Eine Rezension von Ulrich Blankenfeld


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Wünsche und Wirklichkeiten

Thomas Ahbe u. a.: Wir bleiben hier!
Erinnerungen an den Herbst ’89.
Chronik Uwe Schwabe.

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 237 S.

 

Scheiße! Wieder so ’n Foto. Ewigen ehemaligen Brüdern und Schwestern im Westen wird’s bestens ins Bild vom Osten passen. Die werktätige Frau, in der Kittelschürze, hält das Ein-Kilo-Kontingent Bananen schützend zwischen den Händen. Stopp sagt eine innere Stimme. Ein Buch, das mit so einer Aufnahme beginnt, sollte man boykottieren. Bananen waren nicht alles, um das sich alles in der DDR drehte. Oder sollte man sagen umdrehte? Besser noch: Umwendete! Wichtigeres, Gewichtigeres ist das Thema des Buches Wir bleiben hier!, das gesammelte „Erinnerungen an den Leipziger Herbst ’89“ und mehr veröffentlicht. Wessen Erinnerungen? Warum die an den „Leipziger Herbst ’89“? Weil der Leipziger Herbst dem Herbst ’89 in der DDR immer vier Wochen voraus war? Und wann, bitteschön, begann der Herbst? Für Uwe Schwabe, der für den Band die penibelste Auflistung der wesentlichsten Demonstrationen bis 17. März 1990 zusammenstellte, nahm die „friedliche Revolution“ am 6. August 1989 in Dresden ihren Anfang. 1 500 Teilnehmer einer Bittandacht protestierten gegen den Bau eines Reinstsiliziumwerkes. Für Leipzigs großen Regulator, den damaligen Gewandhauschef Kurt Masur, begann der Herbst am 10. Juli 1989. Ein Straßenmusikfestival in der Stadt wurde verboten, und es kam zu Verhaftungen. Oder fing der Herbst ’89 an, als ARD und ZDF regelmäßige Berichterstattungen von Botschaftsbesetzungen begannen? Die Dokumentaristen der Publikation halten sich an Masur, an die von ihm angeregten und geleiteten „Gewandhausgespräche“, die der Höhepunkt des Herbstes in Leipzig waren. Die Demonstrationen ausgenommen! Keine Dokumentation, sind die Gespräche ein wesentlicher Bestandteil des Buches sowie „Acht persönliche Bilanzen“, die im Frühjahr 1999 aufgezeichnet wurden. Eine unkaschierte Bilanz von Wünschen und Wirklichkeiten. Die Kraft der Texte liegt in den konkreten Aussagen. 1989 in den konkreten Wünschen. 1999 in der konkreten Wirklichkeit. Deutsche Geschichte pur. Geschichte, die vor allem denen den Wind aus den Segeln nahm, die 1989 riefen: „Wir bleiben hier!“ Jene Mehrheit in der DDR, die keine Ausreiseanträge stellen wollte, keine Bundesrepublik wollte und am 18. März 1990 der erfolgreichen „Allianz für Deutschland“ bei den Wahlen keine absolute Mehrheit sicherte. Jene Mehrheit, die seither belemmert dasteht? So bitter fallen die meisten Bilanzen nicht aus. Zeiten und Zeiten einander verglichen, ist die Wahrheit der Wirklichkeit, daß Menschen in der vermeintlichen Unfreiheit frei waren und Menschen in der vermeintlichen Freiheit unfrei. Herbst hin, Herbst her - Erinnerungen hin, Erinnerungen her! Niemand, Idealist oder Illusionist, hat im Herbst ’89 geglaubt, daß der Frühling des Humanismus ausbricht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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