GROSSSIEDLUNGEN
G.
oder Großwohngebiete sind "Städte in der Großstadt" und
umfassen 800 bis 2 000 und mehr Wohnungen. In Berlin gehören dazu
über ein Dutzend mit Klein- und Mittelstädten vergleichbare
große Wohnsiedlungen. Bruno Taut (1880-1938), einer der Pioniere
des deutschen Großsiedlungsbaus, der sich Anfang der 20er Jahre
schon als Stadtbaurat von Magdeburg bemüht hatte, "die Stadt mit
Farbe als positiver Provokation aus der Nachkriegslethargie zu reißen"
(HÜTER, K.-H. 1987/201), wollte in Berlin mit den G. eine neue soziale
Qualität erreichen: "Die Größe also nicht nur als ein
Gebot rationeller Errichtung und Verwaltung, sondern ebenso und mehr noch
als eine Notwendigkeit, um die Beziehungen zwischen Gemeinschaft und Individuum
zu ordnen." (Zit. in HÜTER, K.-H. 1987/224). Als 1925 die noch nach
dem Gartenstadtkonzept geplante Hufeisensiedlung
Bruno Tauts und Martin Wagners in Britz im Bezirk Neukölln als erste
von vier beispielhaften G. begonnen wurde, deutete sich die Ablösung
der Gartenstadtidee vom Konzept der G. an. Es folgten von 1926-1932 am
Rande des Grunewalds im Bezirk Zehlendorf die Onkel
Tom Siedlung ("Onkel Toms Hütte"), von 1929-1932 im Bezirk Spandau
die Siemensstadt
sowie von 1929-31 im Bezirk Reinickendorf die Weiße
Stadt. Alle vier G. stehen unter Denkmalschutz. Tauts Ideal gipfelte
1931 darin, mittels G. einen gesellschaftlichen Zustand zu erreichen,
"in dem für alle gleichartigen Bedürfnisse gemeinschaftlich,
zentral, kollektiv, oder wie man es nennen will, erfüllt werden,
so daß das eigentlich individuelle Bedürfnis um so größeren
Spielraum erhält". (Zit. in HÜTER, K.-H. 1987/224)
Seit
Beginn der 60er Jahre kamen sowohl in Berlin-West als auch Berlin-Ost
im Zuge damaliger Stadtentwicklungspolitik neue randstädtische G.
hinzu. Dazu gab es in der damaligen Debatte über "Stadt und Städtebau"
ein heftiges Für und Wider: Nicht wenige befürchteten "Vermassung"
und "Verlust an Selbstbehauptung" (Vgl. GREMMELS 1962/22-50). Architekten
wie Werner Düttmann (1921-1983) traten dem energisch entgegen: "Wir
stehen...vor der großen Massengesellschaft...wir müssen es
tun, wir müssen anfangen, etwas zu formen" (DISKUSSION 1962/85-87).
Heute
leben über eine Million Menschen in den G. Berlins, allein im Ostteil
800 000, das sind ca. zwei Drittel der Ostberliner Einwohnerschaft. Jeder
fünfte Berliner lebt in einer G. Zu den bekanntesten und größten
G. gehören in Berlin-West: Hansaviertel
(1 300 WE; 1958: ca. 3 500 Ew), Märkisches
Viertel (ca. 16 000 WE; 1987: ca. 38 000 Ew), Gropiusstadt
(ca. 17 000 WE; 1987: ca. 45 000 Ew), Falkenhagener
Feld (ca. 30 000 Ew) und Thermometersiedlung (2 700 WE; 1975: ca.
6 000 Ew); in Berlin-Ost: ehemalige Stalinallee
(Karl-Marx-Allee I, 2 569 WE; 1992: ca. 6 140), Karl-Marx-Allee II (4
674 WE; 1992: ca. 9 930), Fennpfuhl (1992: 15 518 WE; ca. 38 000), Landsberger
Chaussee (vormals Leninallee mit 15 518 Wohnungen), Marzahn
(62 135 Neubauwohnungen mit einem Aufwand von mit 9,5 Mrd. Mark für
175 000 Einwohner), Hohenschönhausen
(über 40 000 Wohnungen mit einem geplanten Aufwand von 3,3 Mrd. Mark
für 120 000 Einwohner) und Hellersdorf
(1990 waren von den geplanten 46 000 Wohnungen für 131 000 Einwohner
34 000 mit 90 000 Bewohnern fertiggestellt). Die räumliche Struktur
der G. ist in Berlin-Ost und Berlin-West ähnlich.
Die
G. rückten wegen der zahlreichen städtebaulichen und bautechnischen
Probleme (insbesondere Gleichförmigkeit und fehlende Infrastruktur)
in die öffentliche Kritik. Die weitere Gestaltung der G. ist ein
bedeutendes Element gegenwärtiger und künftiger Stadtentwicklung
und Hauptstadtplanung. Dazu gehören umfangreiche Instandsetzungen
und Modernisierungen ("Nachbesserungen") der Plattenbauten, insbesondere
"der in der DDR-Zeit entstandenen, gesichtslosen Trabantenstädte...:
Sie dürfen nicht zu monofunktionellen Schlafstädten verkommen."
(KÜHNE, G. 1993/233) Solche Alpträume haben sich jedoch zumindest
in Berlin-Ost nicht realisiert: die dortigen G. aus dem DDR-Erbe entwickeln
durchaus eigene Lebensstrukturen. Die anstehende "Kur der Platte" macht
umfangreiche finanzielle Mittel erforderlich; gerechnet wird mit "wenigstens
20 Prozent der Baukosten". In den drei G. Hellersdorf,
Hohenschönhausen
und Marzahn
wurden zur Sanierung der Plattenbauten bereits von 1990 bis 1994 250 Mill.
Mark aufgewandt; bis 1996 insgesamt eine Milliarde Mark. Die anstehende
Instandsetzung und Modernisierung der industriell gebauten Wohngebäude
kosten über 13 Mrd. DM, das sind über 47 600 DM je Wohnung.
(PETERS, G. 1995/246)
HERMANN
ULLMANN (1884-1958), 1932: HARTE GEGENSÄTZE
"Dennoch stehen
die Gegensätze in Berlin besonders hart und nüchtern nebeneinander,
scharf wie die durch keine farbigen Nuancen gemilderten Konturen
seiner Landschaft, der die malerische Weichheit der Pariser Luft,
die geheimnisvolle Gedämpftheit der Londoner Atmosphäre
fehlen. Dabei gibt es keine festumrissenen historischen Quartiere
wie in Paris, keine in sich abgeschlossenen Bezirke, die Kleinstädte
sind wie in Wien, es fehlt auch die scharfe Arbeitsteilung der Londoner
Viertel, die je als City oder Wohnstadt funktionieren. Alt und neu
mischt sich oft unvermittelt, Wohn-, Geschäfts-, Industriegegend
verzahnen sich vielfach, durchdringen sich, verwirren sich gegenseitig.
Das Modernste in Berlin ist, außer einigen vereinzelten, überall
verstreuten Bauten, seine Peripherie. Hier, außerhalb des
bis 1900 bebauten und 'erschlossenen' Terrains konnten sich neue
und neueste Architektur- und Städtebaugedanken, zum Teil in
Anlehnung an die Industrie, zum Teil in Wohnkolonien entfalten So
genießt der Berliner, seinem Wesen treu, auch seine Vergangenheit
in Gänsefüßchen, mit ein wenig Herablassung, der
etwas Mitleid beigemischt ist. Man weiß nicht recht: Mitleid
mit jenen zurückgebliebenen Zeiten oder Mitleid mit sich selbst,
dem Bürger Großberlins..."
Quelle:
Hermann Ullmann: Flucht aus Berlin? Jena 1932, S. 13 u. 19
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Quellen und weiterführende Literatur:  Neues
Bauen 1931; Hagemann/Rave 1949/18; Kloß 1982/14-68; Werner 1985/233-234;
Balg 1986/51-74, 102-106, 151-156, 468-510; Bodenschatz 1987/171-186;
Demps/Materna 1987/588-592; Hüter 1987/215-236; Lange 1987/643-646;
Kleines Berlin-Lexikon 1989/79; Hofmeister 1990/274-281; Stadtidee 1992/195;
Berliner Morgenpost v. 24.11.1994/10; Schäche 1993-1/217-218; Kühne
1993/221-235; Berliner Wohnquartiere 1994/116-155, 173-263; Peters 1995/217-218,
224-231, 240-246; Topographischer Atlas 1995/124-135; Architektur in Berlin
und Brandenburg 1997/158-175; Stadt der Architektur 2000/149-160
(c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004
Stadtentwicklung
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