehung
Berlins. Kaeber stützte sich auf die erhaltenen Urkunden der Städtegründungen
der Markgrafen-Brüder, denen zufolge es sich bei Berlin und Cölln
"um völlige Neugründungen handelt".
Der
Ansicht, daß vor Erhebung Berlins und Cöllns zu Städten
um 1230 keine Siedlung bestanden habe, widersprach zeitgleich der Kulturhistoriker
und Siedlungsforscher Robert Mielke (1863-1935). Indem er sich besonders
auf die geographische Lage Berlin/Cöllns als Knotenpunkt des Fernhandels
stützte, lenkte er die weitere Forschung auf die Entstehung einer
Marktsiedlung mit ihren Möglichkeiten rascher Entfaltung städtischen
Lebens. Die Bedeutung des Fernhandelsplatzes an der Spree für die
Berliner Stadtentwicklung vertiefte nach dem II. Weltkrieg DDR-Historiker
Eckhard Müller-Mertens (* 1923). In einem 1960 publizierten Aufsatz
stellte er die Stadtwerdung Berlin/Cöllns in den Zusammenhang der
stufenweisen Entwicklung anderer märkischer Städte. Er erhärtete
Erkenntnisse zur frühen Rolle kaufmännisch-gewerblicher Kräfte
bei der Stadtwerdung und sah den Ursprung der Doppelstadt in einer Niederlassung
von Kaufleuten und Handwerkern. Wegen des lückenhaften Quellenmaterials
plädierte Müller-Mertens für weitere umfassende Grabungen
im zerstörten Stadtkern.
Hatte
bereits 1931 die Entdeckung von Resten des ehemaligen Hohen Hauses in der Klosterstraße
die Annahme von der Existenz eines alten Burg-Schlosses vor der Stadtgründung
in Frage gestellt und auch 1948 die Auffindung von Resten der mittelalterlichen
Stadtmauer an der Waisenstraße das Wissen über die Frühgeschichte
Berlins ergänzt und auch korrigiert, so noch weitaus mehr die archäologische
Stadtkernforschung von Berlin/Cölln in folgenden Jahrzehnten. 1956-1958
und 1980-1983 fanden umfangreiche Ausgrabungen in der kriegszerstörten
Nikolaikirche, vor deren Wiederaufbau
bis 1987, statt. Sie galten dem Bemühen, Fragen über den Ursprung
von Berlin, die die schriftlichen Quellen offen lassen, zu beantworten.
Nachdem die Grabung Sicherheit über die Existenz einer romanischen
Feldsteinbasilika als ältestem Vorgängerbau gebracht hatte,
deren Baubeginn sehr vorsichtig auf etwa 1220/1230 datiert wurde, kam
es zu einer sensationellen Entdeckung: Unter jener spätromanischen
Basilika wurden 72 Gräber gefunden (später erhöhte sich
die Zahl sogar auf 91), die eindeutig einer vorstädtischen Zeit vor
1220/1230 zugeordnet werden konnten. Damit fand die Vermutung Bestätigung,
daß der Stadtrechtverleihung "um 1230" eine Zeit voran gegangen
war, in der eine vorstädtische Siedlung mit Friedhof im Bereich von
St. Nikolai bereits existierte. Die Entdeckung des vorstädtischen
Friedhofs belegt somit, daß Berlin - wie viele Städte - eine
Entwicklung in mehreren Stufen durchlaufen hat. Damit galt die These von
E. Kaeber, daß Berlin unmittelbar als Stadt gegründet worden
sei, als eindeutig widerlegt. Die Notiz in der Sächsischen Fürstenchronik
könnte demzufolge auch bedeuten, daß ein bereits existierender
Ort Berlin (nach seiner Erweiterung?) von den Markgrafen-Brüdern
zur Stadt erhoben wurde. Archäologische Untersuchungen auf dem ehemaligen
Grundstück Hoher Steinweg 15, im Mittelalter an der Verbindungsstraße
zwischen Nikolai- und Marienviertel gelegen, gaben 1955/1956 dieser Hypothese
Auftrieb. In der untersten (ältesten) Siedlungsschicht wurden Keramikscherben
gefunden, die keine eindeutige Datierung in die ersten Jahrzehnte des
13. Jh. zuließen. Die Besiedlung des Geländes um den Neumarkt
muß also später erfolgt sein - ein Zusammenhang mit der Stadterhebung
blieb weiter offen.
Die
im historischen Kern von Berlin gewonnenen neuen Erkenntnisse fanden durch
archäologische Forschungen in Alt-Cölln eine frappierende Bestätigung.
Grabungen im Jahre 1967 am ehemaligen Standort der Petrikirche
revidierten frühere Annahmen zur Frühgeschichte Cöllns.
Es gelang, die Existenz zweier Vorgängerkirchen der von 1379-1730
bestehenden hochgotischen Petrikirche nachzuweisen: einer erstmals 1285
erwähnten frühgotischen und einer noch früheren spätromanischen
Kirche, über deren Aussehen zwar nichts bekannt ist, in der jedoch
mit größter Wahrscheinlichkeit der in der Urkunde vom 28. Oktober
1237 erwähnte Pfarrer Symeon seine Wirkungsstätte gehabt haben
dürfte ( Stadtgründung und frühe Stadtentwicklung).
Wie bei St. Nikolai in Berlin erbrachten auch die Grabungen in Cölln
das überraschende Ergebnis, daß unter den Fundamenten der spätromanischen
Basilika ein alter Friedhof angelegt war. Insgesamt konnten 15 Gräber
freigelegt und zugleich nachgewiesen werden, daß es sich sehr wahrscheinlich
um christlich-deutsche Bestattungen handelte und es vordem keine ältere
Besiedlung auf der Cöllner Talsandinsel gegeben hatte. Das aber bedeutete,
daß es auch in Cölln vor der Stadtgründung eine vorstädtische
Niederlassung gegeben hat, die jedoch nichtslawischen Ursprungs war. Somit
war auch durch die archäologische Forschung in Alt-Cölln die
These vom "wendischen Fischerdorf" (A. Kiekebusch) ebenso widerlegt worden
wie die von der Gründung Cöllns "gleich als Stadt" (E. Kaeber).
Die erstaunliche Parallele im Ablauf der Frühgeschichte von Berlin
und Cölln macht die Schlußfolgerung einer "gleichzeitigen Entstehung
beider vorstädtischer Niederlassungen" (SEYER 1987/56) nahezu zwingend.
Daraus ergibt sich folgendes, heute anerkannte Bild vom Ursprung der Doppelstadt
( Stadtgründung und frühe Stadtentwicklung):
Vermutlich schon wesentlich vor 1200 entstanden am sog. Spreepaß
in verkehrsgünstiger Lage auf der Nord- und Südseite Niederlassungen
von deutschen Kaufleuten und Handwerkern. Diese Kernsiedlungen von Berlin
und Cölln entwickelten sich bis etwa 1280 (Tagung des ersten urkundlich
nachweisbaren märkischen Landtages in Berlin) zu wichtigen Marktorten
mit zunehmend städtischem Charakter, wobei Berlin als Umschlagstelle
zwischen Land- und Wasserweg und Sammelpunkt für Fernhandelswaren
durch Privilegien besonders begünstigt wurde. Sehr wahrscheinlich
wurde den Siedlungen um 1230 das magdeburgisch-brandenburgische Stadtrecht
verliehen. Die bekannten urkundlichen Ersterwähnungen von Cölln
und Berlin aber erfolgten erst 1237 bzw. 1244
MARTIN
KESSEL (1901-1990), 1959: DIE SOKRATISCHE STADT
"Berlin ist eine sokratische Stadt.
Allein die Tatsache, daß es jeden zwingt, sich mit ihm als
Idee und Phänomen auseinanderzusetzen, ist bereits sokratisch.
Man kommt weniger nach Berlin, um es anzuschaun, als vielmehr, um
sich ein Urteil darüber zu bilden. Nur sollte man nicht vergessen,
daß der Geist Berlins dialektisch und paradox und stets auch
das Gegenteil seines Gegenteils ist und daß derjenige, der
sich bemüßigt fühlt, es zu beurteilen, sich dadurch
auch selbst charakterisiert."
Quelle: Martin Kessel: Die sokratische Stadt.
In: Merian. Das Monatsheft der Städte und Landschaften, Sonderheft
Berlin, Hamburg 1959, S. 3
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Quellen und weiterführende Literatur: 
Klöden 1839/297 u. 359-361; Fidicin 1840; Krabbo 1912/255f.; Kiekebusch
1916/118; Clauswitz 1921/1f.; Kaeber 1926/45 u. 48; Kiekebusch 1926/33-46;
Mielke 1926/24; Kiekebusch 1927/97-110; Müller-Mertens 1960/1-12;
Schulze 1962/74-93; Müller 1979/105; Demps 1987/54-55; Demps/Materna
1987/66-111; Seyer 1987/23 u. 30-59
(c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004
Stadtentwicklung
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