Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Totentanz einer abgelebten Gesellschaft

 

Rudolf Lorenzen: Cake Walk oder eine katalanische Reise in die Anarchie
Roman.

Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 592 S.

 

In der letzten Juli-Woche des Jahres 1909 überfiel Katalanien ein Schrecknis, das man die „semana tragica“ nannte, die „Blutige Woche von Barcelona“. An einem Sonntag setzen sich Landarbeiterinnen auf Eisenbahngleise, um zu verhindern, daß ihre Männer, Freunde und Liebhaber in den dreckigen heiligen Krieg Spaniens gerollt werden. (Schon warten Schiffe an der Mole, um die Soldaten nach Marokko zu bringen, wo sie den Kabylen Erzgruben für die Jesuiten abjagen sollen.) Am nächsten Tag treten Arbeiter und Handwerker in den Streik, Deserteure und Meuterer plündern ein paar Geschäfte, schänden einige Nonnen, köpfen einige Starrsinnige von der Guarda civil. Empörung will Raum. Lang angestaute Unzufriedenheit mit dem ärmlichen, freudlosen Leben der kleinen Leute und mit Reichtum und Willkür, Verschwendungs- und Vergnügungssucht von Adel, Bourgeoisie, Generalität und Geistlichkeit bricht sich Bahn.

Aber der Aufstand ist unbeholfen, spontan, ziellos. Es fehlt an Führung, Programm, Organisation. Man feiert - ganz schüchtern noch - die neue Freiheit am Mittwoch, da geht am Donnerstag die Obrigkeit mit Armee und Polizei zum Gegenangriff über. Die Revolte sinkt schnell in sich zusammen. Am Freitag und Sonnabend tagt auf der Festung das Standgericht. Auch kleinste Ordnungswidrigkeiten werden fürchterlich geahndet. Die rohen Folterknechte haben viel zu tun. Die Pelotons arbeiten von früh bis spät. Die Holzkästen mit den Gerichteten stapeln sich zu Bergen.

Während unter dem Volk ein Blutbad angerichtet wird, kommen am Sonntag, es ist der 2.August, die höheren Kreise auf dem Landgut von Lágrima zu einem Kindergeburtstag zusammen (Chico, die Tochter des Marques, wird gerade so alt wie ihr Jahrhundert), auch eine Infantin von Spanien ist angereist. Zu den Geschenken gehört „Golliwoog’s Cake Walk“ von Claude Debussy. Aber das Kinderstück auf Schallplatte wird unversehens zum Danse macabre einer abgelebten, nutzlosen Gesellschaft in einem zerbröckelnden Reich, zum makabren Totentanz einer Gesellschaft, die sich als haltlos und leer erweist und bar jeder Werte. Noch verfügt sie über die Waffen und die Gewalt, aber keine Idee und weder Ethik noch Moral halten sie zusammen. Und der Erste Weltkrieg wirft bereits seine Schatten voraus.

Cake Walk ist ein beeindruckendes Buch, stark in der Idee, überzeugend im poetisch-literarischen Ausdruck. Man spürt förmlich die flirrende Hitze über einer kargen, ausgetrockneten Landschaft, und der Zynismus und die Brutalität der Macht, Gehässigkeit, Hohn und Zerfall werden unmittelbar empfindbares Ereignis. Der Reiz besteht aber vor allem darin, daß sich ein Report der tragischen Ereignisse nur am Rande ergibt, daß vorrangig eigentlich Biographien erzählt werden - lakonisch und spitz meist, oft mit intellektuellem Humor oder bissigem Spott, nie gefühlig eindringend oder naturalistisch.

Der Autor hat nämlich rund vierzig Personen aus allen Kreisen herausgegriffen. Da sind zum einen die Landarbeiterin und der Kellner, der Inspektor und die Nonne, der Postvorsteher und die Magd, der Kriegskrüppel und die Hure, der Maler und der Fotograf, der Hotelboy und der Schaffner. Auf der anderen Seite stehen eine verlebte Infantin aus dem Hause Bourbon und ihr 21 Jahre jüngerer Liebhaber, der Leutnant Bonifaco, dann der Militärgouverneur und seine Frau Morocha, eine Mulattin aus der Karibik, der Festungskommandant mit seinen beiden albernen Töchtern, ein Marqués mit seiner russischen Frau und seiner ehemaligen Mätresse, ein ewiger Anarchist, der unter wechselnden Namen auftritt, ein vollgefressener Kaplan, ein alter Textilfabrikant und Reeder mit seiner jungen Geliebten, einem blonden Revuegirl aus Kopenhagen, eine amerikanische Globetrotterin, ein Advokat, der noch nie hatte ein Todesurteil abmildern können, ein vertrottelter Gefängnisarzt, ein deutscher Baron als Handelsvertreter u. a.

Rudolf Lorenzen (1922 in Lübeck geboren, Schiffsmakler, Grafiker und Werbeberater, seit 1955 Journalist und Schriftsteller: Drehbücher, Hörspiele, Erzählungen, Romane) beschreibt das Tun und Lassen dieser Figuren an den sieben Tagen der tragischen Woche, er verknüpft ihre Wege und Schicksale immer wieder miteinander. Von einem Auftritt zum anderen werden sie entblättert wie eine Zwiebel, bis sich der Kern enthüllt. Dabei eröffnet der Autor sowohl Blicke auf die bisherige Biographie als auch auf das künftige Schicksal (sofern es für die Figur eine Zukunft gibt). So weitet sich das Bild von einer hellsichtigen poetischen Analyse dieses katalanischen Thermidors zu einem Panorama spanischen Lebens, das viele Jahrzehnte umfaßt, und darüber hinaus vermittelt der Autor vermöge seiner metapherreichen Erzählweise ein Bild unseres Jahrhunderts, in dem bereits das Ende aufscheint.

Der Roman, in dem verbürgte historische Ereignisse mit fiktiven Personen zusammengefügt werden, ist nach einem Hörspiel Lorenzens entstanden, das, 1988 in erlesener Besetzung produziert, inzwischen siebenmal gesendet worden ist. Auf 600 Seiten konnte die Handlung - dort auf die Geburtstagsfeier konzentriert - natürlich viel breiter angelegt werden. Die Biographien werden nun reicher und umfänglicher, der Hintergrund von Krieg, Gewalt und Irrsinn, Lebensangst und Todeslust, Idealismus und Fanatismus, Anarchie und Ordnung wird nun plastischer. Auf atemlose Spannung wird natürlich nicht gezielt. Dafür kann man sich an bildhaften Beschreibungen, an sprachlichen Schönheiten und am intellektuellen Gehalt delektieren. Das Gedankenfeuerwerk ist in jedem Fall beachtlich, zudem ist der Autor ein hochbegabter Erzähler, der oft mit wenigen Worten schafft, wofür andere ganze Absätze benötigen. Trotzdem oder gerade deshalb: Auf einige unnötige Abschweifungen, barocke Ausbuchtungen und übertriebene Geschwätzigkeiten zu verzichten wäre von Nutzen gewesen. Das betrifft zum Beispiel das gesamte Schlußkapitel. Irgendwann ist eine Geschichte wirklich bis zu Ende erzählt. Ein Epilog mit völlig neuem Personal ist nur in Ausnahmefällen von Nöten. Ich kann einen solchen hier nicht erkennen. Lorenzen hat den Leser in seinem Roman zum Zeugen des Zusammenbruchs eines Jahrhunderts gemacht, ein Epilog hätte nur Sinn gehabt, wenn er den Beginn einer neuen Epoche anzudeuten verstünde. Das aber hat sich der Autor, wie mir scheint, versagt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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