Eine Rezension von Ursula Reinhold
Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee
Volk und Welt, Berlin 1999, 156 S.
Mensch, was haben wir die Luft bewegt... ,Es wäre ewig so weitergegangen. Es war von vorn bis hinten zum Kotzen, aber wir haben uns prächtig amüsiert. Wir waren alle so klug, so belesen, so interessiert, aber unterm Strich wars idiotisch. Wir stürmten in die Zukunft, aber wir waren so was von gestern. Mein Gott waren wir komisch, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Die Zeilen läßt Brussig seinen jugendlichen Protagonisten aus der Rückschau auf Jugendjahre im Schatten der Mauer notieren, womit zugleich der burleske Ton angeschlagen wird, von dem diese Prosa geprägt ist. Nach der vielbeachteten Provokation des Romans Helden wie wir gibt es hier kaum provozierende Satire. Brussig erzählt Episoden von 16 bis 18jährigen Jugendlichen, von deren Träumen, Wünschen und Gefühlen. Das Besondere dieser jugendlichen Sehnsuchtswelt ist, daß sie sich im Schatten der Mauer entfaltet. Die pubertären Sehnsüchte nach dem ganz anderen verweisen zugleich auf die einschnürenden DDR-Realitäten in der Mitte der 80er. Das kürzere Ende der Sonnenallee mit dem Blick auf Todesstreifen und Mauer wird so zum paradigmatischen Ort für das System, für dessen zwanghafte Fixierung auf verdächtige Bewegungen, auf Reden, auf die Bürger überhaupt, deren Lebensaktivität hier auf Schritt und Tritt im Visier der staatlichen Ordnungshüter liegt. Das Humoristische des Erzählens wird aus der Konfrontation jugendlichen Übermuts mit den verhärteten Verhaltensweisen von Ordnungshütern und politischen Funktionären geboren, es ist ein sehr einfaches System, das den humoristischen Blickwinkel bestimmt. Dabei nutzt der Erzähler die generationsspezifische Sprache, zeigt die Reibungen der Alltagssprache an den politischen Losungsworten. Der Autor demonstriert heitere Überlegenheit der Unangepaßten gegenüber den einfältigen Vertretern der Macht. Die Vertreter der Obrigkeit fühlen sich durch jugendliche Attitüde herausgefordert, sehen in ihr Protest, reagieren prompt und plump mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, während die Jugendlichen mit List ausweichen oder in unangepaßte Lebensformen aussteigen. Die jugendlichen Helden unterscheiden sich von der Elterngeneration lediglich durch den noch weniger vorhandenen Opportunismus, der allerdings auch bei den Eltern eher eine leicht durchschaubare Fassade von Überlebensstrategie ist. Die Mutter des Protagonisten läßt schnell von ihren Karrierewünschen für Micha ab, als sie die Verrenkungen durchschaut, denen sie sich zu unterwerfen bereit war. Dieser Micha fungiert als Erzähler, er gehört zur Clique, die allabendlich auf dem ehemaligen Spielplatz rumhängt. Insofern gibt es hier keine Generationskonflikte, sondern nur graduelle Unterschiede im Blickwinkel auf die Realitäten des Grenzorts. Brussig betrachtet die eher harmlosen Herausforderungen seiner Helden mit nachsichtiger Distanz, stilisiert sie nicht zu Helden des Protests, sondern verweist auf die Absurdität eines Systems, dem jugendliche Sehnsüchte nach Freiheit, Bewegungsraum und starker Musik zu verdächtigen Handlungen werden. Dabei gerät das Generationsprofil, das der Autor hier entwirft, sehr einschichtig, so wie auch die Vertreter der älteren Generationen nur mit wiederkehrenden Versatzstücken gekennzeichnet sind. Dadurch kommt das einfache Schwarzweißschema zustande, das die Episoden dominiert. Die jugendlichen Figuren bleiben von holzschnittartigem Zuschnitt, die Existentialistin und der von ihr faszinierte Mario, die Schwester mit ihren jeweils aktuellen Liebhabern, der plattensammelnde Wuschel usw., die Schulschöne Mirijam, deren Liebesbrief der verliebte Micha aus dem Todesstreifen zu angeln versucht. Die Versuche, an den Brief zu kommen, und das Auf und Ab der Beziehung zu der offensichtlich Westberliner Motorradfahrer bevorzugenden Schönen, bildeten so etwas wie eine kompositorische Klammer für die verschiedenen Episoden. Auch das, was über die Elterngeneration mitgeteilt wird, bleibt im gewollt sterotypen Klischee haften, ebenso die Zeichnung des Westberliners Onkel Heinz, der aus panischer Angst vor den Grenzern sich auch das Erlaubte am Körper versteckt.
Brussigs burlesker Erzählton läßt keine Nostalgie aufkommen, weil auf die schnurrigen Jugenderlebnisse stets der Todesschatten der Mauer fällt. Er erzählt seine Geschichten gleichsam gegen manche verklärte Erinnerung. Wer wirklich bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen hingeben. Die menschliche Erinnerung ist ein viel zu wohliger Vorgang, um das Vergangene nur festzuhalten; sie ist das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt. Denn die Erinnerung kann mehr, viel mehr: Sie vollbringt beharrlich das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf und schneidend empfunden wurde. Gegen die Versuchung beschönigender Erinnerung und Nostalgie ist der humorvoll-burleske Ton des Erzählens gerichtet, der Versöhnliches nicht aufkommen läßt. Das Lachen behält eine sarkastische Grundierung, wozu die Lakonie der Mitteilung beiträgt.