ZUKUNFTFÄHIGES BERLIN Unter diesem Titel wirkte 1998/99 eine Enquete-Kommission des Abgeordnetenhauses von Berlin (13. Wahlperiode). Sie hatte sich am 2.4.1998 konstituiert und nach fast 15monatiger Tätigkeit in 21 Sitzungen einen 538 Seiten langen Bericht "Zukunftsfähiges Berlin" erarbeitet. Nach Verabschiedung am 3.6.1999 übergab sie den Bericht am 1.7.1999 Parlamentspräsident Herwig Haase. Die 15köpfige Kommission setzte sich aus acht Mitgliedern der im Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Fraktionen der CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Grüne sowie sieben externen Sachverständigen, darunter Wissenschaftler(innen) der TU Berlin und der Universität Lüneburg, zusammen. Vorsitzender der Kommission war Peter Meyer (SPD). Der Bericht gilt als erste systematische Beschreibung einer Berliner Agenda 21 und ist damit ein bedeutendes Dokument für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft Berlins im kommenden Jahrhundert. Die Eckpunkte des Berichtes "Zukunftsfähiges Berlin" orientieren sich an dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung mit seinen Zielen ökologische Verträglichkeit, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Leistungsfähigkeit. Die Initiative zur Erstellung des Berichtes und seines Leitbildes waren von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) ausgegangen, die im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattgefunden hatte. Damals hatten sich 178 Regierungen - darunter die der Bundesrepublik Deutschland - mit der Agenda 21 auf der größten Regierungskonferenz in der Geschichte der Menschheit angesichts der düsteren globalen Bilanz von Umwelt und Entwicklung erstmals auf ein gemeinsames Leitbild und Handlungsprogramm für das 21. Jh. verständigt. Jenes Weltentwicklungsprogramm, das 115 Themenbereiche umfaßt, zielt darauf, auf nationaler und kommunaler Ebene für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu sorgen. Dabei wird seit 1987 unter nachhaltiger Entwicklung verstanden, daß die Bedürfnisse der heutigen Generation erfüllt werden sollen, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und einen eigenen Lebensstil zu wählen (ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/17). An alle Unterzeichnerstaaten erging damals der Auftrag, bis 2002 eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Strategie zu verabschieden. Zugleich forderte die Agenda 21 in Kapitel 28 ("Initiativen der Kommunen zur Unterstützung der Agenda 21") alle Städte und Gemeinden der Erde auf, sie mögen sich "gemeinsam mit ihren Bürgern einem Diskussionsprozess unterziehen und eine Einigung hinsichtlich einer 'Lokalen Agenda 21' für die Gemeinschaft erarbeiten". Trotz erster Agenda-Aktivitäten auf Berliner Bezirksebene verlief die Umsetzung der Rio-92-Verpflichtungen auf Stadtebene schleppend. Erneuten Auftrieb gab die Europäische Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden, die im Mai 1994 in Aalborg/Dänemark stattfand. In der "Charta von Aalborg" verpflichteten sich 80 europäische Kommunen, darunter Berlin, in ihren Orten bis Ende 1996 "einen Konsens über eine Lokale Agenda 21 zu suchen". Diese Initiative aufgreifend und fördernd, setzte das Abgeordnetenhaus von Berlin - nicht unumstritten - auf gemeinsamen Antrag der Fraktionen von PDS und Bündnis 90/Die Grünen vom 11.2.1998 in seiner Sitzung am 19.2.1998 eine Enquete-Kommission "Zukunftsfähiges Berlin" ein. Im Einsetzungsbeschluß wird die Kommission beauftragt, "parlamentarische Entscheidungen über Leitbilder, langfristige Planungen und Maßnahmen zur nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung Berlins sowie über die Schaffung dafür notwendiger Rahmenbedingungen (vorzubereiten). Damit verleiht sie dem Prozeß der Erarbeitung einer 'Lokalen Agenda 21 für Berlin' entscheidende Impulse." (Zit. nach ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/18). Die Enquete-Kommission erhielt den Auftrag, zwei Schwerpunkte zu erarbeiten, und zwar:
Zur
Erfüllung ihres Auftrages richtete die Kommission Arbeitsgruppen
ein, vergab Studien an externe Wissenschaftler und führte zahlreiche
Anhörungen und Fachgespräche durch. Das Kapitel "Analyse und Empfehlungen zu den Dimensionen der Nachhaltigkeit" bildet den Kern des Berichtes "Zukunftsfähiges Berlin". Es nimmt mit rund 250 Seiten allein die Hälfte des gesamten Berichtsumfangs ein. Stärkung der ökonomischen Tragfähigkeit, sozialer Ausgleich und Umweltvorsorge seien die drei Nachhaltigkeitsdimensionen, die es miteinander zu vereinen gelte. "Das Ziel einer nachhaltigen Wirtschaftsweise ist nicht nur die Produktion kommerziellen Wohlstands, sondern v.a. ein Optimum an Versorgung der Bevölkerung unter Erhaltung und Erneuerung des produktiven Potentials der natürlichen Umwelt." (ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/149) Den Zielen eines nachhaltigen Wirtschaftens werden der Ist-Zustand der Berliner Wirtschaft, ihre Potentiale und Rahmenbedingungen gegenüber gestellt, um daran strategische Konzepte in Verbindung mit den bereits vorliegenden Erfahrungen (zum Beispiel in Köpenick, Marzahn und Hellersdorf) zu knüpfen. Ausgehend von der kritischen Feststellung, daß in der Debatte um die nachhaltige Entwicklung "bisher die Dimension der sozialen Entwicklung vernachlässigt" wurde (ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/173), erhalten Überlegungen zur sozialen Stadtentwicklung entsprechenden Raum. Dazu werden die soziale Auslangslage und Ansätze zu Leitbildern und Leitlinien, Rahmenbedingungen und Handlungsfeldern skizziert sowie Gedanken zum Thema Erwerbslosigkeit und Zukunft der Arbeit in Berlin unterbreitet. Breiten Raum erhalten die Anliegen nachhaltiger Mobilitätsentwicklung, die Anforderungen an eine dauerhaft-nachhaltige Umwelt-, Verkehrs- und Wohnungspolitik mit ihren vielschichtigen Dimensionen und Zukunftsproblemen. Dies mündet in die Verbindung Berliner Aktivitäten einer nachhaltigen Stadtentwicklung in internationale Prozesse und Zusammenhänge ("Berlin in der Einen Welt"). Dabei macht die Enquete-Kommission bei der Beschreibung der Dimensionen der Nachhaltigkeit deutlich, daß Umweltverträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und sozialer Ausgleich zugleich auch eine "politisch-institutionelle Dimension" einschließen. Das Nachhaltigkeits-Konzept ziele auf tragfähige und dauerhafte politische Entscheidungen sowie auf eine effiziente und wirksame Administration ab. Dazu sei Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren, Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger sowie eine führende, den gesellschaftlichen Prozeß aktivierende Rolle des Staates notwendig. Alle Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit Berlins münden im Begriff der "Lokalen Agenda 21". Eine zusammenfassende Darstellung des Berliner Agenda-Prozesses betont vor allem die Situation und den Handlungsbedarf im Bereich Zukunftsfähiges Bauen und Wohnen. Angesichts "des Entwicklungsrückstandes und der vergleichsweise geringen Anziehungskraft Berlins" (ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/432), aber auch des hohen Modernisierungs- und Sanierungspotentials, komme diesem Bereich eine Schlüsselfunktion zu. Empfehlungen zur Bearbeitung weiterer Handlungsfelder für eine Enquete-Kommission in der nächsten Wahlperiode bekräftigen das Grundanliegen: Der in Gang gekommene Berliner Agenda-Prozess bedarf im Interesse der Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Metropole dringend der Fortsetzung und noch großer Anstrengungen. Trotz seines hohen Informations- und Erkenntniswertes blieb das politische Gewicht des wissenschaftlichen Werkes bislang begrenzt. Zum einen, weil die Kommission selbst "Zukünftige Entwicklung" sehr allgemein auf "eine regulative Idee, die in einem gerichteten Such- und Lernprozeß zu konkretisieren ist", reduziert (ZUKUNFTSFÄHIGES BERLIN 1999/317) und zum anderen, weil es zu dem Kommissions-Dokument weder eine parlamentarische Debatte noch einen förmlichen Beschluß des Senats mit dem Ziel einer gesamtstädtischen Initiative gab. So wichtig es ist, auch eine politisch-institutionelle Nachhaltigkeits-Dimension zu kreieren, die Verantwortung des Staates und Kooperation aller Akteure in Politik, Verwaltung und Gesellschaft anmahnt: Diese Forderung blieb bislang Appell und im Unverbindlichen verhaftet.
Quellen
und weiterführende Literatur: (c) Edition Luisenstadt (Internet-Fassung),
2004 |