Eine Rezension von Bertram G. Bock


Jugend gestern und heute

Jan Jepsen: Heimspiel
Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 1999, 317 S.

Benjamin Lebert: Crazy
Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 175 S.

 

Es mag vielleicht nicht ganz fair sein, diese beiden Romane miteinander vergleichend zu betrachten, denn die Unterschiede, die sich durch die Autoren und die Macharten beider Werke ergeben, sind groß. Und doch haben beide eins gemeinsam: Sie versuchen jugendliche Lebenswirklichkeiten zu beschreiben, darzustellen und eventuell nachvollziehbar zu machen. Liegt die Zeit der Jugend bei Jepsen schon einige Jahre zurück, ist der Autor Lebert dagegen selbst noch mittendrin. Als der jüngste Autor in der bisherigen Verlagsgeschichte von Kiepenheuer & Witsch mit seinem Lektor das erste Telefongespräch führte, soll er gebeten haben: „Bitte duzen Sie mich, ich bin erst fünfzehn.“ Benjamin Lebert, 1982 in Freiburg i. Brsg. geboren, mit acht Jahren nach München gekommen, hat bisher gelegentlich Texte für das Jugendmagazin der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben und legt mit Crazy seinen ersten Roman vor, der, was die Verkaufszahlen betrifft, rekordverdächtig ist. Der Verlag startete die erste Auflage mit 30 000 Exemplaren, knapp ein halbes Jahr später hat der Roman schon die 6. Auflage.

Jan Jepsen dagegen kann von dieser Auflagenzahl wohl nur träumen. Nach seinem Romandebüt Wie die Wilden (1994) ist Heimspiel sein zweiter Roman. Jepsen, 1962 in Hamburg geboren, unternahm nach ein paar Semester Studium eine weite Reise und schreibt seit 1988 Kurzgeschichten, Foto- und Reiseberichte für verschiedene Zeitschriften.

Lebert hat seinen (autobiographischen) Roman in einem Internat angesiedelt. Er ist wegen einer Gehbehinderung gehandicapt und - so kann man es dem Buch entnehmen - in Mathematik absolut kein As. Grund, um immer wieder mal die Schule, das heißt auch das Internat zu wechseln. Und so beginnt Crazy mit der Ankunft des jugendlichen Protagonisten in dem Internat Neuseelen: Die Begrüßung durch den Direktor, die sorgenvolle Mutter, die auf die Lähmung aufmerksam macht, die Führung durch das Internat, die Belegung des Zimmers, die erste Mahlzeit, die ersten Kontakte zu Mitschülern ... Aus der Beschreibung von alledem, aus den (wenigen) Gefühlsdarstellungen spricht einerseits der Empfindsame, der Sensible, der aus der gewohnten Umgebung herausgerissen wird und sich nun scheu der neuen Situation stellt, andererseits der Pubertierende, der trotzig und mit aufgesetzten Macho-Allüren Stärke vorgibt, die zwar nicht vorhanden ist, aber beeindruckt. „Hallo Leute. Ich heiße Benjamin Lebert, bin sechzehn Jahre alt, und ich bin ein Krüppel.“ So stellt er sich der Klasse vor, schiebt aber gleich hinterher: „Ich dachte, es wäre von beiderseitigem Interesse“, denn wenn auch kein Mitleid erwünscht ist, so doch etwas Rücksicht bzw. Vorsicht.

Bald hat sich der 16jährige mit ein paar Gleichaltrigen angefreundet, er ist gleichberechtigt in der Clique, und als es dann nachts zu den Mädchen in das Nachbargebäude über die Dächer geht, da wird er ganz selbstverständlich auch schon einmal von einem anderen getragen. Die Behinderung bleibt präsent, ist aber nie wirkliches Thema. Ein selbstverständlicher Umgang des Betroffenen wie der Umwelt mit dem Problem - vielleicht nicht nur Wunsch, sondern auch ein Stück Realität. Bei den Mädchen dann, was kommen mußte über kurz oder lang: Zigaretten, Bier und der erste Sex. Aber es bleibt unspektakulär. Es ist, als hätte Lebert immer eine gewisse Distanz zu sich, zu dem Geschehen. Nichts wird romantisiert, nichts übertrieben - man bleibt einfach cool. Wenn Gefühle, dann gibt es Ausrutscher in das Pseudomachohafte, wie mit dem Satz, der auch auf der Umschlagrückseite und in fast jeder Besprechung (also auch hier) zitiert wird: „Das war alles ein wenig viel für mich heute. Anstatt zu schlafen, eine Feuerleiter hinaufzuklettern, zu saufen, was das Zeug hält, mal eben ein bißchen zu vögeln und nebenbei erwachsen zu werden. Das reicht für eine Nacht. Da würde jeder kotzen, glaube ich.“ So schön, so gut dieser Satz auch ist, er ist Ausnahme und also nicht prägend. Der erste Sex, eines der beiden Hauptthemen, bewirkt beim Protagonisten kein übergroßes Glücksgefühl, kein Ich-bin-nun-ein-Mann-Gehabe, sondern vielmehr nachdenkliches Reflektieren, was das alles bedeuten könnte (!), wobei der Satz: „Der liebe Gott soll ein Einsehen mit mir haben. Tun wir einfach so, als wäre nichts geschehen“, die eigentliche Seelenlage freigibt.

Wenn dann in der zweiten Hälfte des Buches der „Ausbruch“ als zweites Thema den Handlungsfaden bestimmt, kristallisiert sich noch viel deutlicher als im ersten Teil die permanente Sinnfrage heraus. Statt Beschreibungen und eine sensible Sicht auf Dinge und Gefühle dominieren nun Fragen und Diskussionen. Ein „Warum“, ein „Wieso“ stehen immer am Anfang, doch die Fragen bleiben letztlich offen, Antworten gibt es nicht. Die Typen, mit denen der Protagonist zu tun hat, sind zu unterschiedlich, als daß eine gleichberechtigte Diskussion aufkommen könnte.

Der Ausbruch der Jugendlichen gelingt im Grunde nur mit Hilfe eines Fremden, der sie während der ganzen Zeit begleitet, sie ihre Freiheit genießen läßt, aber doch seine Hand über sie hält. Er bringt sie auch zurück ins Internat - ein gefahrenloser Ausflug, vor allem einer ohne Konsequenzen.

Härter, brutaler und offener dagegen Jepsen. Im ersten Satz des in 40 Kapitel aufgeteilten Romans schon das zentrale Thema und auch die Art und Weise, wie er beabsichtigt, damit umzugehen: „An dem Tag, als mein Vater starb, war auch sonst eine Menge los.“ Abgesehen davon, daß auch bei Lebert der (geliebte) Vater abwesend ist, was aber für den Handlungsverlauf keine Rolle spielt, ist der Vater bei Jepsen unaufdringlich primäres Thema. Egal, um was es in den Kapiteln auch immer geht - Geldsorgen, Schule, Ferien, Diebstahl, erste Liebe und anderes mehr - der Vater ist immer gegenwärtig, ist immer Instanz, die bekämpft, erobert oder überwunden werden muß. Das gelingt dem Autor aber mit einer angenehm schnodderigen Leichtigkeit, die diesen Roman auch prägt. Jepsen schafft es nahezu beschwingt, den Zwiespalt zwischen Verletzlichkeit, der Sehnsucht nach der Liebe und Wärme des Vaters und pubertärem Trotz auszugleichen, betont mal die eine Seite mehr, mal die andere. Die Stärken und Schwächen des Jugendlichen Marten, der sehr offensichtlich das Alter ego Jan Jepsens ist, sind hier, im Gegensatz zu Lebert, viel deutlicher, genauer und treffender dargelegt. Das liegt sicherlich an der um einiges erweiterten „Welt“ bei Jepsen, und das liegt auch an seinem Mut, das Leben anzugehen. Und Jepsen hat noch einen weiteren Pluspunkt zu verbuchen, der den Roman allemal lesenswert macht. Er konfrontiert in vielfältiger Hinsicht mit schmerzhafter Ehrlichkeit bis hin zur Härte, während sich das Geschehen in Crazy in einem geschützten Raum abspielt, der fast wie eine andere Welt wirkt. Auch wenn Benjamin mit seinen Leuten ausbricht, die Kneipe in München ist ebenfalls ein geschützter, ein privater Ort, zu dem die Gefahren der Welt keinen Einlaß haben. In Heimspiel hingegen ist die Welt mit ihren Ungerechtigkeiten, Härten und Zufällen stets präsent, hier tobt der „Kampf“ um einen Platz. Auch wenn Marten ihn noch nicht in Besitz genommen hat, er stellt sich der Auseinandersetzung und geht die Dinge offensiv an. Hier setzt sich jemand mit Gegebenem auseinander, auch wenn es unangenehm ist. Zwar ermöglichen die Rauschzustände immer mal wieder einen kurzen Urlaub davon, doch von der Flucht geht es zurück zum Angriff.

Ob man verallgemeinern darf, daß sich die Jugend in den letzten 20 Jahren so verändert hat, steht in Frage.

Benjamin muß am Ende des Schuljahres das Internat, damit auch seine Freunde, verlassen. Er hat die schulischen Leistungen mal wieder nicht erbracht. Wieder geht er, wieder wird er neu beginnen müssen. Ist ihm überhaupt möglich, sich dem „Leben“ zu stellen? Jepsens Romanende nimmt den Anfang wieder auf. Der letzte Besuch bei dem krebskranken Vater kann nur sarkastisch von ihm kommentiert werden. Aber aus diesem Kommentar liest man Trotz heraus, findet man schlechtes Gewissen und eine Art Versprechen: „Dann ging ich. Und ließ ihn allein seine erste und letzte große Reise antreten. Im Sarg statt im Wohnmobil. Zwei Meter zwanzig tief. Und kein Stück nach Süden.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite