Eine Rezension von Horst Wagner


Ein Mann des Konsenses

Werner Filmer/Wolfgang Klein:
Johannes Rau. Der Bundespräsident

Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1999, 240 S.

 

Eines jedenfalls muß man Verlag und Autoren bescheinigen: Sie haben schnell und zielstrebig gearbeitet. Kaum hatte die Bundesversammlung Johannes Rau in das höchste Staats-amt gewählt, lag seine Biographie mit dem Untertitel „Der Bundespräsident“ schon in den Buchläden. Ist sie deshalb ein Schnellschuß geworden? Zugegeben: Wenn man sie mit den gedankenreichen, bewegenden Erinnerungen Richard von Weizsäckers Vier Zeiten vergleicht oder die eindrucksvolle, spannend geschriebene Helmut Schmidt-Biographie von Jonathan Carr als Maßstab nimmt, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Aber der Vergleich ist ungerecht. Hier sollte aus aktuellem Anlaß eine Biographie vorgelegt werden, die schnell über den neuen ersten Mann im Staat informiert und auch offiziellen Zwecken dienen kann. Dabei ist das Buch erfreulich inoffiziell geworden. Es stellt den Menschen Rau in den Mittelpunkt, forscht den Quellen und dem Erscheinungsbild seiner Stärken nach, sucht aber auch, Ursachen menschlicher Schwächen bei ihm zu ergründen.

Beide Autoren sind erfahrene Publizisten. Werner Filmer, Jahrgang 1934, langjähriger stellvertretender Chefredakteur beim WDR, hat sich schon als Koautor von Biographien Roman Herzogs, Helmut Kohls, Oskar Lafontaines, Norbert Blüms u.a. einen Namen gemacht. Der 1946 geborene Wolfgang Klein war ARD-Korrespondent in der DDR und leitet heute die Redaktion der erfolgreichen Polit-Talkshow von Sabine Christiansen. Sie haben gründlich recherchiert, manche interessante Kleinigkeit ausgegraben - bis hin zur roten Strickkrawatte, die der 22jährige Rau als Vertriebsleiter eines evangelischen Verlages einst von Rowohlt persönlich auf der Frankfurter Buchmesse geschenkt bekam und demonstrativ auch in der Jungen Gemeinde trug. Und sie lassen andere, auch politische Gegner und Konkurrenten Raus zu Wort kommen. Kurt Biedenkopf, viele Jahre sein Gegenspieler im nordrhein-westfälischen Landtag, nennt als Raus Stärke, „dem Bedürfnis nach Harmonie und Konsens zu entsprechen, Politik als eine Sache erscheinen zu lassen, die wenig mit Macht zu tun haben sollte, aber viel mit Zwischenmenschlichkeit, Zuwendung, Mitleidenschaft“. Wolfgang Clement, Raus Nachfolger als Ministerpräsident in NRW, bemerkt über seinen Vorgänger: „Er spricht nicht über Menschen hinweg, sondern mit ihnen. Leise und nicht laut, so wie er vorträgt, das zwingt zum Zuhören, insbesondere dann, wenn er ohne Manuskript Spannungsbögen formt, die zumeist durch einen Scherz, eine Bemerkung aus dem Alltagsleben oder ein Bibelzitat entspannt werden.“ Gregor Gysi, PDS-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, erwartet vom neuen Staatsoberhaupt: „Seine Formel ,Versöhnen statt Spalten‘ braucht einen neuen Gestaltungsinhalt und -willen. Die Konflikte zwischen Inländern und Ausländern, zwischen Ost- und Westdeutschen ... zwischen Arm und Reich und den Generationen erfordern neue Sichten, unkonventionelle Lösungsvarianten und die Weisheit des Alters.“

Zu den interessantesten, weil im Detail bisher nicht so bekannten, Kapiteln gehören die über Raus Kindheit, seine Jugend, seinen Entwicklungsweg, bis er 1978 Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes wurde: Wie der am 16. Januar 1931 in Wuppertal geborene Predigersohn Pastor werden wollte, sich mit seinem vorzeitigen Abgang vom Gymnasium aber die akademische Laufbahn verbaute. Wie er, nicht zuletzt vom eigenen Lesehunger getrieben, als 17jähriger in einem kleinen Verlag Lehrling wurde; wie er in der strengen Schule des Verlegers Sprachgefühl und Kreativität, aber auch Akribie und Sorgfalt entwickelte. „Fehler in Rechtschreibung und Grammatik sind ihm ein Greuel. Auch Tageszeitungen liest er noch mit den Augen des Korrektors.“ Wir erfahren, daß Rau als Mitglied der Jungen Gemeinde in den 50er Jahren mehrmals eine Patengemeinde in Oranienburg in der DDR besuchte, worüber ein Freund aus damaliger Zeit berichtet: „Es ist vor allem der Begegnung mit Christen in der DDR zu verdanken, daß wir zu erkennen lernten, wie die Kirche auch in der Bundesrepublik Adenauers ihre Freiheit aufs Spiel setzte, als sie noch einmal ein Kartell von bürgerlicher Gesellschaft und christlicher Kirche zu bilden sich anschickte.“ Interessant zu lesen, wie sich der junge Rau nach der beginnenden Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in Friedensaktionen engagierte, wie er sein großes Vorbild Gustav Heinemann kennenlernte, in die von diesem gegründete Gesamtdeutsche Volkspartei eintrat und als deren Kreisvorsitzender in Wuppertal an seinem 22.Geburtstag seine politische Jungfernrede hielt. Wie er mit Heinemann nach Auflösung der GVP in die SPD eintrat, „bei den neuen Wuppertaler Genossen, trotz einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber dem Überläufer, schnell zur bewunderten Zugnummer“ wurde, 1958 zum Juso-Vorsitzenden in Wuppertal avancierte, noch im gleichen Jahr Landtagsmitglied und 1969 Oberbürgermeister von Wuppertal wurde.

Wir lesen, wie Rau sich als Bildungsminister von Nordrhein-Westfalen für die Modernisierung des Hochschulwesens einsetzte und welche politischen Turbulenzen es gab, als er schließlich im September 1978 Ministerpräsident wurde. Konkreta aus Raus 20jähriger Amtszeit als Regierungschef in Düsseldorf - das empfinde ich als einen Mangel der Biographie - erfährt man verhältnismäßig wenig. Sie werden offenbar als bekannt vorausgesetzt. Statt dessen werden aus dieser Zeit lediglich viele positive Eigenschaften Raus wiederholt, die uns auch schon aus der ersten Hälfte des Buches bekannt sind. Eher wird noch darauf eingegangen, wie Rau seine Niederlagen als Kandidat zum Bundeskanzler (1987) und zum Bundespräsidenten (1994 gegen Roman Herzog) sowie auch die Umstände, die seinem Rücktritt als Ministerpräsident (Mai 1998) vorausgingen, verletzten. Als zweiten Mangel empfinde ich, daß Raus Kontakte nach Osten, sowohl zu DDR-Zeiten als auch jetzt hinsichtlich der neuen Bundesländer, unterbelichtet bleiben. Seine Bemühungen vor allem um das „Patenland“ Brandenburg hätten sicher mehr Aufmerksamkeit verdient. Zumal er selbst mit den Worten zitiert wird: „Im Westen neigen noch zu viele Menschen zu Herablassung und Besserwisserei. Im Osten neigen noch zu viele Menschen zu Selbstmitleid und trotzigem Rückzug. Beide Haltungen sind Gift für das Zusammenwachsen, und sie schaden der inneren Einheit.“

Wer sich für den Menschen Rau interessiert, der wird nicht zuletzt dem Kapitel „Mit Frauen tat er sich schwer“ Aufmerksamkeit schenken, in dem wir auch etwas darüber erfahren, warum er erst mit 51 Jahren heiratete: die 25 Jahre jüngere Christina Delius, eine Enkeltochter seines väterlichen Freundes Gustav Heinemann, mit der er inzwischen drei Kinder hat. Auch in diesem Zusammenhang finde ich es schade, daß die neue Rau-Biographie so ganz ohne Fotos geblieben ist. Eine Folge des „Schnellschusses“?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite