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Goethe - Eine Erfahrung

Gedanken nach dem Roman

 

Über Erfahrungen kann man erst schreiben, nachdem man sie gemacht hat. Eine Binsenweisheit. Nun das Buch fertig ist, „Goethe. Herrlicher Tag“, stelle ich fest: Er fehlt mir. Das klingt vermutlich etwas sentimental, beschreibt aber nichts weniger als einen Mangel.

Schon während der Vorarbeiten zum Roman, im Dezember 1996, notierte ich den Satz: Es geht mir gut. Da war ich noch, nach langjähriger Pause, beim Wiederlesen in seinen Texten und in den Texten über ihn von zum Teil mir altvertrauten und geschätzten Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig bis hin zu Hans Mayer; und das eigentliche Abenteuer des Schreibens lag noch vor mir. Später dann, in der Endphase des Romans, notierte ich: Da ich nun schon geraume Zeit Tag um Tag mit ihm zusammen bin, treten so viele, oft weggelassene oder gar unbekannte Details aus seinem Alltag ans Licht, oder sie ergeben sich zwingenderweise aus den Lücken im überlieferten Stoff, so daß mir nach und nach eine lebendige Gestalt entstanden ist, die nun doch ein wenig anders beschaffen ist, als ich sie vorher mit dem groben Blick aus der heutigen Distanz besaß. Der Romanautor, gewohnt, sich seine Figuren zu erschaffen und mit ihnen mehr oder weniger respektlosen Umgang zu pflegen, wurde sich plötzlich bewußt: Dein Held ist ja Goethe! - Was sich zum Teil wohl daraus erklärt, daß der große Mann im Roman immer nur „er“ genannt wird; nur ein einziges Mal war bis dahin sein Name gefallen, im Zusammenhang mit seinen Schriften, die im fernen Brüssel des Jahres 1814 niemand kannte. - Die gesuchte Nähe zu ihm stelle sich mir plötzlich als eine Gefahr dar, nämlich vielleicht doch etwas zu vertraulich und vor allem zu schöpferisch mit ihm umzugehen. - An dieser Stelle müßte vielleicht ein Exkurs folgen, weshalb ein Autor am Ende des 20. Jahrhunderts die Nähe einer historischen Gestalt, die Nähe eines großen Kollegen von vor zweihundert Jahren sucht. Aber er soll hier weniger um eine Selbstbeschreibung gehen als vielmehr die Beschreibung einer Erfahrung mit Goethe versucht werden.

Die Erfahrung, wie gesagt, war: Es ging mir gut. Über zwei Jahre lang. Aber weshalb? - Auf dem Schreibtisch sich türmende Bücher, in verschiedenen Heftern sich ansammelnde Exzerpte und Notizen, im Kopf eine sich mehr und mehr weitende literarische Konzeption, auf dem Papier schließlich sich allmählich entwickelnde Figuren und Handlungsstränge, das alles kannte ich schon von früheren Arbeiten über Napoleon, über Metternich. Neu hingegen war, daß sich bald immer häufiger nebenher Notate einstellten zu den verschiedensten Gegenständen, wie Revolution und Evolution, Wandel und Kontinuität, Schein und Sein, über Geschichte, Volk, Fremdherrschaft, Befreiung, über Widersprüche, über Sprache, über Lebenskunst u. a. m.; was mit dem jeweils laufenden Kapitel oft nur bedingt zu tun hatte. Goethe war offensichtlich ein Stoff von anderer Art als Napoleon und Metternich, ein Stoff, der, wie er gesagt haben würde: aufregte, zumindest mich. Zudem erfolgten die Notate immer häufiger unter der Überschrift: „Über Goethe schreiben“. Überlegungen also, die ihn wie auch mich betrafen, die eine Beziehung beschrieben. - Auch das erscheint mir heute weitgehend verständlich. Schließlich war ich nie Feldherr und Kaiser noch Kavalier und Kanzler gewesen. Unter Kollegen aber, mag der Niveau- und Zeitunterschied noch so groß sein, gibt es immer zumindest einen Vergleichspunkt, einen sozusagen kleinsten gemeinsamen Nenner: die Grunderfahrung des Künstlers. Und die ist: erlebte Freiheit und erlebte Abhängigkeit.

Genauer gesagt: erlebte Abhängigkeiten. Und eine davon, die von der Zeit, beeinflußt oft mehr, als dem Autor im Augenblick immer bewußt ist, das Hervorbringen bestimmter Werke. Napoleon und Metternich, die großen Gegenspieler einer kriegerischen Epoche, schrieb ich vor 1989, Goethe nach 1989. Und der literarische Ausgangspunkt bei letzterem Unternehmen stand von Anfang an fest: kein tragikomisches Nachspiel eines gescheiterten Kaisers und keine Biographie eines am Ende gestürzten Staatsmannes, sondern ein großer Dichter und die Politik in einem Moment der Epochenwende, im Jahr der Befreiung von der Fremdherrschaft, 1814. Goethe selbst nannte es damals „die Umkehrung Deutschlands“. Eine Zäsur also für das Vaterland. Aber auch für ihn, der den Eroberer und Welterschütterer Napoleon bekanntlich „meinen Kaiser“ genannt hatte? - Im Mai/Juni 1814 verfaßte er, gewissermaßen auf Bestellung Ifflands in Berlin ein nicht eben leicht verständliches Festspiel zu Ehren der Napoleonbe-zwinger, Des Epimenides Erwachen, und dennoch blieb er bis an sein Lebensende ein Bewunderer jenes Dämonen, der die Welt, wie er 1829 sagte, behandelt hatte wie Hummel (der Musikvirtuose) seinen Flügel, wunderbar; ob nach einem Sieg oder nach einer Niederlage, immer auf festen Füßen stehend, immer klar und entschieden, was zu tun sei. Über Goethe schreiben, so eines meiner frühesten Notate, heißt: über Freiheit schreiben.

Es ging mir gut mit ihm. Über zwei Jahre lang. - Da war die immer wieder staunenswerte Fülle des Stoffes, also seines Geistes, da war die ungeheure Modernität in seinem Dichten und Denken, mithin bis in die Sprache hinein, da war die ewig neue Lust am spielerischen und zugleich dialektischen Denken in Gegensätzen, da war sein Nie-ganz-fertig-Werden mit seinen Werken, und da war - vor allem - das Bezaubernd-Menschliche seines Wesens, das immer wieder, von Jugend an bis ins hohe Alter, auf andere gewinnend ausstrahlte. Die Namen derer, die es bezeugten, sind ungezählt. 1801 schrieb Caroline Schlegel: „Einen durchtriebnern Schalk gibt es auf Erden nicht wie den Goethe und dabei das frömmste Herz mit seinen Freunden.“

„Mein Leben“, notierte er selber, „ein einzig Abenteuer.“ Das beschreibt das Rastlose und Verwegene im Bewußtsein des offenen, also ungewissen Ausgangs. - Da war, bei Ankunft in Weimar, in Gesellschaft des jungen Herzogs Carl August, sein fast übermütiger, extravaganter Lebensstil, der weder aristokratisch noch eigentlich bürgerlich war. Da war, im Unterschied zu den anderen jungen Dichtern des Sturm und Drang, seine plötzliche Hinwendung zur politisch praktischen, hinopfernden, dabei durchaus skeptischen reformerischen Tätigkeit als Staatsmann im kleinen Herzogtum. Da folgte, als Mittdreißiger, die befreiende Flucht aus dem Weimarer Hofleben, bei gleichzeitig fleißigem Bemühen, alle Bindungen dorthin, insbesondere zum Herzog, nicht zu verlieren; im vollen Bewußtsein um die gesellschaftliche wie finanzielle Abhängigkeit seiner Existenz. Da ereilte ihn das späte Liebes- und „Ehe“-Glück mit Christiane, das Skandal machte, weil er treu zu dem Mädchen stand, und doch nahm das entrüstete Weimar dieses Verhältnis schließlich hin. Da war gleichzeitig seine unter den deutschen Dichtern und Gelehrten einsame, weil ablehnende Position zur Französischen Revolution, „Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider; / Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich“ (ein mit Blick auf unser 20. Jahrhundert geradezu prophetisch anmutendes Urteil); und doch ließ er keinerlei Zweifel an der historischen Schuld der Herrschenden an dem „franzö-sischen Ungewitter“. Da war seine, zumal nach Schillers Tod, zunehmend einsame Stellung unter den deutschen Literaten, wo er fast wie ein Vereinzelter gegen die Masse der romantischen Dichter stand, deren zeitweilige Huldigung ihm dennoch viel beeutete. Da war in der Zeit der Befreiungskriege sein unpathetischer, herber Patriotismus, den er, unter lauter Franzosenhassern, nicht mit Haß verbinden konnte, ebensowenig wie er Vaterlandsliebe als eine heilige Sache zu verstehen vermochte (so als hätte er die kommenden 120 Jahre deutscher Geschichte bereits vorausgesehen). Und da war schließlich sein sich der Welt west-östlich öffnendes Alterswerk, als im übrigen deutschsprachigen Raum, unter den Bedingungen der Metternichschen Zensur, das Biedermeier Platz griff. - So war er fast immer anders als die anderen, und er kam damit durch, ja er wurde dennoch oder vielleicht auch eben deshalb geliebt, als ein einzigartiges Beispiel für einen unabhängigen Geist, für einen schöpferischen und nicht zuletzt auch sozial tätigen Menschen, für den galt, was er über Voltaire bei FriedrichII. sagte: „Nicht leicht hat sich jemand so abhängig gemacht, um unabhängig zu sein.“

Über Goethe schreiben heißt über Freiheit schreiben - und über Hoffnungsglauben. Bei aller inneren Zerrissenheit zwischen Ich und Nicht-Ich, so seine Worte gerade im Frühjahr 1814, bei aller immer wieder durchlittenen Verzweiflung und immer wieder versuchten Weltflucht, um in Ruhe arbeiten zu können, war Hoffnung für ihn ein Schlüsselwort in seiner Lebens-Philosophie. Der Hypochonder mochte fluchen: „Der Teufel hol das Menschengeschlecht!“, doch: „Kaum seh ich ein Menschengesicht, / So hab ichs wieder lieb.“ Bei allem gesellschaftlichen Überdruß und Ärger gewannen, gemäß seinem Naturell, Menschenliebe, Menschenvertrauen immer wieder in ihm die Oberhand, wodurch er sich stets von neuem ins Gleichgewicht brachte. Und so heißt über ihn schreiben über das Humane schreiben.

Das Humane bei Goethe, das wäre gewiß einen Aufsatz für sich wert, wenn darüber nicht längst nahezu alles gesagt wäre. Es soll hier nur um einige Gedanken nebenher, während meiner Arbeit am Roman gehen. Da ist, in seinem Leben wie in seinem Werk, das durch und durch Unkriegerische, das immer um Ausgleich zwischen den Extremen Bemühte in seinem Denken. Da ist die Dialektik seines Denkens, die Gut und Bösse als ein untrennbares Ganzes auffaßt (das ihn zum politischen Ideologen gänzlich untauglich machte). Sosehr ihm Freiheit ein problematisches Wort war, weil „man denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf weiter nichts angesehen ist, als daß Gewalt, Einfluß und Vermögen aus einer Hand in die andere gehen soll“, so war ihm andererseits Freiheit wenigstens „die Möglichkeit, unter allen Bedingungen das Vernünftige zu tun“. Ein Denken, das letztlich auf Konsens gerichtet ist und das, was ihn selbst vermutlich erstaunen würde, einen durchaus demokratischen Zug beweist. Ebenso sein Bestreben, in allen Geschäften die Balance, die „Mittelstraße“ zu finden; gerade im Frühjahr 1814 schreibt er an Knebel: „Man schilt mit gleichem Recht auf Anarchie und Tyrannei; wo ist denn aber der wünschenswerte Mittelzustand?“ Reformen, schrittweise Veränderungen, man ist fast geneigt, von einem sozialdemokratischen Zug seines Wesens zu sprechen; übrigens ebenso wie bei dem von ihm hochgeschätzten Martin Luther, von dem er sagte: er „arbeitete, uns von der geistlichen Knechtschaft zu befreien ..., er gab dem Herzen seine Freiheit wieder und machte es der Liebe fähiger ...“ So ist denn letztlich die Fähigkeit zur Liebe wohl der eigentliche Kern des Humanen bei ihm. Zur Menschenliebe, die ihm eigen war und mit der er andere immer wieder für sich gewann, auch wenn man ihm Stolz und Rigorosität nachsagte (was zumal bei deinem Theaterdirektor kaum verwundern kann). Und dazu gehört ebenso seine Maxime vom „gelten und gelten lassen“ anderer, und damit verbunden ist bei ihm, trotz aller durchlebten Ärgernisse, das Heitere als der Grundton seines Lebens.

Sisyphos fiel mir des öfteren zu ihm ein, so, wie ihr Camus aufgefaßt hat: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ - Mir scheint, das Humane bei ihm schließt auch das Wissen um das Unfertige, das Unvollkommene aller menschlichen Versuche und Werke ein, das Nie-ganz-fertig-Werden und das „Wissen“ um die Gnade des Herrn mit dem, der immer strebend sich bemüht, dabei wissend um das Vergängliche alles menschlichen Erschaffens und doch eben darin auch die Gewißheit findend für das Entwicklungs- statt des Revolutionsprinzips. „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.“ Für mich noch immer der erstaunlichste Satz in seinem gesamten Werk. Freiheit als etwas Augenblickliches begreifend, als Resultat des Tages, das man sich verdienen muß, durch Arbeit, der kurze Moment des Glücks, da man des Steins ledig ist, um ihn am anderen Morgen von neuem zu wälzen, wälzen zu müssen, weil man dazu gezwungen ist von außen, aber vielleicht mehr noch von innen heraus. Gleich dem Künstler, dessen Grunderfahrung erlebte Freiheit und erlebte Abhängigkeit ist.

Rüdiger Safranski fragt in seinem Buch Das Böse: „Aber kann der Mensch, in dem das Bewußtsein der Freiheit erwacht, sich überhaupt nach sich selbst richten? Das antike Denken traut es ihm zu, das christliche nicht.“ Goethe, zweifellos, hat antik gedacht.

Es ging mir gut mit ihm, in seiner Gesellschaft, in seinem Haus am Frauenplan, in der Gesellschaft seiner Freunde und Besucher, in seinem Gartenhaus, im nahen Berka. Zweimal in den zwei Jahren war ich in Weimar bei Freunden und nahm mir unbekannte, hilfreiche, freundliche Leute für meine Arbeit in Anspruch. Die gegenwärtige Welt am Ausgang des 20. Jahrhunderts nahm ich mitunter kaum richtig wahr, die Kriege, das Elend, die Skandale, die Katastrophen, die Umwälzungen, die schlechten wie die guten Nachrichten, und manchmal, auch das gehört zu der Erfahrung dieser mehr als zwei Jahre, hatte ich das ungute Gefühl, mich auf Grund meiner Gesellschaft mit Goethe aus der Gegenwart zu flüchten. Indes wird man durch ihn selbst immer wieder zur Beschäftigung, zum Vergleich mit der Gegenwart genötigt.

Weimar schließlich war gewiß eine kleine Welt, keineswegs eine in sich harmonische Idealwelt (wieviel Klatsch und Neid und Intrige), und doch hat es ihn, den großen Mann, in gewisser Weise hervorgebracht, ihn ertragen, ihn haben wollen! Wenn man heute Weimar sagt, dann denkt man nicht zuerst an das Schloß, sondern an das Haus am Frauenplan und das Gartenhäuschen im Park. Und wenn man hinkommt in die immer noch kleine Stadt, dann in dem Gefühl, nie allein hinzukommen. Man befindet sich immer in offensichtlich nicht ganz schlechter Gesellschaft. Und mehr als einmal mußte ich an die Gemeinschaft der Morgenlandfahrer bei Hermann Hesse denken: „Da es mir beschieden war, etwas Großes mitzuerleben, da ich das Glück gehabt habe, dem ,Bunde‘ anzugehören und einer der Teilnehmer jener einzigar-tigen Reise sein zu dürfen, deren Wunder damals wie ein Meteor aufstrahlte und die nachher so wunderlich in Vergessenheit, ja in Verruf geriet, habe ich mich entschlossen, den Versuch einer kurzen Beschreibung dieser unerhörten Reise zu wagen ...“

Bernd Schremmer


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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