Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Es geht nicht ohne Fontane

Wolfgang Hädecke: Theodor Fontane
Biographie.
Carl Hanser, München 1998, 446 S.

Hanjo Kesting: Theodor Fontane
Bürgerlichkeit und Lebensmusik.
Wallstein Verlag, Göttinger Sudelblätter, Göttingen 1998, 63 S.

 

Auch wenn schon viel, sehr viel und zeitweilig auch zu viel über Fontane gesprochen und geschrieben worden ist, er wird immer wieder Leser, neue und alte, erfahrene und neugierige finden. In dem Gedicht „An meinem Fünfundsiebzigsten“ beklagte sich Fontane, daß ihm all jene, die er in seinen Romanen und in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg so ausgiebig hervorgehoben hatte, die Vertreter des märkischen Adels, an diesem Tag nicht gratulierten. Aber er resignierte nicht, geehrt haben ihn an jenem Tag vielmehr „Abram, Isack, Israel...“, also die Juden in Preußen, und für die alle und auch die andern galt ihm: „Jedem bin ich was gewesen, / Alle haben sie mich gelesen, / Alle kannten mich lange schon, / Und das ist die Hauptsache...“

Jeder Leser ist ein anderer Leser. Auch Interpreten unterscheiden sich in der Regel voneinander. Fontanes widerspruchsreiche Persönlichkeit ist in vielen Biographien längst dargestellt worden. Kaum ein Winkel in Leben und Werk, der nicht durchleuchtet worden ist. So wie sein Dubslav im Roman Der Stechlin an „unanfechtbare Wahrheiten nicht glaubte“, stellte auch Fontane immer wieder neue Fragen. Wer nach Dutzenden Biographien den Mut aufbringt, dieser langen Reihe noch ein weiteres Stück hinzuzufügen, muß diese Maxime des Dichters und Wanderers beherzigt haben. Denn es gibt Fragen, die stets neu gestellt werden können. Es sind dies die Fragen nach den eigentümlichen Lebensverhältnissen, in der Biographie und im Werk. Wolfgang Hädecke hat in seiner Fontane-Biographie eigene Akzente gesetzt. Er erzählt nicht noch einmal, was andere schon erzählt haben. Das beginnt zum Beispiel mit dem Anfang („Preußen und Hugenotten“). Ein fernes historisches Datum, der 29. Oktober 1685, eröffnet dieses Buch. An diesem Tag erläßt Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg-Preußen, das Edikt von Potsdam. Später spielt die französische Sprache in der Familie Fontane kaum noch eine Rolle, auch die Bindungen an die calvinistische Konfession bleiben blaß. Um so eigenartiger erscheint später Fontanes Behauptung vom Kolonistenstolz der Eltern, ein Stück hugenottischer Legendenbildung, zugleich steht es für Fontanes „Verklärung“, „womit ein zentrales Kunstprinzip des Dichters berührt wird“ (Hädecke).

Verklärung des Adels zum einen, doch auch in den Romanfiguren, besonders bei den Frauen, waltet diese Eigenart Fontanes. Er berief sich auf das einzelne gegen das Allgemeine, Thomas Mann nannte diesen Charakterzug „aggressive Skepsis“. Das war Leidenschaft für die Geschichte, für Lebensgeschichten in der Historie. Und so nennt Wolfgang Hädecke zutreffend „die vielfältige, sorgsam nuancierte Darstellung menschlichen Empfindens das Herzstück von Theodor Fontanes Erzählkunst“. Doch auch außerhalb der Romane ist dies von Wichtigkeit. Wolfgang Hädecke, der die große 22bändige Fontane-Ausgabe bei Hanser herausgegeben hat, ist ein profunder Kenner. Seine Darstellung fußt auf unendlich großer Detailkenntnis, er beruft sich auf Quellen, die er erst als Herausgeber erschlossen hat. Dieser Zusammenklang von Herausgeber und Biograph ist für dieses Buch bestimmend. Hädecke hat gründlich gelesen, auch an scheinbar nebensächlichen Stellen. So ist ihm aufgefallen, daß Fontane mehrfach von widerstreitenden Empfindungen beherrscht wurde. Als „Mischempfindung“ hat er sein Verhältnis zum preußischen Adel bezeichnet. Und als besondere gestalterische Begabung nennt Hädecke: „Poesie und Lebensdarstellung im Zeichen des Empfindens - das ist eine Hauptleistung des Schriftstellers Theodor Fontane.“ Die anhaltende Beliebtheit des Dichters wird demzufolge so erklärt: „Fontane öffnet, über die Brücken des Empfundenen und jederzeit wieder Empfindbaren, Wege zwischen den Jahrhunderten und Lebenswelten.“ Im Detail bedeutet dies, bezogen auf die Erzählung Schach von Wuthenow, die multiperspektivische Darstellung des Helden, also die Charakterisierung durch andere Personen. Gerade darin liegt ein modernes Element des Erzählens. Eins, das auch für Hanjo Kesting eine große Rolle spielt. In seinem Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik zitiert er eingangs aus Uwe Johnsons Romanzyklus Jahrestage. Da liest zu Anfang der fünfziger Jahre eine Schulklasse in Mecklenburg Fontanes Schach von Wuthenow. Der junge Lehrer Weserich nimmt diesen Roman ernst. Kein Wort des Textes wird leichtgenommen, jedes gründlich befragt und zum Sprechen gebracht. Und Johnson resümiert: „Bei ihm hatten wir das Deutsche lesen gelernt.“ Das bezog sich zugleich auf Fontane und auf jenen Lehrer. Auch für Fontane war Schach von Wuthenow eine einschneidende Erfahrung. Hanjo Kesting sieht das Prosawerk Fontanes wie eine große übergreifende Chronik, vergleichbar der „Menschlichen Komödie“ Balzacs. Liest man die Bücher im Zusammenhang, „meint man zu erkennen, worauf es Fontane ankam, nämlich auf die immer genauere, umfassendere, sich ständig verfeinernde Annäherung an die Lebenswirklichkeit seiner Zeit. Hof und Adel, Militär und Geistlichkeit, das große und das kleine Bürgertum, Besitz und Bildung, der vierte Stand, Näherinnen und Putzmacherinnen, nicht zuletzt das Judentum in seinen Spielarten und sogenannte Künstlerkreise - dies alles ist in reichster Personenfülle vertreten, ergibt ein soziales Spektrum, das anders zusammengesetzt sein mag als dasjenige Balzacs oder Zolas, aber nicht weniger vollständig, nicht weniger umfassend ist.“

Fontane ist für Kesting der Chronist der Gründerzeit. Aber er hat Zeit und Charaktere derart durchschaut und durchleuchtet, daß ihm damit zugleich weit mehr als eine Epochen-Chronik gelungen ist. Dennoch wird die Frage, warum Fontane nie ein europäischer Erzähler wurde, auch hier gestellt. Es kann vieles ins Feld geführt werden, denn es handelt sich, mit Fontanes Worten, um ein weites Feld. Gottfried Benn wird erwähnt, der neben Kleist und Richard Dehmel Fontane zu seinen brandenburgischen Lieblingsautoren rechnete. Aber zugleich beobachtete Benn an Fontane auch ein Unbehagen und nannte es das „Pläsierliche“. Kesting, gern von einer kritischen zu einer eher lobenden Stimme im Chor der Autoren über Fontane eilend, bemerkt: „Fontanes Causerie, dem Pläsierlichen verwandt, besitzt durchweg einen doppelten Boden. Zugleich gibt sie seinen Büchern jenen unverwechselbaren Klang und Tonfall, den Thomas Mann mit einem glücklichen Ausdruck ,Lebensmusik‘ genannt hat.“ Wer bei Thomas Mann landet, muß dessen Sympathien gegenüber Fontane noch einmal süffisant ausspielen. Was hier auch geschieht. Während der eine Die Buddenbrooks schrieb, wurde aus dem Nachlaß des anderen Der Stechlin veröffentlicht. Auf die Abstände kommt es hier an, und so formuliert Hanjo Kesting bei dieser Gelegenheit: „Doch Gleichzeitigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Gleichgesinntheit.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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