Eine Rezension von Christel Berger


Brigitte Reimann - unzensiert und sehr lebendig

Margrid Bircken/Heide Hempel: „Als habe ich zwei Leben“ -
Beiträge zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Neubrandenburg über Leben und Werk der Schriftstellerin Brigitte Reimann.

Herausgegeben vom Literaturzentrum Neubrandenburg e. V., Neubrandenburg 1998

 

Als Brigitte Reimann 1962 nach Veröffentlichung bzw. Beendigung ihrer beiden sehr erfolgreichen Bücher Ankunft im Alltag (1961) und Die Geschwister (1963) einen neuen Roman begann, lebte sie noch in Hoyerswerda, wo sie als überzeugte Verfechterin des „Bitterfelder Weges“ kraft eines Vertrags mit dem Kombinat Schwarze Pumpe „angekommen“ war. Sie wurde öffentlich gelobt und „von oben“ protegiert, aber ihrem Tagebuch sind schon Zweifel zu entnehmen, ob die Gesellschaft wirklich verwirklicht, was sie verkündet. Ein Entwicklungsroman sollte es werden, eine Liebesgeschichte, wie sie sie gerade mit dem Baggerfahrer und abgebrochenen Philosophiestudenten „Jon“ erlebte. Nach der Erfahrung des Schreibens der vorherigen Bücher würde sie nicht allzu lange brauchen, bis der Roman „fertig“ war. Aber es kam alles ganz anders.

Franziska Linkerhand wurde das Buch, an dem die Autorin bis zu ihrem Tod 1973 arbeitete - sich quälte, rang, kämpfte und das sie trotz schon vorhandener 600 Seiten nicht zu Ende brachte. Ein Roman über eine junge Architektin aus „gutem“ Hause, die in eine neu zu bauende Stadt kommt und sich reibt an den Bedingungen sturer Planvorgaben und den Ergebnissen billigen und schnellen Bauens. Sie fühlt sich hin und her gezogen zwischen dem trockenen und disziplinierten Stadtarchitekten, ihrem Chef, und dem Außenseiter Ben, dem ehemaligen Journalisten und jetzigen Kipperfahrer mit der politisch brisanten Vergangenheit. Aber nicht nur die beiden reizen sie: Franziska ist eine Frau, die viel von der Autorin selbst hat - ihre Ausstrahlungskraft und ihre Sinnlichkeit, die ein besonderes Markenzeichen der Bücher (nicht nur der Tagebücher!) der Reimann sind. Als Franziska Linkerhand posthum 1974 veröffentlicht wurde, war das ein literarisches Ereignis. Nicht nur wegen der Erotik und der spannenden Lebensgeschichte jener jungen Frau, auch und vor allem wegen der kritischen Haltung zu „Grundpfeilern“ der Politik der SED. Brigitte Reimann hatte kein Blatt vor den Mund genommen bezüglich der Öde in der neuen sozialistischen Stadt, in der unschwer Hoyerswerda zu erkennen war. Sie hatte Tabu-Themen - Vergewaltigung, Selbstmord, Prozesse gegen Genossen in den 50er Jahren - aufgegriffen und das schöne harmonische Bild von „unserem Leben“ in Frage gestellt. Sie schilderte spießige Langeweile und Gewalt, Verantwortungslosigkeit und Korruption, und sie beschrieb es so, daß sich ihre leidenschaftliche Empörung darüber auf den Leser übertrug. Heute gelesen, erscheint mir der Eindruck noch intensiver, haben doch Nachwendeereignisse nicht nur in Hoyerswerda ihre Warnungen und Ahnungen bestätigt.

Ja, das Buch ist heute ein Ereignis wie damals, zumal seine neuerliche Veröffentlichung im Aufbau-Verlag eine zusätzliche Attraktion bietet: Das Buch ist um mehr als 20 Seiten länger und enthält die „eigentliche“ Fassung, die Brigitte Reimann hinterlassen hat. Der Verlag Neues Leben hatte zwar zugegeben, wenige Kürzungen vorgenommen zu haben, aber die erweisen sich hauptsächlich - wie Withold Bonner im Nachwort fundiert nachweist - als Streichung politisch brisanter Stellen, neben einigem, das der prüde Zensor für zu „sexy“ hielt. Damit wurde das Buch nicht wesentlich verändert, aber gemildert. Fast scheint es, als wären die Streichungen lediglich die Erfüllung einer absurden Pflicht, denn der aufmerksame Leser entdeckt im alten Text zumindest Hinweise oder auch Parallelszenen zu dem, was nicht gesagt werden durfte. Die Meldung nach oben, gestrichen zu haben, erfüllte wohl die Mächtigen mit der Genugtuung, das letzte Wort gehabt zu haben. Wie sich erweist, behielt das Brigitte Reimann. In einer dreitägigen Konferenz, veranstaltet vom Germanistischen Institut der Universität Potsdam und dem Literaturzentrum Neubrandenburg, diskutierten Wissenschaftler und Freunde der Autorin über ihr Leben und Werk, genauer: über ihr „Glück“, nur schreibend leben zu können und wirken zu wollen. Die Referenten kamen aus aller Welt: USA, Großbritannien, Finnland, Südkorea, Frankreich, Polen und natürlich Deutschland, und es ist schon faszinierend zu erleben und nachzulesen, wie anregend und unterschiedlich die Texte Brigitte Reimanns auf sie gewirkt haben. Bis auf einen Beitrag (der ausgerechnet die Medien der Oberflächlichkeit schalt, die er selbst vertrat) sprachen Fachleute, die ihr Wissen und Können mit dem Engagement verbanden, der Wahrheit nachzuspüren, frei von Rechthaberei und ohne Zugeständnisse an den „Zeitgeist“, der die Vergangenheit nur in Schwarzweiß zeichnet. Es ging um Sinnlichkeit und die Entdeckung des Körpers, um die Entwicklung vom „Weibchen“ zur emanzipierten Frau mit klarem Bewußtsein über die Rolle, zu der ihr Geschlecht über Jahrhunderte verurteilt war. Der Mythos in Franziska Linkerhand und überhaupt die vielen Fäden, die der Roman zum Werk anderer Autoren zieht, waren weitere Themen. Daß dieser Roman „bleiben“ wird - als Zeugnis vom widersprüchlichen Leben und von großen Träumen in der DDR und als ein Buch, das selbst Menschen in Asien und den USA faszinieren kann -, mag dabei nicht nur für Neubrandenburg und dessen imponierendes Literaturzentrum beglückende Bestätigung geleisteter Arbeit gewesen sein. Die Stadt leistet sich den Neubau eines Literaturhauses, das den Namen Brigitte Reimanns tragen wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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