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Gerhard Neumann
Berliner Criminale 1998

Jeder Verein hat seine alljährliche Haupt- oder Generalversammlung. So auch das Syndikat. Doch das schickt seinem Mitglieder-Treff traditionell eine Folge öffentlicher Krimi-Veranstaltungen voraus, und so heißt das Ganze jedesmal CRIMINALE. In diesem Jahr gab es die zwölfte, unter dem Motto: Der Bär schießt los! Sie war die bisher größte, teuerste, lauteste, längste, vielgesichtigste und verrückteste und fand folglich in der Hauptstadt Berlin statt. Mit dem KulturKaufhaus Dussmann als Organisator, Betreuer, Vielfachveranstalter und Hauptsponsor. Ein mutiger Versuch von beiden Seiten. Ob (und warum) er gelang, werden befugte Gremien sicher umgehend verlautbaren. Dabei war hier die „Wirtschaft“ (wie die Medien den Gesellschaftsbereich nennen, der das Geld hat) jejenüber dem „Jeist“ eigentlich viel zu gutmütig. Denn was wurde, genau genommen, „gefördert“?

Leute, die Leichen hervorbringen! Jawohl! Die deutschsprachigen Krimischreiber (ob nun Syndikatsmitglieder oder nicht) produzieren pro Jahr durchschnittlich 770 Tote. Allein in ihren Büchern - Fernsehen, Film oder Hörspiel sind da noch gar nicht mitgerechnet. So will es jedenfalls ein anonymer Zähler für den Zeitraum seit 1990 statistisch ermittelt haben. (Und das wäre gar nicht so unrealistisch - schließlich ist schon der Berichterstatter selbst an dem siebenjährigen Aufkommen mit ca. drei Dutzend Leichen beteiligt). Die Gesamtzahl gliedert sich (wenn man dem spaßhaften Aufrechner folgt) in insgesamt

26 % (ca. 1600) Erdolchte, Erstochene oder Erschlagene,
23 % (ca. 1420) durch Gift Ermordete,
18 % (ca. 1110) Erhängte oder Erwürgte,
15 % (ca. 925) Erschossene,
10 % (ca. 620) in Abgründe, vor Züge etc. Gestoßene,
5 % (ca. 310) Ertränkte und
3 % (ca. 185) Sonstige (was immer das sein mag).

Soll man so etwas fördern?? Taucht da nicht die Frage auf, wie „die Wirtschaft“ zur „Inneren Sicherheit“ steht?

Andererseits erfreut sich die Kriminalliteratur nach wie vor eines sehr großen Zuspruchs. Allein an erstmals veröffentlichten deutschsprachigen Krimis erscheinen in jedem Jahr mehr als 130 Titel, von denen im gleichen Zeitraum fast eine Million Exemplare verkauft werden. Wie in der Presse zu lesen war, will ein prominenter Eventualpsychologe (?) sogar nachgewiesen haben, daß 1,3 % der potentiellen Mörder ihre Mordlust durch Krimilektüre abreagieren und danach von der Begehung echter Straftaten Abstand nehmen. Leider war vom Berliner Polizeipräsidium nicht zu erfahren, ob es im Zusammenhang mit der CRIMINALE bisher zu einem Rückgang an Tötungsdelikten gekommen ist. Der starke Besuch, den allein die über achtzig Autorenlesungen verzeichnen konnten (bei Ingrid Noll z. B. kamen mehr als hundert Hörer, und die Stühle reichten nicht aus), läßt aber, sofern der Wissenschaftler recht hat, Hoffnungen in dieser Richtung durchaus zu.

Es ist unmöglich, über diese Lesungen in einem Querschnitt zu referieren. Mehr als siebzig Autoren waren daran beteiligt (davon viele mehrmals), und welches Auswahlkriterium man auch nimmt, das Ergebnis bleibt nicht nur ungerecht, es führt den Leser auch stets in die Irre. Nicht nur die 3. Nordberliner Krimitage waren in das Programm integriert, auch das Theater ohne Namen e. V. (Prenzlauer Berg) beteiligte sich, besonders lebhaft ging es in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung und in der Anna-Seghers-Bibliothek zu, es ist dem Literarischen Colloquium sowie mehreren Schulen herzlich zu danken, ja, selbst in der Justizvollzugsanstalt Tegel, der Polizeihistorischen Sammlung oder dem Hotel Adlon gab es Veranstaltungen. Den Löwenanteil an den Lesungen jedoch (dreißig!) bestritt das KulturKaufhaus selbst. Eine enorme Leistung. Darunter befand sich auch die Präsentation einer neuen Berlin-Mord-Anthologie des Ullstein-Verlages mit dem Titel Der Bär schießt los. Das ist ein Buch, das sich an eine Anzahl ähnlicher Unternehmungen (z. B. Mörderisches Berlin - Simader-Verlag, Der Tod in Berlin - Das Neue Berlin oder an Pieke Biermanns herrliche Sammlung Berlin Kabbala - Transit-Verlag) erfolgreich anschließen möchte und dazu Berlin-Mord-Beiträge von 28 Autoren vereinigt.

Wer auf die Namen, die Konterfeis, die Biographien und Werkverzeichnisse der Syndikatsmitglieder neugierig war, konnte sogar gratis ein weiteres Ullstein-Büchlein mitnehmen, das außerdem noch das Gesamtprogramm der Criminale enthielt.

Wie man sich in der Wissenschaft inzwischen (fast) einig ist, sind die Grenzen zwischen aktueller Kriminalliteratur und übriger Literatur heute zumindest fließend. Bestimmte literarische Maßansprüche gelten generell. Der Referent will nicht verschweigen, daß ihn in dieser Beziehung mitunter die Sorge befiel, wir deutschen Krimiautoren müßten in manchem Fall „zulegen“, um diese Übereinkunft auch von unserer Seite aus zu beglaubigen und zu verifizieren. Doch wie bereits seit einigen Jahren blieb in Berlin kaum Zeit (und Kommunikationsraum) für Gespräche über die eigene Arbeit, und so etwas wie eine ständige qualitative Bestandsbestimmung will (und kann) ein Verein wie das Syndikat ja auch gar nicht leisten.

Auch in diesem Betracht war es besonders schön, daß der allseits verehrte Heinz Knobloch am Rande der Criminale Texte von Auburtin, Polgar und dem kürzlich verstorbenen Rudolf Hirsch las oder daß der berühmte Rechtsanwalt Heinrich Hannover - ebenfalls das Krimigenre kühn erweiternd - seine Memoiren vorstellte.

Verdienstvollerweise gehörte auch ein Memorial auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof zum Programm, am Grabe Heinz Werner Höbers, für den dort ein Stein enthüllt wurde (weitere Spenden an den Verein erbeten!) Der legendäre Hauptverfasser der zahlreichen Jerry-Cotton-Hefte hatte sich im Syndikat stets für ein literarisch (und ethisch!) sauberes Handwerk eingesetzt und genoß wegen seiner Lauterkeit und Hilfsbereitschaft hohes Ansehen unter seinen Kollegen.

Kollegen ... ja ... Für Insider ist die Criminale auch immer eine willkommende Gelegenheit zur Kommunikation unter Schreibenden. Man freut sich, einander wiederzusehen, von neuen Plänen, Erfolgen (auch Mißerfolgen) zu hören und sich selbst einmal wieder einem Sachverständigen mitteilen zu können. Denn ansonsten kämpft ja ein Autor einsam an seinem Schreibtisch. Diesem geselligen Effekt ist die Metropole weniger günstig als eine kleinere Stadt. Das könnte im nächsten Jahr, wo die Criminale im Kreis Daun in der Eifel stattfinden soll, wieder besser funktionieren.

Übrigens: Dem Leser soll nicht verschwiegen werden, daß für den deutschsprachigen Kriminalschriftsteller selbstverständlich keine Pflicht besteht, Mitglied des Syndikats zu sein, und nicht nur einige international recht bedeutende Autoren (wie z. B. Jakob Arjouni oder Pieke Biermann) sind es auch nicht. Zahlreichen Einzelkontakten steht das jedoch durchaus nicht im Wege ...

Die Veranstaltung, auf der in diesem Jahr der Glauser-Preis überreicht, der Ehren-Glauser verliehen sowie erstmals der von Dussmann gestiftete Kinder-Krimi-Preis „Emil“ vergeben wurde, ließ sich das KulturKaufhaus natürlich nicht entgehen. Den mit 10000 DM dotierten Glauser-Preis hat sich Robert Hültner mit seinem Roman Die Godin verdient (s. Rez. „Nacht über Bayern“ von Hartmut Mechtel, d. Red.). Der Ehren-Glauser für das Gesamtwerk und die Verdienste um den deutschsprachigen Kriminalroman ging an Michael Molsner (s. BLZ 1/98 d. Red.), und den mit 3000 DM dotierten „Emil“ erhielt Andreas Schlüter, „dessen spannende Geschichten vom Kurierdienst Rattenzahn - ganz im Geiste Kästners - Mut und Neugier propagieren“.

Die Syndikatler kamen am letzten Tag zu ihrer Haupt- oder Generalversammlung in der Professoren-Mensa der Humboldt-Universität zusammen. Es gab vereinsrechtliche Pflichtübungen, und unter lauter Fachleuten für das Kriminelle war z. B. ein exakter Kassenbericht ein eisernes Muß. Die Wahlen, die ja immer schon ein bißchen zur Kür hinneigen, bestimmten Horst Bosetzky alias -ky für ein weiteres Jahr zum 1. Sprecher und Thea Dorn zu seiner Stellvertreterin. Traditionell wurde auch der Federführer für die nächste Criminale (dieses Mal traf es Michael Preute alias Jacques Berndorf aus Dreis-Brück in der Eifel) dem engeren Sprecherkreis beigegeben. Das Mitteilungsblatt der Krimiautoren (das „Secret Service“ heißt) wird an Stelle des zurückgetretenen (und mit viel Beifall verabschiedeten) Jan Eik künftig von Reinhard Jahn redigiert, den Walter Wehner und Anneli v.Könemann unterstützen werden.

Die heitere Atmosphäre, in der die Wahlvorgänge abliefen, schlug in zornigen Ernst um, als die böswillig verhinderte Einreise des russischen Autorenkollegen Butow zur Sprache kam. Noch eindringlicher erhob sich der Protest gegen die Polizeiaktion, mit der ein Berliner Verlag heimgesucht wurde. Man hatte dort die Geschäftsräume und die Wohnungen von Mitarbeitern durchsucht und Unterlagen beschlagnahmt, um das Erscheinen der Memoiren zu verhindern, die der frühere BND-Obere Tiedge verfaßt hatte. Die aufwendige Aktion lief ab, obwohl in dem Buch - wie die zuständigen Anwälte versichern - von dem vorgeworfenen „Geheimnisverrat“ überhaupt keine Rede sein kann. Auch das Syndikat wird nachdrücklich gegen den Versuch auftreten, durch lang andauernde Rechtsquerelen den Verlag finanziell zum Verzicht auf ein mißliebiges Buch zu zwingen.

Am frühen Nachmittag - ein Novum in der Syndikat-Geschichte - tagten am gleichen Ort und im gleichen Rahmen noch die „Sisters in Crime“, die Kriminalautorinnen, die sich seit längerem in einer besonderen Gruppe zusammengeschlossen haben. Gemeinsam mit vielen Leserinnen und Lesern bringt der Berichterstatter (wenn er auch der Natur der Sache nach an der Zusammenkunft nicht teilnahm) solch einem Treffen viel Sympathie entgegen. Zumal wohl nicht zu leugnen ist, daß die weiblichen Krimiverfasser, in der Gesamtheit genommen, ihren männlichen Kollegen an Qualität und Durchschlagskraft der Bücher zur Zeit - vorsichtig ausgedrückt - zumindest ebenbürtig sind.

Traditionell schließt die Criminale mit einer großen Festivität ab, den „Tango Criminale“. Dieses Mal hatte man sich dazu aufs Wasser begeben, einen Spreedampfer gechartert - Pardon: ein Spree-Motorschiff. Bei Witzbolden hieß es unter der Hand, der in letzter Minute eingesprungene Sponsor (ein Verlag) sei zu dem Entschluß durch die TITANIC motiviert worden - und zwar durch den Riesenerfolg des Films. Falls nämlich das Schiff hier ebenfalls unterginge - Gott, welch eine medienübergreifende Schlagzeile: „Mehr als fünfzig deutsche KriminalschreiberInnen in der Spree ersoffen!“ Wie würde die das Geschäft beleben! Und als ich konsterniert etwas von „menschlichen Tragödien“ einwarf, grinste mein Gewährsmann nur spitzbübisch: „Aber der Umsatz! Die Nachauflagen!!“

Doch der Krimi-Kahn legte gegen Mitternacht wohlbehalten an der Station Berliner Dom an. Unter den Passagieren hatte es keine Ängste und keinerlei Panik gegeben. Die seien - sagte man - schon durch die seit Jahren bewährte Programm-Moderation von Jürgen Alberts hintangehalten worden.

Und die Eifel - im nächsten Jahr - ist zwar vulkanischen Ursprungs. Doch die Krater sind kalt. Mit einem autorenmordenden Ausbruch ist nicht zu rechnen. Also dürfen sowohl die Leser als auch die Frauen und Männer des Syndikats zwar mit Spannung, aber doch ohne Katastrophenfurcht der nächsten Criminale entgegensehen.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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