Eine Rezension von Hans Aschenbrenner


Es gibt viel zu tun, nur keine Arbeit...

Christian Graf von Krockow: Der deutsche Niedergang
Ein Ausblick ins 21. Jahrhundert.

Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1998, 239 S.

 

„Der deutsche Niedergang scheint unabwendbar zu sein“ - wann eigentlich ist eine solche durch und durch pessimistische Prognose schon je einmal populär gewesen? Der Autor, der diese These in selten vernommener Deutlichkeit und belegt durch ein breites Spektrum an Fakten und Überlegungen vertritt, war als Professor für Politikwissenschaft tätig und ist seit geraumer Zeit freier Wissenschaftler und Schriftsteller. Er kann für sich in Anspruch nehmen, ernstgenommen zu werden. Aus seiner Feder stammen eine Reihe respektabler, fundierter Veröffentlichungen. In diese Kategorie gehört die hier zu besprechende Publikation, auch wenn oder gerade weil sich die meisten Befunde in ihr als düster und für die Zukunft bedrohlich darstellen, wie Krockow deutlich machen will. Aus historischen Bedingungen, die, wie er es formuliert, von weither kommen, sind akute, kaum lösbar erscheinende Probleme entstanden.

Das Buch ist dreigeteilt. Im ersten, dem kürzesten Teil, mit „Annäherung an das Thema“ überschrieben, wird gezeigt, wie auch Staaten und Nationen dem zyklischen Wandel unterworfen sind: Sie erleben Blütezeiten - und erleiden im Wechsel Machtverlust und Niedergang. Wie vergänglich die Macht ist, das hat die Geschichte in der Tat immer wieder bewiesen. Getragen von Leistungsbereitschaft, Ordnungssinn und Pflichterfüllung, organisiert vom leistungstüchtigen Obrigkeitsstaat, hat sich nach Krockow der deutsche Aufstieg in der neueren Geschichte vollzogen. Er erreichte am Beginn des 20. Jahrhunderts seinen vorläufigen Höhepunkt, bevor dann der Wahn von Weltmacht in zwei Weltkriege und schließlich zum unweigerlichen Absturz führte. Nach 1945 gelang in der BRD der erstaunliche Wiederaufstieg zur Wirtschaftsweltmacht. „Im Zentrum standen zu jener Zeit die wirtschaftliche Entwicklung und der Erfolg im Sinne der Modernisierung, die das Vergangene tilgt.“ Auf einen „feinen“ Unterschied zum zweiten deutschen Staat wird dabei aufmerksam gemacht: Während die DDR - neben, nicht hinter den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, dabei auf einer vergleichsweise winzigen Bevölkerungsbasis - sozusagen die dritte olympische Weltmacht wurde, ist die Bundesrepublik neben den USA und noch deutlich vor Japan zur wirtschaftlichen Weltmacht aufgestiegen.

Im zweiten Teil der Publikation werden ganz ungeschminkt die „Zeichen des Niedergangs“ behandelt. Der Autor unterstreicht - daran erinnernd, daß man in den beiden deutschen Staaten, im westlichen und östlichen Ausland nicht überall ohne Vorbehalt in den Jubel der Wiedervereinigung einstimmte, dabei auch zwiespältige Gefühle geäußert wurden -, daß die Befunde, die er in den folgenden Abschnitten darstellen wird, anders aussehen und in die Gegenrichtung führen: „Auf die Wiedervereinigung von 1990 wird einmal der Beginn des deutschen Niedergangs zu datieren sein, der das Land in der Mitte Europas eher zweitrangig als übergewichtig, eher langweilig als unheimlich, eher wehleidig als gewalttätig macht. Denn mit dem Gewinn der Einheit sind die Nachkriegsbedingungen des Aufstiegs entfallen, von denen (im ersten Buchteil - H. A.) die Rede war.“

Jetzt also, so wird es dann fast ein wenig mystisch umschrieben, deuten die Zeichen der Zeit darauf hin, daß sich der „Weltgeist“ von den Deutschen verabschiedet. Denn trotz immer größerer Leistungsmöglichkeiten schließt die Arbeitsgesellschaft im Triumph ihres Fortschritts einen rasch wachsenden Teil der Bevölkerung aus. Dabei handelt es sich nach Auffassung von Krockow nicht um ein vorübergehendes Ärgernis, sondern um eine langfristige Entwicklung. „Das wiederum ist historisch neu und erschüttert unser Selbstbewußtsein und Sinnverständnis, in dem Arbeit nicht nur bloßes Mittel zum Verdienst des Lebensunterhalts darstellt.“ Der Autor tritt dafür ein, daß es sich nicht mehr lohnt, die Arbeitsgesellschaft in ihrer bisherigen Gestalt zu verteidigen und ihr Rettungsringe zuzuwerfen. „Wer es dennoch tut, mag für einen Augenblick Beifall finden, aber er vergeudet seine Zeit - und nicht nur sein, sondern unser gutes Geld. Es wäre zum Beispiel schon vor Jahren sinnvoll gewesen, alle Kumpel des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet und an der Saar entweder in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken oder sie mit großzügigen Abfindungen zu entlassen; die eingesparten Milliardenbeträge hätte man für Zukunftsinvestitionen einsetzen können. Wenn der Kumpel einen Durchschnittslohn von 60000 DM im Jahr erreicht, aber dafür sein Arbeitsplatz mit mehr als der doppelten Summe subventioniert werden muß, gerät man in den Bereich des Absurden. Und warum darf man westdeutschen Arbeitskräften nicht abverlangen, was ihren ostdeutschen Kollegen seit 1990 wie selbstverständlich zugemutet wird? Je hartnäckiger man im übrigen sich an das Gestrige klammert, desto düsterer wird aussehen, was uns erwartet.“

Verbunden mit der Arbeitskrise, konstatiert Krockow eine Krise des Sozialstaats und eine Kulturkrise, die ihren Ausdruck in Zukunftsangst und Erstarrung findet. Das alles sind in seinen Augen Tatbestände, die nun einmal gegeben sind und mit denen die Gesellschaft fertig werden muß. „Ihr aber fehlt es an Erfahrung und Traditionsreserven, die dem undramatisch schleichenden Abstieg ins wehleidige altersgraue Mittelmaß entgegengesetzt werden können.“ Nach solch allgemeineren Feststellungen werden dann bei einem „Rundgang durch die deutschen Probleme“ einige gesellschaftliche Bereiche und Befindlichkeiten eingehender unter die Lupe genommen: der Sozialstaat, die Altersgesellschaft, Angst vor der Zukunft; die deutsche Bildungskatastrophe, Eliten im Wandel; das Regierungssystem; der Wertewandel. Gern würde man aber auch mehr über die Meinung des Autors nicht nur zu rein bzw. primär innerdeutschen Themen und Problemen erfahren; das Bedürfnis danach ist durch jüngste Entwicklungen nur noch größer geworden, insbesondere durch den Krieg der NATO unter Führung der USA und erstmals mit aktiver Beteiligung der Bundesrepublik auf dem Balkan. Es hat aber auch etwas zu tun mit dem Fortgang und den Auswirkungen der europäischen Integration und den Prioritäten deutscher Europa- und Außenpolitik im allgemeinen.

Läßt sich nun der konstatierte deutsche Niedergang aufhalten? Gibt es Möglichkeiten, um dem Abstieg ins wehleidige Mittelmaß entgegenzutreten? Im dritten Teil entwirft der Autor Strategien, um dem Niedergang - für ihn stets ein „relativer Begriff“, d. h. auch, sich vergleichsweise auf immer noch hinreichend gutem Niveau vollziehend - doch noch begegnen zu können. Er klammert sich an die Idee, daß entfallender Leistungsdruck aufs neue den Zugang zu Wer ten eröffnen könnte, die unter den Zwängen der Arbeitsgesellschaft verschüttet wurden. Gewiß schwingt hier ein Stück Wunschdenken mit, hat man nur die sich verändernde, immer engere Arbeitswelt vor Augen, vor allem die sich wandelnden Arbeitsnormen in der noch sehr nebulösen Industriegesellschaft des kommenden Jahrhunderts. Der Autor jedenfalls sieht einen Ausweg darin, daß sich womöglich ein geordneter Rückzug aus der Arbeitsgesellschaft organisieren ließe, der zu neuen Horizonten führen könnte. Die Zukunftsangst, in deren Wuchern die Bereitschaft schwindet, Neues zu wagen, könne seiner Ansicht nach nur gebannt werden, wenn eine Mußekultur entsteht, die Aussichten und praktische Möglichkeiten für ein lohnendes Leben jenseits der Arbeitsgesellschaft eröffnen würde. Darunter wird vor allem auch die „Wiederentdeckung von ,Zeitverschwendung‘ an Familie, Natur, Geselligkeit, Spiel und Zärtlichkeit als Bedingung der Menschlichkeit“ verstanden.

Realist genug, erklärt Krockow aber im gleichen Atemzuge unverhohlen, für solche und andere Visionen gebe es „allenfalls Ansätze, die eher belächelt oder beargwöhnt als anerkannt werden“. Seine Bestandsaufnahme ist ernüchternd und macht deutlich, daß ein Herumdoktern im Detail, gar noch, wenn es einseitig nach unten geschieht, nicht die notwendige Abhilfe bringen kann, sondern es dafür genereller gesellschaftlicher Reformen bedarf.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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