Eine Rezension von Helmut Caspar
Weder wartungsarm noch formschön
Thomas Flemming/Hagen Koch: Die Berliner Mauer
Geschichte eines politischen Bauwerks.
be.bra verlag, Berlin 1999, 145 S., 120 Abb.
Die Erklärung von Staats- und Parteichef Erich Honecker Anfang 1989, die Mauer werde noch in fünfzig oder hundert Jahren stehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind, war einer der Nägel für den Sarg der DDR und führte zu verstärkten Anstrengungen vieler seiner Bewohner, den ungeliebten zweiten deutschen Staat, auf welchem Weg auch immer, zu verlassen. Tatsächlich dauerte es nur noch wenige Monate, bis der kilometerlange Riegel zwischen beiden Hälften Berlins, um die Stadt herum und entlang der deutsch-deutschen Grenze ohne einen Schuß und einen Blutstropfen verschwunden war. Die Dokumentation schildert, wie sich der antifaschistische Schutzwall in den 28 Jahren seiner Existenz von einem anfangs noch recht löchrigen Stacheldrahtverhau zu einer High-Tech-Grenze entwickelte, die dank ausgeklügelter Signal- und Selbstschußanlagen, Sperren, Minenfelder und anderer Konstruktionen, bewacht von unzähligen Grenzern, praktisch kein Durchkommen mehr erlaubte.
Obwohl die DDR wirtschaftlich am Ende war, wurden, wie Flemming und Koch schildern, auch in ihrer Schlußphase noch Unsummen zur Modernisierung der Anlagen ausgegeben bzw. eingeplant. Ziel war es, schon im Vorfeld Flüchtlinge abzufangen und so Schüsse auf diese zu vermeiden, denn nichts schadete so sehr dem Ansehen der DDR- und SED-Führung als Tote und Verwundete an der Mauer. Zu den Präventionsmaßnahmen gehörte auch der Aufbau eines Netzes von Spitzeln und Beobachtern, die verdächtige Bewegungen den Grenzern meldeten und somit Fluchtwillige der erbarmungslos urteilenden Justiz auslieferten. Daß solche Freiwilligen Helfer je im wiedervereinigten Deutschland verurteilt wurden, ist nicht bekannt, die Verfasser gehen lediglich auf einige Verfahren gegen Mauerschützen ein, die zum Verdruß der Opfer und ihrer Angehörigen meistens mit geringen Strafen davonkamen.
Der Historiker Thomas Flemming und der ehemalige Angehörige des Stasi-Wachregiments Feliks Dzierzynski und ab 1989 Beauftragte für den Abriß der Mauer, Hagen Koch, gehen in dem mit vielen unbekannten Dokumenten, Lageplänen und Schemata ausgestatteten Buch der Frage nach, welchen Stellenwert die generalstabsmäßig von dem damals weitgehend noch unbekannten SED-Politbüromitglied Erich Honecker geplante Errichtung der Mauer am 13. August 1961 für die Bestandssicherung des SED-Regimes hatte und wie der Sperrgürtel immer dichter wurde, was die Bundesregierung und die Westmächte taten, welcher Anstrengungen es bedurfte, Besuche von Westberlin aus zu ermöglichen, und vor allem, wie die Berliner und DDR-Bewohner reagierten. Einer von ihnen, der Schriftsteller Günther de Bruyn, faßt zusammen, was viele Eingeschlossene mit der Zeit angesichts der Mauer empfanden: Trotzdem mußte man mit ihr leben, konnte sich nicht über Jahre, Jahrzehnte, weil man den Schritt nach Westen nicht rechtzeitig getan hatte, einen entschlußlosen Dummkopf schelten ... und wenn man unter dem Straßenpflaster in Fünf-Minuten-Abständen die U-Bahnen von Westen nach Westen rasseln hörte, mußte man irgendwann einmal aufhören zu denken: Ach, wer doch da mitfahren könnte, nach Tegel oder Neukölln. Um eingesperrt überhaupt leben zu können, mußte man so zu leben versuchen, als gäbe es die Absperrung nicht. Nicht alle dachten so, viele riskierten ihr Leben und verloren es, weil sie den Zustand des Eingesperrtseins und der Ohnmacht gegenüber einem menschenverachtenden Regime, das zudem noch von seinen Untertanen Liebe abverlangte und ständig behauptete, es sei die bessere, menschenfreundlichere Ordnung, der die Zukunft gehört.
Dem Buch kommt zugute, daß Hagen Koch zeitweilig als Kartograph an der Fertigung von Lageplänen für die SED-Führung beteiligt war und über Intimkenntnisse wie kaum ein anderer verfügt, die er auch für das von ihm gegründete Mauerarchiv nutzt, dessen in der Wendezeit vor der Vernichtung bewahrten Materialien in die Dokumentation eingeflossen sind. Der Leser erfährt auf diesem Wege neue Einzelheiten über das erbarmungslose Grenzregime und die - nicht immer funktionierende - ideologische Beeinflussung der Bewacher, aber auch über Versuche der DDR-Führung, den martialischen Charakter der Grenzanlagen zu kaschieren. Wartungsarm und formschön sollten sie werden, in ihrem Umfeld müsse Ordnung und Sauberkeit herrschen, heißt es in geheimen Verschlußsachen, man wolle dem Gegner keine Handhabe zur Hetze geben. So bildet der Band auch eine Skizze ab, auf der vor dem Brandenburger Tor eine Sicherheitszone durch Errichtung eines zusätzlichen Schmuckzauns mit Rolltoren geschaffen werden sollte. Natürlich hätten Hecken und andere Verschönerungen am grundsätzlichen Charakter der Grenzanlagen als Bollwerk gegen das eigene Volk nichts geändert.
Der Band mit vielen Einzelheiten über die planmäßige und zudem auch sehr teure Aufrüstung der Mauer zeigt noch einmal die beklemmende Geschäftigkeit an den Übergangsstellen, die Labyrinthe am Bahnhof Friedrichstraße und die gefährliche Ruhe in den unterirdischen Geisterbahnhöfen auf Ostberliner Gebiet, durch die dank der verqueren Geographie Berlins Züge fuhren, um von einem Teil Westberlins in den anderen zu gelangen. Wenn Bildbände bisher immer nur den Blick vom Westen auf die von Graffitisprühern und Mauermalern bunt bemalte Betonwand gewährten, so zeigt das Buch anhand von Fotos aus Stasi- und Grenztruppenarchiven auch die umgekehrte Richtung. Es endet mit den immer lauter werdenden Forderungen auf Ostberliner Seite Ende der achtziger Jahre, die Mauer auch für Normalbürger durchlässiger zu machen und mehr Reisegenehmigungen auszustellen, um dann die Vorgänge am 9. November 1989 nach Günter Schabowskis folgeschwerem Versprecher aufzulisten, ab sofort könne die ständige Ausreise über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen. Ist die Mauer zehn Jahre nach ihrem Ende aus den Augen, aus dem Sinn, fragen die Autoren abschließend. Das wäre fatal. Dazu war sie zu bedrängend in ihrer absurden Monstrosität. Dazu hat sie zu viele Wunden geschlagen. Auch wenn die Mauer fast vollkommen verschwunden ist, bleibe sie präsent in den Biographien.