Eine Rezension von Siegfried Wege


Mehr als ein konventioneller „Stadtführer“ durch Berlin

Maria Berning/Michael Braun/Engelbert Lütke-Daldrup/Klaus-Dieter Schule:
Berliner Wohnquartiere. Ein Führer durch 60 Siedlungen in Ost und West
Mit einem Vorwort von Harald Bodenschatz.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1994, 2. erw. u. überarb. Aufl., 397 S.

 

Mit bemerkenswerter Kompetenz und umfangreichen Detailkenntnissen haben die Autoren ein Sachbuch erarbeitet, welches Berliner Architekturgeschichte seit der Mitte des 19.Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart allgemeinverständlich darstellt. Die Berliner Geschichte der Wohnarchitektur wird von den Autoren an 60 Beispielen von Wohnsiedlungen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und chronologisch anschaulich nachvollzogen.

Der historische Bogen setzt im „Wilhelminischen Berlin“ an. Wenn auch die zunehmende Verfinsterung der Wohnquartiere im „steinernen Berlin“ der Jahrhundertwende traditionell Gegenstand einer scharfen Polemik ist, so wollen die Verfasser nicht darüber hinwegtäuschen, daß die historischen Bauattraktionen von Repräsentationsgebäuden und Sozialeinrichtungen (Schulen, Krankenhäuser) im „Stil des Wilhelminismus“ bis heute Berlin ein unverwechselbares und eigenständiges Stadtgesicht geben. Der „Wilhelminismus“ ist nicht eine rein nach rückwärts gewandte Tendenz (Julius Posner).

Im Buch wird das u. a. durch Siedlungsbauten von Alfred Messel (1853-1909), einem bürgerlichen Reformer im sozialen Wohnungsbau, belegt. Alfred Messel, ein enger Freund Ludwig Hoffmanns, entwickelte mit Valentin Weisbach u. a. solche Kriterien wie: Freilage der Wohngebäude, Höfe mit Wohngrün, optimale Größenbemessungen von Wohnräumen sowie die Standardorientierung für Wohnquartiere, die heute noch in den erhaltenen Wohnsiedlungen spürbar sind. (Siehe dazu: Martin Küster, Alfred Messel und seine Berliner Arbeiterwohnhäuser. In: „Berlinische Monatsschrift“, H. 11, 1998, S. 4ff.)

Der bürgerliche Reformwohnungsbau wird im Buch von 1860 bis etwa 1917 periodisiert.

Für die 20er Jahre unseres Jahrhunderts betonen die Autoren die sozial-demokratische Reformbewegung, die sich in der Sprache der „Neuen Sachlichkeit“ und mit den demokratischen Gedanken des „Bauhauses“ u. a. auch im Siedlungsbau artikulierte. Auch dieser Zeitraum wird engagiert, faktenreich und anregend im Buch bewertet.

Aus heutiger Sicht kann man sich einer zunehmenden geistigen „Entleerung“ dieser historisch durchaus reformerischen Qualität sicher nicht mehr verschließen, zumal die Kritiker heute bei Wohnbauten, deren Architekten sich auf diese Tradition berufen, weniger die „Wohngrün-Höfe“ als vielmehr „bepflanzbare Waschbetontröge“ entdecken müssen.

Der Zeitraum von 1933 bis 1945 erscheint mit nur vier ausgewählten Siedlungsobjekten kaum attraktiv. Die sozialen Komponenten dieser Zeit sind so ideologisch „national“ belastet, daß hier das Maß an Toleranz und Einfühlung wohl schwer zu finden ist. Das mag verständlich sein, doch um so dringlicher wird auch bei Wertungen von Siedlungsbauten dieses Zeitabschnittes deutlich, daß eine konkrete Aufarbeitung dieser geschichtlichen Lebenszeit Berlins eine ständige Herausforderung bleibt.

Die Zerstörung Berlins im Zweiten Weltkrieg, besonders durch anglo-amerikanische Bombenangriffe, mußte wegen der politischen Teilung der Stadt nach dem Kriege partiell überwunden werden.

Ein besonderes aktuelles Interesse gewinnt die erweiterte Neuausgabe des Buches durch die Einbeziehung der Wohnungsquartiere und Siedlungen im Ostteil der Stadt Berlin. Die Autoren sind sachbezogen bemüht, die „Errungenschaften des Sozialismus“ im Gesamtkontext der Berliner Baugeschichte zu werten. Die analytische Leistung zu diesem Themenkreis ist mehr als eine wohlwollende Bedienung der Floskel: „In der DDR war ja nicht alles so schlecht!“ Vielmehr geht es den Autoren darum, übergreifend eine angemessene Wertung für den „sozialistischen“ Wohnungsbau zu treffen. Denn im allgemeinen Konzept der Wohnungsreform in Berlin „spielen die Strategien der Industrialisierung des Wohnungsbaus und der sozialen Egalisierung der Wohnverhältnisse eine herausragende Rolle. Der DDR-Wohnungs-Neubau ... bildet die jüngste Variante der verschiedenen Visionen eines NEUEN BERLIN...“

Im Kapitel „Zur Geschichte der Berliner Siedlungen - ein Überblick“ gliedern die Autoren das Kapitel zum Wohnungsbau seit dem Mauerbau von 1961 in vergleichbare Abschnitte über West- und Ost-Berlin.

Damit wird die Problematik übersichtlich und teilweise einleuchtend dargestellt. Die historisch überlebten, politischen Konfrontationen der geteilten Stadt werden durch konkrete Vergleichsmöglichkeiten relativiert. Die Herausforderungen und Chancen der Stadtentwicklung Berlins in den 90er Jahren unter den neuen politischen Rahmenbedingungen vor der Jahrhundertwende werden so u. a. auch durch solche sachlich betonten Vergleiche plastisch.

Der Hauptteil „Dokumentation der Siedlungen“ stellt die einzelnen 60 Objekte vor und informiert jeweils über - Ausgewählte städtebauliche Daten; Zur Planungsgeschichte; Die Wohnungen; Das Viertel heute.

Ein abwechslungsreiches Layout ist unterhaltsam beim Durchblättern der Seiten. Die Fotos haben informativen Charakter und helfen bei der Identifizierung ohne atmosphärischen Anspruch. Modellfotos wirken deplaziert (S. 136), zumal die Fülle, teilweise unangemessene Überfülle, von amtlichen Lageplänen mit Maßstabangaben geboten wird. Der Vergleich von Bebauungsplänen (S. 73) ist oft phantasieanregend mit poetischer Nostalgie, kann aber auch verwirren und unproduktiv nur sich selbst genügen (S. 123). Die Abschlußseiten zeigen Übersichtspläne zur geographischen Lage der Objekte innerhalb Berlins. Leider sind hier bedauerliche Mängel in der Handhabbarkeit des „Stadtführers“ zu verspüren, denn die Kartenausschnitte sind kaum zu entziffern.

So ist man fast geneigt, eher den zahlreichen, anregenden Literaturhinweisen zu folgen, als die Wohnquartiere vor Ort aufzusuchen - aber das ist wohl nicht im Sinne der Autoren.

Doch was hatten die Autoren mit ihrem beachtlichen Werk, das u. a. auch Forschungsarbeiten von Architekturstudenten einbezog, im Sinn? Die Antwort findet der Leser und Stadtwanderer im Vorwort sowie im geschichtlichen Überblick. Besonders hier werden soziale und politische Wertungen von Wohnarchitektur für die ausgewählten Objekte unmißverständlich und konsequent vorgegeben. Die Autoren bekennen, daß Wohnungsbau als Sozialpolitik „die wichtigste Maxime der wohnungspolitischen Experimente unseres Jahrhunderts“ sei.

Allein schon das Vorwort von Harald Bodenschatz (TU Berlin) ist ein engagiertes Manifest für mehr Demokratie im Berliner Wohnungsbau, und es formuliert als Leitbild „... die Schaffung möglichst gleichwertiger Wohnanlagen, die die Besonderheiten der einzelnen Wohngebiete betont und die dort wohnenden und arbeitenden Menschen in den Bestandsentwicklungsprozeß einbezieht“ (S. XII). Ohne Illusion wird von realen Gegebenheiten gesellschaftlicher Ungleichheit ausgegangen und festgestellt, daß in der „sozialen Marktwirtschaft“ nur eine Milderung sozialer Ungleichheit im Wohnbereich möglich ist. „Diese Möglichkeit muß aber auch voll genutzt werden.“ (Ebenda)

In diesem Sinne sind die Auftraggeber des Wohnungsbaues in ihrer sozialen Verantwortung herausgefordert, verschiedene, historisch gewachsene „städtebauliche Facetten“ zur Kenntnis zu nehmen und nüchtern zu analysieren. „Doch von einem solchen realistischen Überblick über die im Gebrauch deutlich gewordenen Potentiale des Bestandes sind wir heute noch weit entfernt.“ (Ebenda)

Aus der vorangestellten Erklärung der „Mangellage“ wird das Ziel des Buches proklamiert. Es besteht in der Entfaltung des breiten Spektrums der Wohnbestände in Gesamt-Berlin und dabei in der Konzentration auf Alternativen. Damit rührt das Buch an einen Nerv unserer Zeit und plädiert für eine soziale Wohnungspolitik mit Abkehr von „gewaltsamen Erneuerungsstrategien der Vergangenheit“ und einer behutsamen Bestandsentwicklung.

Diesem aufrichtigen demokratischen Programm steht eine andere reale Alternative entgegen, wie sie Ende 1998 in einer Initiative des Senats von Berlin angestrebt wird. Das Konzept besteht darin, „die Wohnungspolitik konsequent vom hochsubventionierten Mietwohnungsbau hin zum selbstgenutzten Eigentumswohnungsbau zu verlagern“. (Siehe: Berliner Zeitung v. 5./6. Sept. 1998, Beilage S. 1)

Diese sogenannte „Eigentumsstrategie Berlin 2000“ klingt im Ohr wie ein „Schwäbischer Hall“ mit dem abgewandelten Text: „Schaffe, schaffe Häus’le kaufe!“ Der unkonventionelle „Stadtführer“ weist andere Wege.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite