Eine Rezension von Hans Wiesner


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Entwicklungsroman einer DDR-Generation

 

Helmut Schiller: Petting

verlag am park, Berlin 1999, 386 S.

 

Das Leben, auch das literarische, ist doch ungerecht. Alles spricht über die Sonnenallee von Thomas Brussig, kaum einer über Petting. Liegt es daran, daß manche den Titel mißverstehen, ihn unter Sachbuch, Abteilung sexuelle Aufklärung, fehleinordnen? Oder weil der Leipziger Autor (er debütierte zu DDR-Zeiten mit dem Roman Antonias Vater) noch weitgehend unbekannt und der Verlag vielleicht zu finanzschwach für aufwendige Werbung ist? Oder etwa weil das Buch äußerlich so bescheiden daherkommt? Auch im literarischen Geschäft kommt es heutzutage eben auf Name und Outfit an. Schade. Petting verdient eigentlich einen Platz auf der Bestsellerliste, zumindest der östlichen. Ist es doch ein höchst interessanter Roman, ein ebenso originelles wie poetisches Stück Prosa; ein sicher autobiographisch gefärbtes, einfühlsames Generationsbild; eine nachdenkliche und nachvollziehbare literarische Geschichtsaufarbeitung der DDR in den 50er und frühen 60er Jahren.

Im Mittelpunkt steht als Ich-Erzähler der Oberschüler Achim Ansberg, dessen Vater im Krieg verschollen, dessen Mutter Fabrikarbeiterin, dann Fürsorgerin, Parteischülerin und schließlich Kaderleiterin ist. Den Buchtitel bezieht der Autor auf die sexuellen (Vor-)Spiele des Jungen, die gelegentlich auch das beim Petting noch nicht Erlaubte einschließen; die körperlichen, emotionalen und geistigen Erlebnisse mit der schönen, zartfühlenden Uta, der zupackenden, rebellischen Roswitha, der Bäckerstochter „Pippi“, dem „Zementmädchen Donna“ und Rita, der eheenttäuschten Gattin des Kreissekretärs. Aber Petting als „alles ist erlaubt, nur das Entscheidende nicht“, will der Autor auch als Metapher für das gesellschaftliche Umfeld verstanden wissen. Zugespitzt läßt er es seinen jungen Helden gegen Ende des Romans aussprechen: „Alles Asche. Das Wichtigste unmöglich, das Entscheidende nicht erlaubt: Freiheit, Vertrauen. Alles vorbei. Alles nichts. Alles umsonst, alles vergeblich. Petting.“

Da hat Achim Ansberg schon vieles hinter sich, hat die Russen als lustige, gute Freunde erlebt und als Vergewaltiger, hat mit ansehen müssen, wie am 17. Juni 1953 eine aufgebrachte Volksmenge den Kreisrichter beinahe totschlägt, und war schockiert, als der Vater seiner Freundin von der Stasi verhaftet wird. Er hat die Diskussionen mit dem „konterrevolutionären“ Adelssproß Rolf von Körting bestanden und die Auseinandersetzungen mit dem treugläubigen, als Denunziant verdächtigten Klaus Kaczmarek. Auch die mit Schmeling, dem Funktionär und neuen Lebenssgefährten seiner Mutter. Er hat einen Anwerbungsversuch der „Organe“ heil überstanden und manch schlimme Praktiken bei der noch freiwilligen NVA. Er hat es nur ein paar Monate an der in seinen Augen superdogmatischen Journalistik-Fakultät ausgehalten, ist noch kurz vor dem Mauerbau in den Westen abgehauen (wie mancher seiner ehemaligen Klassenkameraden vorher), hat die Befragungsmethoden des Bundesnachrichtendienstes kennengelernt, eine abenteuerliche, herrlich phantasievoll geschilderte Reise durch Italien, Frankreich und die Schweiz unternommen - und ist schließlich mit Hilfe eines westdeutschen Zöllners in die DDR zurückgekehrt. Hier kann und will er nun kein Journalist mehr werden, sondern arbeitet in einer Kiesgrube, um unabhängig von ideologischen Zwängen zu sein und auch um sein „Betonmädchen“ wiederzufinden (die freilich inzwischen da ist, von wo er gerade zurückkam).

Das Ganze könnte man vielleicht einen modernen Entwicklungs- oder Bildungsroman nennen, eine Art „Grüner Heinrich“ von heute. Nur, daß es bei Helmut Schiller freizügiger, bunter und vor allem widersprüchlicher zugeht als bei Gottfried Keller. Mancher Leser wird vielleicht manche Sichten Schillers auf die DDR für übertrieben, zu sehr heutigem Zeitgeist der „Abrechnung“ und „Delegitimierung“ geschuldet empfinden. Auch mir geht zum Beispiel die Fast-Gleichsetzung von Wehrmacht und NVA, von NVA-Ausbildern und Lumumba-Mördern zu weit. Solche - in meinen Augen - Entgleisungen stehen im Widerspruch zum ansonsten stimmigen Bild der DDR. Zum ausgewogen gezeichneten Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen redlichem Bemühen und dogmatischer Dummheit; zwischen wohlmeinender Denk-Ermunterung und Chancen bietender Förderung auf der einen, geistig-politischen Schranken und Ausgesperrtsein von der großen weiten Welt auf der anderen Seite. Überraschend und für manchen vielleicht unbefriedigend der Unfall-Schluß mit der in den Bagger geratenen Schaufel. Er ist eben, wie das ganze Buch, eigenwillig und metapherreich. Und ganz anders als die lustig-frechen Bestseller-Bücher des Thomas Brussig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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