Wiedergelesen von Henrik Engel


Günter Grass: Die Ballerina, Katz und Maus, Hundejahre und örtlich betäubt

Akzente, Heft 6 (1956); Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 1961, 1963 und 1969

 

Wer war, wer ist dieser Günter Grass? Schnurrbärtig-kaschubischer Rebell, sozialdemokratischer Wahlkampfhelfer und Freund Willy Brandts, kultureller Vorbote späterer Ostpolitik, begnadeter Literat oder engagierter Redenschreiber fürs politische Tagesgeschäft, passionierter Koch, „Pilzsammler“ und Pfeifenraucher, Zeichner mit Kohle oder Rötel, Texter für vermeintliche Kirchenmusik oder nur musikalischer Begleiter einer Jazzband? Gewiß war und ist er all dies zusammen, mal das eine mehr denn das andere. Doch bleiben wird er als Schriftsteller, zudem als Verfasser von Die Blechtrommel, deren Ruhm ihrem Autor einen Namen unter den Großen dieses Jahrhunderts gesichert hat.

Für das Verfassen dieses ersten großen Romans änderte der noch junge Schriftsteller seine kurz zuvor entwickelte Ästhetik, die er in dem künstlerisch vollendeten Text Die Ballerina demonstrierte. Auf nur wenigen Seiten führte hier der noch junge Autor jene Bandbreite stilistischer Mittel vor, die für seine spätere Prosa prägend werden sollte: die Favorisierung der Parataxe gegenüber der Hypotaxe, einen barocken Adjektivgebrauch und die für Grass-Texte typische Frontstellung adverbialer Beziehungen. Auf den in der Zeitschrift Akzente gedruckten sieben Seiten illustrierte ein noch unbekannter Künstler, wie „kleinliches Feilen an einer leeren Form hier und immer wieder zu gewichtloser Schönheit [...] gereicht“. Nur ein halbes Jahr später setzte der gleiche Autor jener formal perfekten, aber inhaltlich leeren Ballerina den Aufsatz Inhalt als Widerstand entgegen. Grass ging es hierbei um die Verbindung von Sinn und Form oder - wie der Kölner Grass-Biograph und Herausgeber dessen Gesammelter Werke, Volker Neuhaus, formulierte - „um die künstlerische Versöhnung der beiden [...] ,Gegenkönige‘ Brecht und Benn.

Als noch „jungfräulicher“ Leser mit 16 oder 17 Jahren, es muß zu Beginn der 80er Jahre in einer Leipziger Dachkammerwohnung gewesen sein, las ich dann jenen seltsamen Roman, der von Aalen im Pferdekopf, von einem Gemüsehändler namens Matzerath, seiner Frau, ihrem kleinbürgerlichen Leben vor historischer Breitwandkulisse und nicht zuletzt von dessen (vermeintlichem) Sohn Oskar handelte. Nein, es wäre vermessen zu behaupten, daß ein damals Noch-nicht-Volljähriger diesen Text hätte wirklich verstehen können. Doch - noch befangen in einer von Hemingway entworfenen Abenteuerwelt - rührte dieses Buch aufgrund seiner Befremdlichkeit an und machte neugierig: zersungenes Glas, schäumendes Brausepulver, verschluckte Parteiabzeichen, glitschige Aale - all diese Bilder blieben ob ihrer Skurrilität, weniger aufgrund von Gefälligkeit, haften. Und sie machten Hunger auf weitere Bücher dieses Autors. So schloß sich an die Lektüre der Blechtrommel die der Hundejahre an.

Bei der Bitte um Auskunft über diesen in der DDR - wie Christoph Hein an deren Ende formulierte - „bekanntesten Unbekannten“ wurde der Name Grass oft mit verhaltener, leiser, aber weihevoller Stimme genannt. Noch immer umgab ein Hauch von Verruchtheit diesen Autor. Die nicht mehr allzu jungen Hans-Mayer-Schüler wußten in sentimentaler Erinnerung an längst vergangene Jugendjahre von einer Grass-Lesung im Hörsaal 40 der Leipziger Universität zu berichten, welche der einst dort lesende Professor durch seine anekdotische Beschreibung in Ein Deutscher auf Widerruf erst zu jener „unerhörten Begebenheit“ machte, von der später - in sicherer Distanz - nur allzu gern berichtet wurde.

Nun stand im Leipziger Wahlkampf des Jahres 1990 der als konfliktbereit und diskussionsfreudig bekannte Sozialdemokrat erneut Rede und Antwort. Auf einen Schlag war alle Mystik verflogen. Dort stand ein nicht unbedeutender Schriftsteller als einfacher Mann - ein Romancier, den Salman Rushdie als seinen Lehrer bezeichnete, den der durch die Erlkönig-Verfilmung von Volker Schlöndorff in Deutschland bekannt gewordene Michel Tournier als den Autor des „bedeutendsten [Werkes] der gesamten deutschen Nachkriegsliteratur“ benennt und der für John Irving der Verfasser des „größte[n] Roman[s] eines lebenden Autors“ ist. Nun also las der Blechtrommel-Autor im politisierten Leipzig aus Die Plebejer proben den Aufstand. Ebensowenig bekannt wie dieses Drama waren jene Prosa-Texte, die mit der Blechtrommel jene Trilogie bildeten, für die der britische Germanist und Retter des Urtrommel-Manuskripts, John Reddick, den Namen fand: Danziger Trilogie. Auch der zweite Roman Hundejahre und die Novelle Katz und Maus spielen wie Die Blechtrommel in jener untergegangenen Stadt, die als Gdansk neu entstanden ist. Salman Rushdie, der wie Grass und viele andere Migranten, „die eine Stadt verloren haben“, diese „in seinem Gepäck wiedergefunden“ hat, schrieb über das Œuvre des nach Berlin verzogenen Autors: „In Grass mitgeführter Stadt ist der Labesweg noch immer der Labesweg, und die Werft, die die Geburt der Solidarität sah, heißt nicht Lenin, sondern Schichau.“ Das Bemühen um Spurensicherung einer häufig als verloren erachteten Vergangenheit zeichnet die meisten Bücher von Grass aus.

Hundejahre - dem Grass-Freund John Irving zufolge „eine ausgedehnte Odyssee von Roman aus dem Deutschland der Kriegs- und Nachkriegszeit“ - erzählt über die Feind-Freundschaft zwischen Anselm und Matern. Die für deutsche Leser schwierige und zu damaliger Zeit ungewohnte narrative Struktur (der Erzähler Brauksel wechselt seine Identität im Romanverlauf mit den ebenfalls erzählenden Amsel-Haseloff-Goldmäulchen und steht somit einem ganzen Autorenkollektiv vor, deren Aufgabe das Verfassen einer „Festschrift“ über den Bau von Vogelscheuchen ist) mag den Erfolg des Romans hierzulande geschmälert haben. Aber jenseits des Atlantiks, insbesondere in den USA, wo die Auflösung narrativer Strukturen im Rahmen einer neuen postmodernistischen Schreibweise zum literarischen Programm erhoben wurde, gestaltete sich die Rezeption dieses ungewöhnlichen Romans beispielsweise wesentlich freundlicher.

Ebenso wie Hundejahre ist die Novelle Katz und Maus die Geschichte einer Jugendfreundschaft, über welche Pilenz um das Jahr 1960 berichtet: Es ist die Geschichte eines Gymnasiasten namens Mahlke, der - durch den Diebstahl des Eisernen Kreuzes an seiner Schule in Ungnade gefallen - versucht, seine verlorene Ehre an der Front durch eigenes Bemühen um den Erhalt dieser „Auszeichnung“ wiederzuerlangen. Der Preis für diesen falschen Ehrgeiz ist hoch, zu hoch. Mahlke bezahlt ihn mit seinem Leben. Diese 1961 erschienene und streng durchkomponierte Novelle ist nicht nur John Irving zufolge ein „literarisches Juwel“. Sie ist - vielleicht noch vor Die Blechtrommel - das am häufigsten gelesene Grass-Werk und gehört an zahlreichen Deutschabteilungen verschiedenster Universitäten noch vor den Romanen der Danziger Trilogie zum Bestandteil des Lesekanons deutschsprachiger Nachkriegsliteratur. Im konservativen Deutschland zu Beginn der 60er Jahre führte das Erscheinen jenes nicht ganz jugendfreien Textes dagegen zur Aberkennung des Bremer Literaturpreises, der noch kurz zuvor an Grass verliehen werden sollte.

Der Roman örtlich betäubt ist zwar nur wenig länger als die Novelle Katz und Maus, vom Aufbau her jedoch gar nicht novellenartig und überhaupt recht Grass-untypisch. Er besteht im Grunde aus einem einzigen inneren Monolog des (mit sich selbst) erzählenden Studienrates Starusch, der nur an wenigen Stellen durch die Fragen des ihn behandelnden Zahnarztes zum Dialog ausgeweitet wird. Und noch untypischer im Vergleich zu den bisherigen Grass-Werken ist jener völlig neue Handlungsort. In einer Berliner Zahnarztpraxis erfolgt jene Behandlung, welche Symbol für einen nicht nur ärztlich gemeinten Heilungsprozeß ist. Neben dem Haupthandlungsstrang - die durch Starusch erinnerte Vergangenheit des Dritten Reichs und der Adenauer-Zeit sowie die an der Figur des Generalfeldmarschalls Schörner illustrierten Ressentiments, denen dieser bekannteste Ostfront-Durchhaltegeneral in Sandkastenspielen bei seinen Versuchen, den Krieg im nachhinein zu gewinnen, verfällt - gewinnt ein zweiter Handlungsstrang zunehmend an Bedeutung. Die in der Zahnarztpraxis geführten Gespräche, durch einen im Hintergrund laufenden Fernseher mit aktuellen Informationen angereichert, stellen den Gedanken des unbelehrbaren Generals jenem gegen Ende der 60er Jahre aufkeimenden neuen Zeitgeist gegenüber, der die Bundesrepublik bis weit in die 80er Jahre prägte. Es ist dies zugleich der Hinweis auf den Selbstfindungsprozeß einer Republik, die - noch immer gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit örtlich betäubt - jene Schmerzen verspürt, die eine Wurzelbehandlung bei nachlassender Wirkung jener in den 50er Jahren erhaltenen Narkose verursacht.

1967, vor dem Hintergrund beginnender Studentenunruhen und des eskalierenden Vietnamkriegs erschienen, erregte örtlich betäubt in den USA aufgrund seiner thematischen Parallelen zur nordamerikanischen Gegenwart ein für dortige Verhältnisse ungewohntes Aufsehen. Das „Time-Magazine“ veröffentlichte eine Abbildung von Günter Grass - als Zahnarzt verkleidet - auf dem Titelcover einer seiner Ausgaben und kührte den bundesdeutschen Autor zum „Autor des Jahres“. Daß Günter Grass in der westlichen Welt noch vor Heinrich Böll als Vertreter bundesdeutscher Nachkriegsliteratur herausgestellt wird, hat in der außerordentlich intensiven Rezeption dieses Romans eine seiner Ursachen und wird durch derzeitige amerikanische Lesegewohnheiten noch vertieft. In einer sich jenseits des Atlantiks zunehmend als „postmodern“ definierenden Epoche konnten GrassWerke - im Gegensatz zu den traditionellen Erzählungen und Kurzgeschichten eines Heinrich Böll - einfach ungebrochener rezipiert werden. Grass’ Erzählweise galt jenseits des Atlantiks und des Ärmelkanals stets als innovativ, während das Œuvre des Kölner Nobelpreisträgers vor allem in Osteuropa enthusiastisch aufgenommen wurde; Grass dagegen begegnete man dort - auch aufgrund politischer Vorurteile ob seiner kaschubischen Herkunft wegen - eher mit Skepsis.

Nun erscheint in Kürze ein in Erzählweise und Komposition sehr einfaches, schlichtes und dennoch großartiges Grass-Werk: Mein Jahrhundert - wie die Unkenrufe erstmals auf der Buchmesse in Leipzig vorgestellt - wird mit Sicherheit eine breite Leserschaft finden. Zwar verbietet sich unter der Rubrik Wiedergelesen ein Hinweis auf dieses erst im Herbst 1999 erscheinende Buch, doch sei den Liebhabern unterhaltsamer Literatur dieser Text bereits jetzt anempfohlen: In einhundert Kurzgeschichten (für jedes Jahr eine) entwirft der mehr als 70 Jahre zählende Autor ein Panorama unseres Jahrhunderts, das in seiner erzählerischen Qualität, Lesbar- und Verständlichkeit weit über Ein weites Feld hinausgeht. Es wird irritierte Grass-Kenner wieder mit ihrem Autor versöhnen und diesem zugleich neue Leserschaft bescheren, die schon heute aus drei Generationen besteht. Ob zu den Ausgesöhnten auch der Feuilleton-Redakteur einer großen Frankfurter Zeitung gehören wird, bleibt abzuwarten. Wie immer die Meinung eines einzelnen Rezensenten auch ausfallen mag, ein alles in allem positives, wenn nicht sogar euphorisches Echo kann schon jetzt vorausgesagt werden. Auf die an Grass gerichtete Frage, ob ein Schriftsteller beim Verfassen eines neuen Werkes bereits spüre, ob dies ein gutes werden wird, antwortete der Autor mit einem eindeutigen: „Ja!“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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