URSPRUNG DER STADT IN DER STADTGESCHICHTSFORSCHUNG Der Ursprung Berlins ist seit Jahrhunderten umstritten. Weil die Quellen zur Frühgeschichte von Alt-Berlin und Alt-Cölln vor allem durch die Stadtbrände von 1376 und 1380 vernichtet wurden und steinerne Zeugen aus der Zeit der Stadtgründung und frühen Stadtentwicklung weitgehend fehlen, lag vieles lange Zeit im Dunkeln. Erst die systematische Stadtgeschichtsforschung des letzten Jh. fügte Teilerkenntnisse zum Ursprung der Stadt zu einem Gesamtbild zusammen.
Quelle: Karl Friedrich Klöfen: Ueber die Entstehung, das Alter un die früheste Geschichte der Städte Berlin und Kölln. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanisierung slavischer Gegenden, Berlin 1839, S. 359-361: 1839 hatte der Berliner Historiker, Naturforscher und Pädagoge Karl Friedrich von Klöden (1786-1856), Direktor der städtischen Gewerbeschule zu Berlin, Ansichten zum Ursprung der Städte Berlin und Cölln publiziert. Neben einigen bemerkenswerten Erkenntnissen wie jenen von einem "langsamen" Werden Berlins und dessen Rolle als früher "Handelsstation" stellte er auch höchst fragwürdige Hypothesen auf, allen voran die von der Existenz eines "festen Schlosses" in Berlin schon im Jahre 954 (vgl. oben). Dem widersprach vehement Ernst Fidicin (1802-1883) in seinem 1840 erschienenen Buch "Die Gründung Berlins". Indem er sich exakt an vorhandene Urkunden hielt, stellte er zwar Klödens Hypothesen in Frage, konnte sie jedoch nicht verdrängen. Im gesamten 19. Jh. blieben die Ansichten vom deutschen Burg-Schloß am Spreepaß und wendischen Fischerdorf Cölln auf der gegenüber liegenden Seite in den Standardwerken zur Geschichte Berlins bestimmend. Die Vermutung, Berlin und Cölln könnten aus Dörfern entstanden sein, erhielt durch die Arbeiten des Archäologen Albert Kiekebusch (1870-1935) Auftrieb. Er hatte 1916 aus der Bedeutung des Hufenlandes für die Geschichte Berlins die Auffassung abgeleitet, daß Berlin vorher ein nach deutscher Art eingerichtetes Kolonistendorf gewesen sei. Die Hypothese vom "Dorf Berlin" stützte er auf eine vermeintliche Parallele zwischen der Anlage des Berliner Hufenlandes und der Feldmarken der deutschen Dörfer des unteren Spreetals (Lichtenberg, Rosenfelde/seit 1699 Friedrichsfelde, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf, Dahlwitz). Kiekebusch ergänzte seine Ansicht zur Existenz einer vorstädtischen Siedlung Berlin durch die Vermutung einer dörflichen Siedlung slawischen Ursprungs, die auch der Stadt Cölln historisch vorangegangen sei. Bedeutenden Einfluß auf den wissenschaftlichen Meinungsstreit hatten die Forschungen von Stadtarchivar Paul Clauswitz (1839-1927). Dieser stützte sich auf Archivar Hermann Krabbo (1875-1928), der 1912 in einer Publikation die Städtegründungen der askanischen Markgrafen-Brüder Johann I. (1213?-1266) und Otto III. (1215?-1267) von Brandenburg an Hand aller bekannten Schriftquellen analysiert hatte. Krabbo und Clauswitz maßen dabei der um 1280 verfaßten sog. Sächsischen Fürstenchronik (Chronica principum Saxoniae) große Bedeutung bei, derzufolge die jungen Markgrafen Johann I. und Otto III. neben anderen Orten auch Berlin "gegründet" hätten. Da jedoch die Markgrafen frühestens von 1225/1226 an die Mündigkeit erreicht haben dürften, käme ein Gründungsdatum für Berlin erst in der Zeit danach in Frage. Allerdings ist die Deutung des Wortes "extruere" in der Fürstenchronik nicht eindeutig: Der früheren Übersetzung mit "gründen" stehen inzwischen auch "errichten", "aufbauen" oder "erweitern" gegenüber (MÜLLER 1979/23 u. 57). Im Falle einer Auslegung mit "erweitern" wäre denkbar, so 1952 der Brandenburg-Historiker Johannes Schultze (1881-1976), daß sich die Notiz der Fürstenchronik auch auf die Erweiterung der Berliner Nikolaisiedlung durch das Marienviertel mit der Anlage des Neuen Marktes, der 1240 "sicher" vorhanden gewesen sei, beziehen könnte. Unbeschadet der Ungenauigkeit ist der in der Sächsischen Fürstenchronik enthaltene Ansatz eine bis heute gültige Aussage, daß Berlin und Cölln von den Markgrafen-Brüdern "um 1230" das Stadtrecht verliehen wurde. Noch massiver meldete Stadtarchivdirektor Ernst Kaeber (1882-1961) diese Zweifel an. Er beeinflußte nachhaltig den Meinungsstreit zur Entstehung von Berlin und Cölln. Ganz im Gegensatz zu A. Kiekebusch und anderen verfocht Kaeber die Auffassung, daß die Städte Berlin und Cölln keine Vorsiedlungen hatten: Berlin und Cölln seien "sofort als Stadt" gegründet worden. Zugleich bekräftigte Kaeber die Überlegungen von Clauswitz über den Zeitansatz "um 1230" für die Entstehung Berlins. Kaeber stützte sich auf die erhaltenen Urkunden der Städtegründungen der Markgrafen-Brüder, denen zufolge es sich bei Berlin und Cölln "um völlige Neugründungen handelt". Der Ansicht, daß vor Erhebung Berlins und Cöllns zu Städten um 1230 keine Siedlung bestanden habe, widersprach zeitgleich der Kulturhistoriker und Siedlungsforscher Robert Mielke (1863-1935). Indem er sich besonders auf die geographische Lage Berlin/Cöllns als Knotenpunkt des Fernhandels stützte, lenkte er die weitere Forschung auf die Entstehung einer Marktsiedlung mit ihren Möglichkeiten rascher Entfaltung städtischen Lebens. Die Bedeutung des Fernhandelsplatzes an der Spree für die Berliner Stadtentwicklung vertiefte nach dem II. Weltkrieg DDR-Historiker Eckhard Müller-Mertens (* 1923). In einem 1960 publizierten Aufsatz stellte er die Stadtwerdung Berlin/Cöllns in den Zusammenhang der stufenweisen Entwicklung anderer märkischer Städte. Er erhärtete Erkenntnisse zur frühen Rolle kaufmännisch-gewerblicher Kräfte bei der Stadtwerdung und sah den Ursprung der Doppelstadt in einer Niederlassung von Kaufleuten und Handwerkern. Wegen des lückenhaften Quellenmaterials plädierte Müller-Mertens für weitere umfassende Grabungen im zerstörten Stadtkern. Hatte bereits 1931 die Entdeckung von Resten des ehemaligen Hohen Hauses in der Klosterstraße die Annahme von der Existenz eines alten Burg-Schlosses vor der Stadtgründung in Frage gestellt und auch 1948 die Auffindung von Resten der mittelalterlichen Stadtmauer an der Waisenstraße das Wissen über die Frühgeschichte Berlins ergänzt und auch korrigiert, so noch weitaus mehr die archäologische Stadtkernforschung von Berlin/Cölln in folgenden Jahrzehnten. 1956-1958 und 1980-1983 fanden umfangreiche Ausgrabungen in der kriegszerstörten Nikolaikirche, vor deren Wiederaufbau bis 1987, statt. Sie galten dem Bemühen, Fragen über den Ursprung von Berlin, die die schriftlichen Quellen offen lassen, zu beantworten. Nachdem die Grabung Sicherheit über die Existenz einer romanischen Feldsteinbasilika als ältestem Vorgängerbau gebracht hatte, deren Baubeginn sehr vorsichtig auf etwa 1220/1230 datiert wurde, kam es zu einer sensationellen Entdeckung: Unter jener spätromanischen Basilika wurden 72 Gräber gefunden (später erhöhte sich die Zahl sogar auf 91), die eindeutig einer vorstädtischen Zeit vor 1220/1230 zugeordnet werden konnten. Damit fand die Vermutung Bestätigung, daß der Stadtrechtverleihung "um 1230" eine Zeit voran gegangen war, in der eine vorstädtische Siedlung mit Friedhof im Bereich von St. Nikolai bereits existierte. Die Entdeckung des vorstädtischen Friedhofs belegt somit, daß Berlin - wie viele Städte - eine Entwicklung in mehreren Stufen durchlaufen hat. Damit galt die These von E. Kaeber, daß Berlin unmittelbar als Stadt gegründet worden sei, als eindeutig widerlegt. Die Notiz in der Sächsischen Fürstenchronik könnte demzufolge auch bedeuten, daß ein bereits existierender Ort Berlin (nach seiner Erweiterung?) von den Markgrafen-Brüdern zur Stadt erhoben wurde. Archäologische Untersuchungen auf dem ehemaligen Grundstück Hoher Steinweg 15, im Mittelalter an der Verbindungsstraße zwischen Nikolai- und Marienviertel gelegen, gaben 1955/1956 dieser Hypothese Auftrieb. In der untersten (ältesten) Siedlungsschicht wurden Keramikscherben gefunden, die keine eindeutige Datierung in die ersten Jahrzehnte des 13. Jh. zuließen. Die Besiedlung des Geländes um den Neumarkt muß also später erfolgt sein - ein Zusammenhang mit der Stadterhebung blieb weiter offen. Die
im historischen Kern von Berlin gewonnenen neuen Erkenntnisse fanden durch
archäologische Forschungen in Alt-Cölln eine frappierende Bestätigung.
Grabungen im Jahre 1967 am ehemaligen Standort der Petrikirche
revidierten frühere Annahmen zur Frühgeschichte Cöllns.
Es gelang, die Existenz zweier Vorgängerkirchen der von 1379-1730
bestehenden hochgotischen Petrikirche nachzuweisen: einer erstmals 1285
erwähnten frühgotischen und einer noch früheren spätromanischen
Kirche, über deren Aussehen zwar nichts bekannt ist, in der jedoch
mit größter Wahrscheinlichkeit der in der Urkunde vom 28. Oktober
1237 erwähnte Pfarrer Symeon seine Wirkungsstätte gehabt haben
dürfte (Stadtgründung und frühe Stadtentwicklung).
Wie bei St. Nikolai in Berlin erbrachten auch die Grabungen in Cölln
das überraschende Ergebnis, daß unter den Fundamenten der spätromanischen
Basilika ein alter Friedhof angelegt war. Insgesamt konnten 15 Gräber
freigelegt und zugleich nachgewiesen werden, daß es sich sehr wahrscheinlich
um christlich-deutsche Bestattungen handelte und es vordem keine ältere
Besiedlung auf der Cöllner Talsandinsel gegeben hatte. Das aber bedeutete,
daß es auch in Cölln vor der Stadtgründung eine vorstädtische
Niederlassung gegeben hat, die jedoch nichtslawischen Ursprungs war. Somit
war auch durch die archäologische Forschung in Alt-Cölln die
These vom "wendischen Fischerdorf" (A. Kiekebusch) ebenso widerlegt worden
wie die von der Gründung Cöllns "gleich als Stadt" (E. Kaeber).
Die erstaunliche Parallele im Ablauf der Frühgeschichte von Berlin
und Cölln macht die Schlußfolgerung einer "gleichzeitigen Entstehung
beider vorstädtischer Niederlassungen" (SEYER 1987/56) nahezu zwingend.
Daraus ergibt sich folgendes, heute anerkannte Bild vom Ursprung der Doppelstadt
(Stadtgründung und frühe Stadtentwicklung):
Vermutlich schon wesentlich vor 1200 entstanden am sog. Spreepaß
in verkehrsgünstiger Lage auf der Nord- und Südseite Niederlassungen
von deutschen Kaufleuten und Handwerkern. Diese Kernsiedlungen von Berlin
und Cölln entwickelten sich bis etwa 1280 (Tagung des ersten urkundlich
nachweisbaren märkischen Landtages in Berlin) zu wichtigen Marktorten
mit zunehmend städtischem Charakter, wobei Berlin als Umschlagstelle
zwischen Land- und Wasserweg und Sammelpunkt für Fernhandelswaren
durch Privilegien besonders begünstigt wurde. Sehr wahrscheinlich
wurde den Siedlungen um 1230 das magdeburgisch-brandenburgische Stadtrecht
verliehen. Die bekannten urkundlichen Ersterwähnungen von Cölln
und Berlin aber erfolgten erst 1237 bzw. 1244
Quellen und weiterführende Literatur: (c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004 |