Eine Rezension von Bernd Grabowski


Wenn Steine reden könnten ...

Diether Huhn: Berliner Spaziergänge

Koehler & Amelang, Berlin 1999, Band 2, 249 S. mit 77 Fotos

 

Was könnten ein altes Haus, ein Denkmal, eine Berliner Straße nicht alles erzählen, wenn Steine reden könnten! Offenbar sprechen sie doch, denn Diether Huhn hat ihnen ihre Geschichten abgelauscht. Manches allerdings mußte er zusätzlich noch in dicken Büchern nachlesen. Anderes entnahm er Gesprächen von Leuten, denen er unterwegs zugehört hat. So sind kurzweilige Berichte von Kiezrundgängen in Berlin entstanden, die er nach und nach im „Bezirksjournal“ veröffentlicht hat und hier gesammelt dem an Berlin interessierten Leser anbietet. 50 (nicht 55, wie der Klappentext verspricht) solcher Kurzreportagen sind auf diese Weise zusammengekommen.

Bereits im Jahr zuvor hatte der Verlag des „Bezirksjournals“ den ersten Sammelband herausgegeben. Der Erfolg jener ersten Neunundneunzig Berliner Spaziergänge hat wahrscheinlich Mut gemacht, den zweiten Band folgen zu lassen.

Ganz nebenbei erfährt der Leser Wissenswertes und Amüsantes, Bedeutsames und Belangloses zur Geschichte und Topographie Berlins, aus dem Alltagsleben in den einzelnen Wohngebieten, über die Häuser und ihre Bewohner. Denn Huhn schreibt nicht nur das auf, was er auf seinen Spaziergängen sieht und hört; er gibt, daran anknüpfend, auch seine Gedanken und Erinnerungen wieder. Auf diese Weise stellt er manche historische Persönlichkeit vor, die mit der Stadt verbunden war. Dazu gehören beispielsweise die Architekten Bruno Taut und Hermann Muthesius, die so viele Spuren in Berlin hinterlassen haben, die Leistungssportlerin Lilli Henoch, die von den Nazis in ein Todesghetto deportiert wurde, der Lokomotivkönig August Borsig, Theodor Fontane, der auch durch Berlin gewandert ist, Walther Rathenau, der als Außenminister einem Attentat zum Opfer fiel, die Gebrüder Grimm, die Sprachforscher und Märchensammler ... Die Aufzählung ist symptomatisch; Frauen sind in der Minderzahl, sie machen weniger als 10 Prozent der in Huhns Beiträgen erwähnten Personen aus.

Auffällig ist die Haltung des Autors zu den praktizierten bzw. versäumten Straßenumbenennungen. Dabei geht der ehemalige Vorsitzende am Berliner Landgericht nicht immer konform mit den Vordenkern der Berliner Landesregierung. So setzt er sich zu Ehren des gefallenen Barrikadenkämpfers von 1848 für eine von Gymnasiasten geforderte Ernst-Zinna-Straße ein und wendet sich dagegen, daß viele Straßen nach Generälen und Schlachtorten heißen.

Oft erläutert Huhn Herkunft und Bedeutung der Namen von Straßen, die er durchstreift. Ein paarmal aber läßt er leider gute Gelegenheiten aus, interessante Geschichten zum besten zu geben. So heißt es bei der Palisadenstraße lediglich ziemlich unklar, daß sie 1833 „in ihrer festungshaften Vorstädtischkeit ihren Namen erhielt“. Wer denkt da an die mit Zaun und Mauer gesicherte Zollgrenze rings um Berlin, von der uns noch das Brandenburger Tor erhalten geblieben ist? Und hinsichtlich der Ernst-Grube-Straße bekennt der sonst so belesene Autor in holprigem Deutsch: „Von dem Widerstandskämpfer, nach dem die Straße benannt ist, weiß ich nichts, als daß er einer war.“ Vielleicht geht es Lesern so mit dem Namen Saefkow. Diese werden ratlos die knappe Information über die Trelleborger Straße aufnehmen: „In Nummer 26 wohnten Saefkows. Widerstand, Tod.“ Von den drei Saefkows aus der Trelleborger 26 betrifft das Anton (der ein paar Worte mehr verdient hätte), nicht jedoch seine Frau Aenne und seine Tochter Bärbel. Noch rätselhafter erscheint die lapidare Andeutung: „Die Schule heißt jetzt nach Kurt Schwitters, fast eine Ironie.“

„Die Bellevuestraße ist eine der aufregendsten Straßen Berlins“, meint Diether Huhn. Er mag recht haben, aber er denkt dabei vor allem an das heutige Baugeschehen. Das dort gelegene Hotel „Esplanade“, in dem Kaiser Wilhelm II. seine Herrenabende abzuhalten pflegte, erwähnt er nur kurz mit einer Episode von 1922. Unerwähnt bleibt das benachbarte Königliche Wilhelms-Gymnasium, das später der Reichswirtschaftsrat nutzte und dann der Volksgerichtshof mißbrauchte.

Zu den verpaßten Gelegenheiten, Interessantes auszubreiten, gehört auch die Plastik auf dem Platz des 23. April. Aufgestellt wurde sie zu Ehren der Opfer der Köpenicker Blutwoche, eines Massakers der SA im Juni 1933. Huhn nennt die Faust von Köpenick lediglich geheimnisvoll ein Denkmal, „das unklare Geschichten erzählt über eine Köpenicker Geschichte, die eine deutsche Geschichte ist und aus der wir nach wie vor nichts lernen wollen“. Wir wollen daraus nichts lernen? Huhn gibt den Lesern gar nicht die Chance dazu, aus dieser Geschichte zu lernen, denn er verschweigt sie uns in diesem Band. (Im ersten Band steht darüber mehr.)

Überhaupt hätte mehr Sorgfalt dem Buch gutgetan. Was beim schnellen Schreiben fürs „Bezirksjournal“ noch entschuldbar ist, kann bei der zweiten Veröffentlichung in Buchform nicht mehr so einfach hingenommen werden. Da sind störende Schreibfehler im Text, da sind Namen von Straßen, Plätzen, Bahnhöfen und Objekten unkorrekt geschrieben oder vertauscht worden. In einen Topf geworfen ist das Toleranzedikt von Nantes (1598) mit dem Edikt von Fontainebleau (1685), das die massive Verfolgung der Hugenotten in Frankreich einleitete. Besonders peinlich sind Verwechslungen von Personen, so des Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner (1890-1944) mit dem Kommunisten Bruno Leuschner (1910-1965), des Dichters August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) mit dem Architekten Ludwig Hoffmann (1852-1932). Im unklaren bleibt der Leser, ob es sich bei dem erwähnten Friedrich Ebert um den Reichspräsidenten oder dessen gleichnamigen Sohn, den Berliner Oberbürger meister, oder aber um beide handelt. So lobenswert, wie das in Band 2 eingeführte Register ist, so ärgerlich sind darin Dutzende Fehler und Lücken.

Der Stadtspaziergänger Huhn setzt seine Artikelfolge im „Bezirksjournal“ fort. Es ist zu wünschen, daß auch die Sammelbände weiter erscheinen - jedoch dann so verantwortungsbewußt bearbeitet, wie es der Jura-Professor Huhn in seinem Beruf gewöhnt sein dürfte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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