Eine Rezension von Friedrich Schimmel
André Müller: ... über die Fragen hinaus
Gespräche mit Schriftstellern.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 298 S.
André Müller, nicht verwandt mit Heiner Müller, dessen Kopf mit Zigarre hier auf dem Einband gedruckt wurde, André Müller, 1946 geboren und seit 1950 in Wien lebend, gilt allgemein als Deutschlands prominentester Interviewer. Er hat selbst Autoren zum Reden gebracht, die als sehr gesprächsscheu, gar als nicht gesprächsbereit galten. Wer gute Fragen stellt, muß sich auskennen im Werk desjenigen, den er befragt. Das mag eine herkömmliche Auffassung von einem Interviewer sein, denn André Müller fragt weniger nach dem Werk und seinen inhaltlichen Bedeutungen, sondern er setzt seine Fragen am Lebensnerv der Autoren an. Germanisten würden einen Erzähler nach Stoff und Thema fragen, André Müller fragt nach dem Ursächlichen, das alle Menschen kennen, dem Schriftsteller aber zur Tätigkeit geworden ist. Also: Es geht um Tod und Leben, Macht und Ohnmacht. Um die Kraft, die nach einem depressiven Schub kommt, um Zustände in Gesellschaft und Welt. Kurzum: Hier wird nicht nur gefragt, manchmal, wenn der Befragte es zuläßt, wird auch kräftig gewettert, eine Frage spontan aus einer Situation geboren, wird provoziert und auch, wenn gar nichts mehr geht, geblödelt. André Müllers Fragen kommen oft ganz unvermittelt. Die Österreicherin Elfriede Jelinek fragt er zuerst nach ihrem einst spektakulären Buch Lust, doch bald schon scheint ein Tiefpunkt in diesem Gespräch erreicht zu sein. Elfriede Jelinek hat Zweifel am Schreiben: Ob es im Schreiben weitergeht, weiß ich sowieso nie. Wenn man nicht lebt und nichts erlebt, gehen einem die Themen aus. Darauf antwortet André Müller: Aber Sie leben doch. Und gleich denkt der Leser, es geht hier wohl nicht mehr lange so weiter. Gespräche können ja etwas Zerstörerisches haben. Hier ist es die schockierende Selbstaussage, die einmal für Furore gesorgt hat. Doch über alle Tiefen und Schrammen des Ichs führt das Gespräch plötzlich zu einer ganz überraschenden Wendung. André Müller bemerkt, daß Elfriede Jelinek seit 1974 der KPÖ angehört, und er will von ihr wissen, warum die Ereignisse in Osteuropa an Ihrer politischen Überzeugung nichts ändern werden. Sie weiß, daß alles futsch ist, sich nichts verändert hat, und dennoch, wohl wissend, daß der Mensch schlecht ist, nennt sie es ihr Evangelium: Daß man ihn zügeln muß, weil er sich sonst wie die letzte Ratte verhalten würde.
Der Dramatiker Franz Xaver Kroetz berichtet von der lähmenden Qual des Schreibprozesses. Und in diesem 1984 geführten Gespräch äußerte Kroetz auf Müllers Frage: Auf welcher Seite würden Sie im Falle eines europäischen Krieges kämpfen?, Würde die DDR angegriffen, würde ich sie verteidigen, weil ich sie für notwendig halte, da bin ich mit Heiner Müller und anderen Schriftstellern einig. Das muß nicht kommentiert werden, jeder weiß ja, daß Kroetz gar keine Gelegenheit für seinen kämpferischen Mut bekam. Denn die Geschichte verläuft oft anders als gedacht, als vorausgedacht.
Das sieht man auch im Gespräch mit Heiner Müller, hier der einzige Autor aus dem alten Osten. Angst vor Frauen? geht eine der ersten und noch abtastenden Fragen von Müller zu Müller. Die Antwort darauf ist dialektisch präzis, zugleich führt sie weiter: Die habe ich eigentlich nicht, auch nicht das Bedürfnis, eine Frau zu beherrschen. Angst wird abgearbeitet, indem man sie träumt. Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen. Damit das erreicht werden kann, so Heiner Müller, läuft in ihm ein Motor, der braucht manchmal Auslauf. Das ist alles. Weshalb es so ist, frage ich nicht. Da bin ich mit Goethe einig, der formuliert hat, Gott möge ihn davor bewahren, sich selbst zu erkennen. Eher befördert ihn die Lust an der Katastrophe: Das ist mein wichtigster Antrieb, vermeldet Heiner Müller.
Und was sagen in zumeist langen Gesprächen die anderen Autoren? Thomas Bernhard, Peter Handke, Ernst Jünger oder Friedrich Dürrenmatt? Der Schweizer Dramatiker Dürrenmatt meinte Ende 1980: Ich glaube, die größte Erkenntnis des Christentums ist die, daß Gott der Mensch ist. Und der Schriftsteller ist für Dürrenmatt eine Verwandlungsmaschine, die sich anreichert und abstrahlt.
Ging es in den beiden ersten Gesprächen mit Elfriede Jelinek und mit Franz Xaver Kroetz oft sehr persönlich-intim zu, wird der Stil des Gesprächs mit Dürrenmatt und vor allem mit Elias Canetti nüchterner, dennoch aber genauer, präziser in Frage und Antwort. Elias Canetti, danach gefragt, wo er den Stoff seiner Dichtung, seine Erfahrung hernehme, antwortet lapidar, von Menschen, die sind doch meine größte Leidenschaft. Canetti eröffnet sich auch als Schauspieler, er übernimmt Rollen, nicht nur bei der Lektüre von Theaterstücken, auch wenn er die Figuren seiner Erfindung entwickelt.
Thomas Bernhard, der große Kritiker an Österreich, versuchte, die Wut und Verzweiflung, die ihn besetzte, gar nicht vollends von sich zu werfen. Denn es war ihm nicht möglich. Wahrscheinlich, folgerte Thomas Bernhard, gibt es gar keine wirkliche Trennung. In jedem sind ja alle Menschen vorhanden, mit denen er einmal zusammen war in seinem Leben. Als Resultat all dieser Menschen sitzen wir da.
Dieses Buch führt auf jeder Seite über die Fragen hinaus, die der aufgeweckte André Müller gestellt hat. Ein Lesebuch für Leute, die mehr über ihre Autoren wissen wollen.