STADTPLANUNGEN
DER 20ER JAHRE
Die
20er Jahre gelten als eine der fruchtbarsten Epochen der Bau- und Architekturgeschichte
Berlins. 1920 war die Einheitsgemeinde Groß-Berlin ( Groß-Berlin-Gesetz
[1920]) durch den Zusammenschluß von 8 Städten, 59 Landgemeinden
und 27 Gutsbezirken geschaffen worden. Damit war die kommunale Zersplitterung
und die Behinderung der Stadtentwicklung infolge Fehlens durchgreifender
raumordnender Maßnahmen überwunden, und das neue Gesamtgebiet
konnte nach einheitlichen Gesichtspunkten und Grundsätzen geordnet
werden. Die Forderungen nach einer strukturellen Neugliederung der Stadt
fanden im Entwurf "Schematische Massenteilung Berlins" (1917/19) von Martin
Mächler (1881-1958) als einem der ersten raumordnenden Konzepte,
das ein Territorium mit einem Radius von 50 km erfaßte und dies
nach fünf Funktionen gliederte, ihren Niederschlag. Dieses gewaltige
stadträumliche Umbildungsprojekt des "Weltstadtdenkers" Mächler,
dessen Hauptanliegen die Gestaltung des Stadtzentrums der neuen Einheitsgemeinde
Groß-Berlin gemäß ihrer Bedeutung als Haupt- und Weltstadt
war, wurde richtungweisend für viele Stadtplaner und Architekten
der 20er Jahre. Auch Entwicklungen in den USA mit ihren Hochhausbauten
beeinflußten zunehmend die Berliner Stadtentwicklungspolitik.
Im
Übergang zu den 20er Jahren entstanden die ersten Hochhausentwürfe
für die Berliner Innenstadt
(Entwürfe von Otto Kohtz [1880-1956] für ein Turmhaus am Askanischen
Platz, ein Hochhaus am Blücherplatz und ein "Reichshaus" am Königsplatz.
1922
legte Hugo Häring (1882-1958) Entwürfe für die Bebauung
des Königsplatzes sowie im Rahmen eines Wettbewerbs für ein
Büro- und Geschäftshaus am Kemperplatz vor. Der Bauzonenplan
von 1925, die neuen Platzgestaltungsvorschläge (Lützow-, Kemper-
und Belle-Alliance-Platz) von Hermann Jansen (1869-1945), die Planungen
der Straßendurchbrüche
nach dem Giese-Plan (1925) sowie die Vorschläge zur Entlastung
des Potsdamer
Platzes von Roman Heiligenthal (1880-1951) zielten auf eine aufgelockertere
und modernere Bebauung der Innenstadt sowie auf eine Bewältigung der wachsenden Verkehrsprobleme. Besonders in der Amtszeit des Stadtbaurats Martin Wagner (1885-1957) in den Jahren
von 1926 bis 1933 erhielt das "Neue Bauen" in Berlin starke Impulse. Wagners Ziel war der Ausbau Berlins zur Weltstadt: "Der neue Geist Berlins ist
nicht der Geist von Potsdam, der höfische Geist, der nach Rom und
Paris schielt und Berlin den Herrscherstädten anderer Länder
ähnlich machen möchte. Der neue Geist ist der Weltstadtgeist,
der die alle anderen Städte eines Landes überragenden Kräfte
der Arbeit und und der Erholung, der Zivilisation und der Kultur zur Entwicklung
(orig.: Entwickelung) bringen und Spitzenleistungen erzeugen will. Dieser
Weltstadtgeist muß naturnotwendig einen nationalen Charakter mit
internationaler Ausprägung haben." (WAGNER, M. 1928/33) Stadtbaurat
Wagner forderte und wirkte dahin, daß der neue Weltbürgergeist
"sich auch seinen Stadtkörper nach Inhalt und Form zu schaffen" habe
und alle Aufgaben "mit weltstädtischem Verantwortungsgefühl"
zu lösen seien. "Weltstadt statt Hauptstadt" war die Devise. (BODENSCHATZ,
H. 1993/143)
Ein
großes Problem blieb die Wohnungsnot. Im neugebildeten Stadtgebiet
gab es nun 87 449 bebaute Grundstücke mit 1 151 200 Wohnungen, davon
verfügten 69 Prozent nur über ein bis zwei Wohnräume. 1919
waren 70 000 Wohnungssuchende registriert, 1922 147 000 und 1929 179 000.
Demgegenüber blieb der Wohnungsbau mit jährlich durchschnittlich
20 000 Neubauwohnungen weit zurück (1925: 8 439, 1926: 14 576, 1927:
19 517, 1928: 19 457, 1929: 24 079, 1930: 43 854 Wohnungen). Um die Wohnungsnot
in zehn Jahren zu beseitigen, müßten nach Berechnungen M. Wagners
70 000 Wohnungen in der Hauptstadt jährlich gebaut werden. Damit
wurde der Wohnungsbau zu einem der dringendsten Probleme der Stadtentwicklung
der 20er Jahre. Wohnreformerische Pläne, orientiert am Ideal eines
Massenwohnungsbaus mit ausgeprägt sozialen Zielen, erhielten starken
Auftrieb. Viele Architekten und Stadtplaner des "Neuen Bauens" engagierten
sich bei den Baugesellschaften der Gewerkschaften. Dazu gehörten
die "Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft
(GEHAG)", deren Hauptaktionäre der ADGB, die DEWOG (Dachgesellschaft
der gewerkschaftlichen Baugesellschaften und Baugenossenschaften im Reich)
sowie die "Deutsche Bauhütte. Verband sozialer Baubetriebe" waren.
Um die Wohnungsnot zu mildern, forderten die sozial engagierten Architekten
und Stadtplaner wie M. Wagner einen neuen rationellen Massenwohnungsbau,
der Konzentrierung der Investitionen auf große Siedlungskomplexe
sowie industrielle Methoden des Wohnungsbaus implizierte. So entstanden
neue Wohnanlagen, darunter die "Splanemann-Siedlung"
im Bezirk Lichtenberg
(Ortsteil Friedrichsfelde) als erste deutsche Siedlung, die in Großplatten-Bauweise
errichtet wurde. Von 1925 bis 1931 wurden insgesamt 161 002 Wohnungen
fertiggestellt.
Aus
den städtebaulichen Planungen Ende der 20er Jahre ragten besonders
heraus: die Vorschläge zur Verbesserung der innerstädtischen
Verkehrsstruktur (E. Gutkind, 1929), die neue Freiflächenplanung
(M. Wagner/W. Koeppen, 1929), der kühne Vorschlag zur Bebauung der
Berliner City,
u.a. der Entwurf einer Hochhausstadt in der Friedrichstadt (L. Hilberseimer,
1929/30), die Studie von M. Wagner für eine Zusammenlegung der Berliner
Bahnhöfe und ihre Verbindung untereinander (1930), der Umgestaltungsvorschlag
für den Leipziger
Platz (E. Mendelsohn, 1931) und nicht zuletzt die in den 20er Jahren
geschaffenen ersten Großsiedlungen
in einigen Randgebieten der Stadt. 1927 entwickelten Hugo Häring,
Hans Poelzig (1869-1936), Peter Behrens (1868-1940) u.a. neue Entwürfe
zur Umgestaltung des Platzes der Republik.
Mit
den St. und städtebaulichen Entwicklungen in den 20er Jahren erlangte
Berlin internationale Aufmerksamkeit. Viele der großen städtebaulichen
Projekte mit ihren radikalen Lösungen blieben jedoch - wie auch in
früheren Jahrhunderten - infolge Fehlens finanzieller Mittel auf
der Strecke. Einige ausgewählte Daten belegen Resultate der Berliner
Stadtentwicklung von 1920 bis 1933 (Übersicht).
Ausgewählte
Daten zur Stadtentwicklung 1920 bis 1933
|
1920 |
1933 |
Zuwachs |
Stadtgebiet (ha) Erholungs-u. Waldflächen (ha)
Einwohner (Mill.)
Wohnungen (Mill. WE)
öffentliche Schulgebäude
Kindergärten/Krippen
Krankenhäuser (Betten)
Theater
Kinos
Kirchen, Synagogen o.ä.
Straßennetz (km)
Brücken
Straßenbahn-Netz (km)
Hoch- und U-Bahn-Netz (km)
Wasserrohrnetz (km)
Kanalisationsnetz (km)
Gasrohrnetz (km)
Stromabnehmer |
87 800 24 501
3,8041
1,1518
847
326
30 138
51
317
413
2 303
911
1 169
48,6
2 856
4 208
4 428
211 326 |
88 352
25 412
4,2425
1,3578
785
449
30 485
34
414
469
4 014
1 096
1 172
75,6
3 847
5 161
6 117
237 787 |
543
991
0,4384
0,2218
-62
123
347
-17
97
56
1 711
185
3
27
991
959
1 689
26 461 |
Quelle:
PETERS, G. 1995/166
Quellen
und weiterführende Literatur: 
Wagner 1928/33; [gestr. 3. Aufl.: Hagemann/Rave 1949/18; Rave u.a. 1960/38-40;]
Berlin und seine Bauten 1964/47-61; Vogel 1968/152-178; Werner 1972/6f.;
Posener 1979/281-601; Herzfeld 1981/239-271; Hofmeister 1985/263-267;
Balg 1986/51f.; Demps 1987/152-153; Endlich 1987/202-203; Demps/Materna
1987/590; Hüter 1987/147-354; Pitz u.a. 1984/211-123; Lange 1987/635-643;
Mönninger 1991/84-96; Brunn/Reulecke 1992/151-186; Escher 1992/103-109;
Hampe 1992/7-16; Materna 1992/111-116; Peters 1992-2/17-32; Berlin Handbuch
1993/217-218; Bodenschatz 1993; Bundeszentrale für politische Bildung
1993/6-7; Berliner Wohnquartiere 1994/5-7, 116-155; Dehio 1994/24; Peters
1992-2/17-31; Peters 1995/151-154, 163-166; Architektur in Berlin und
Brandenburg 1997/158-175; Stadt der Architektur 2000/135-183
(c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004
Stadtentwicklung
|