Eine Rezension von Volker Strebel


Der Schnurrbart war nur eine angeklebte Bisamratte

Jirí Kratochvil: Inmitten der Nacht Gesang

Roman.
Aus dem Tschechischen von Susanna Roth und Kathrin Liedtke.

Rowohlt.Berlin Verlag, Berlin 1996, 267 S.

 

Gut, daß der Rowohlt Verlag den Mut hatte, ein weiteres Buch der aktuellen tschechischen Literaturszene in deutscher Übersetzung herauszubringen. Mit Romanen von Jirí Weil und Zuzana Brabcová war das interessierte Publikum bereits bekannt gemacht worden. Jirí Kratochvils Roman Inmitten der Nacht Gesang erschien 1992 bei Atlantis in Brünn unter dem Titel Uprostred nocí zpev. Bereits ein Jahr später hatte dieser Roman den renommierten Preis der tschechischen Buchhändler erhalten.

Auffällig ist die dichte Sprache, in welcher diese abenteuerliche Wegbeschreibung gestaltet wurde. Der vorgegebene Rahmen beginnt mit der gewaltsamen Zeugung eines der beiden erzählenden Helden, endet aber nicht mit dessen Tod. Bekanntlich ist die Phantasie unsterblich! Das erinnernde Berichten des zweiten Erzählers, Peter Simonides, nimmt seinen Anfang ebenfalls in der Zeit des Kriegsendes. Konkrete Erinnerungen an einen leibhaftigen Vater füllen seine frühe Kindheit, die Dinge und nicht zuletzt er selbst haben einen Namen. Der Aufbruch zur Suchbewegung wurde bei Peter Simonides durch ein späteres Ereignis provoziert: Der Vater, ein ehemaliger Partisan, gerät in der jungen Volksrepublik immer mehr in eine nicht genauer bezeichnete Pression. Freunde wurden über Nacht verhaftet. Der in die hinterste Provinz verdrängte Vater, ein Lehrer, verschwindet eines Tages. Er hat Frau, Kinder und sein Land verlassen.

Peter Simonides’ lebenslange Suche nach dem Vater verbindet ihn mit dem ersten Helden, dessen Vater einer Horde marodierender Soldaten angehört hatte, die in den letzten Kriegstagen ein sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigten. Der daraus hervorgegangene Sohn ist überzeugt, daß womöglich ein südländischer Zauberer in weiser Vorausahnung dieses Schicksal arrangiert hat und fortwährend beredte Zeichen inszeniert, die nur erkannt und gedeutet werden müssen. Eine nüchterne Erklärung für das sich fortsetzende bilderreiche Spektakel, als welches sich dem Sohn das Leben darstellt. Von Kindheit an sieht er über sich hinaus, blickt durch die Augen von Flöhen aus dem Zirkus und hebelt unablässig an seinem Schicksal. Die Phantasie ist Patin der Wirklichkeit und deren einziger Zeuge. Eine sich durch den Roman ziehende Zweigleisigkeit ist die Folge. In der Tat treten Schauplätze auf, die in der historischen Chronologie ebenfalls verzeichnet sind: Kriegsende in Europa, die Ausrufung der sozialistischen Volksrepublik und die trüben 50er Jahre, der Prager Frühling von 1968 und die sich anschließende Normalisierung. Doch diese Ereignisse stellen lediglich ein dürres Skelett dar, wenn man die Erlebnisdichte der Helden bedenkt. Oft entscheiden „bewährte Tricks“, und sei es, daß der Held persönlich durch das Schlüsselloch die Luft absaugen muß, um den Schläfer im Zimmer zu wecken. Klar, daß dieser dem Ersticken nahe ist mit seinen „hervorquellenden Riesenaugen und einem prächtigen Schnurrbart unter der Nase, der aussah wie eine angeklebte verreckte Bisamratte“. Es finden sich skurrile Figuren und wunderliche Situationen zuhauf in diesem in Prosa aufgefächerten Märchenwald. Adolf Hitler zum Beispiel wird in des Kindes Augen mit deutschen Eßgewohnheiten in Zusammenhang gebracht: ein „Chefkoch und Pfannenschlecker, der Großmeister aller Kartoffeln mit Ei“.

Phantastische Überhöhung und grauer Alltag bilden eine Wirklichkeit ab, welcher sich der Autor Jirí Kratochvil selbst zu stellen hatte. Als promovierter Slawist wurde er 1970 aus dem Schuldienst entlassen und rettete sich als Hilfsarbeiter und Nachtwächter über die Jahre. Er publizierte ausschließlich im Samisdat. Kratochvils 1986 erschienener Bärenroman wurde von Autoren wie Jirí Gruša und Antonín Brousek als zu dem „Allerbesten, was die inoffizielle Literatur hervorgebracht hat“, gezählt.

Inmitten der Nacht Gesang - kein schlechtes Motto für diesen neuen Roman.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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