Eine Rezension von Jan Eik


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Mörderisch gut?

 

Rainer Leonhardt/Frank-Rainer Schurich: Berlin mörderisch
Ein kriminalhistorischer Führer mit Straße und Hausnummer.

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1999, 256 S.

 

An aktueller und historischer Berlin-Literatur mangelt es nicht; der Rezensent bekennt sich als Verfasser eines Berlin-Lexikons zu eigener Mittäterschaft und wirft nun quasi aus dem Glashaus Steinchen auf diesen ansprechend ausgestatteten kriminalhistorischen Führer, zu dem die Idee lange genug ungenutzt auf der Straße lag. Immerhin gibt es in Berlin seit einigen Jahren organisierte Führungen zu den Schauplätzen historischer Untaten. Die beiden Verfasser haben dieses weite Feld mit Fleiß und langen Blicken in die Stadtgeschichte beackert.

Untergliedert haben sie ihren mit beachtlicher Sachkenntnis zusammengetragenen Stoff in vier Routen, und schon hier beginnt das Dilemma, denn längst nicht alle bemerkenswerten Verbrechen haben sich in Berlin zwischen Strausberger Platz und Brandenburger Tor ereignet - was die Autoren etwa im Fall der Gladow-Bande oder dem der Gebrüder Saß zu umständlichem Hakenschlagen und Wiederholungen im Text verführt. Dessen logischer wie chronologischer Zickzackkurs samt langwierigen Abschweifungen, unglücklichen Formulierungen und zu vielen Ausrufezeichen stellt ohnehin einige Ansprüche an den geneigten Leser respektive Wanderer, zumal der Verlag vorsichtshalber auf ein Orts- und Namensregister verzichtet hat. So fehlt der Westen der Stadt - sieht man von einem Zipfel Kreuzberg ab - fast gänzlich. Darüber hinaus wechseln nicht nur die Zeitformen sehr willkürlich. Da ist der Spreearm, „der sich (sic!) hier Kupfergraben nennt“, fünfzig Seiten vorher noch die „Spree vor der Jungfernbrücke“, und aus dem der Todesstrafe abholden „liberalen“ Kronprinzen Friedrich Wilhelm (S. 67) wird gut hundert Seiten später gar „der spätere letzte deutsche Kaiser Wilhelm II.“!

In der dynastischen Geschichte des Kaiserreichs sind die Verfasser wenig sattelfest. Auf Seite 172 heißt es: „Die Linden waren auch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts noch Schauplatz der Ausflüge des Kaisers in den Tiergarten.“ Wann sonst? Deutscher Kaiser wurde Wilhelm I. bekanntlich erst 1871, ihm folgten 1888 - also ebenfalls noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts - der Kronprinz Friedrich Wilhelm als Kaiser Friedrich und nur drei Monate später dessen Sohn Wilhelm II. nach.

Die Verfasser schreiben „erdeben“, wenn sie ebenerdig meinen, „schwerlich“, wenn schwer oder schwierig gemeint ist, und nennen einen gewissen Gottfried Ephraim Lessing als Zeitgenossen des Veitel Heine Ephraim. Sie behaupten, daß die Alte Leipziger Straße noch bis 1969 durch das Gebäude führte, das zu DDR-Zeiten als Haus des Zentralkomitees der SED bekannt war. Die Alte Leipziger war schon 1935 für den Reichsbank-Bau verkürzt worden, in dem vor dem ZK der SED dann lange das DDR-Finanzministerium residierte. In der „Odyssee des Alten Fritz“ fehlt der langjährige und wohlbekannte Denkmalsstandort am Hippodrom von Charlottenhof, und die Odysseen der Denkmäler von Stalin und Lenin wären wohl ebenfalls anmerkenswert.

Über derlei ließe sich bei der Fülle der richtig wiedergegebenen Fakten leicht hinwegsehen, bliebe da nicht ein ernstzunehmender Mangel, der mir bereits in der Auswahl der „mörderischen“ Vorfälle (die so mörderisch denn zuallermeist auch gar nicht sind) und ihrer Schauplätze zu liegen scheint. Während manch beiläufigem und hinlänglich bekanntem Tatbestand aus grauer Vergangenheit ausreichend Platz eingeräumt wird, bleiben politisch motivierte Verbrechen der jüngeren Berliner Geschichte - und deren gab es wahrlich genügend - weitgehend ausgeklammert. Das mag bei den Morden an Liebknecht, Luxemburg und Rathenau, ja bei den Morden im Zeitungsviertel oder bei der nur gestreiften Topographie des Terrors in der Absicht der Autoren gelegen haben; daß über die politische Justiz der DDR jedoch gänzlich der Mantel des Schweigens gebreitet wird, entwertet den insgesamt durchaus empfehlenswerten Stadtführer unnötig. Das Gebäude des Ministerrats der DDR wird genannt - daß dort Grotewohls Sekretärin als Agentin enttarnt (und noch im gleichen Jahr hingerichtet) wurde, bleibt ebenso unerwähnt wie der angeblich spionierende Außenminister Dertinger oder der Justizminister Fechner, die als Staatsfeinde zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Auch an Walter Jankas Verhaftungsort gehen die Verfasser achtlos vorbei.

Und weshalb wird Werner Gladows Alter zur Tatzeit nicht korrekt genannt und in diesem Zusammenhang der beteiligte (Ost-)Berliner Scharfrichter Völpel (der am Alex schwarzhandelte, wo seine Frau auf den Strich ging) verschwiegen? Haben die Autoren auf die Gegend der nördlichen Friedrichstraße (und damit beispielsweise auf den Schauplatz des vorgeblichen und in der DDR publizistisch breit ausgeschlachteten Pferdediebstahls im Zirkus Barlay) mit dem Leichenschauhaus und dem Ort des angeblichen Übertritts von Otto John in die DDR verzichtet, um auch den Ort des bis heute ungeklärten Todes von Willy Kreikemeyer in der Albrechtstraße nicht nennen zu müssen?

Hier gehen die Verfasser wohl allzu leichtfertig mit der kriminellen Vergangenheit um. Hilde Benjamin lediglich als „erste Justizministerin der Welt“ zu apostrophieren, ohne ihre gemeinsam mit dem Nazi Melsheimer gefällten Todesurteile auch nur zu erwähnen, heißt die Geschichte wieder einmal durch Verschweigen zu verfälschen. Hat es am Alex an einem Jahrestag der DDR und am Brandenburger Tor in deren Endzeit nicht mehrfach Polizeiaktionen gegen aufmüpfige Jugendliche, aber auch gegen gänzlich Unbeteiligte gegeben?

Und weshalb bleibt bei der breit angelegten Route um den Ostbahnhof, wo wehmütig der verschwundenen Baracken der einstigen Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität gedacht wird, das Gebäude ungenannt, in dem der zum Tode verurteilte und hingerichtete Agent Burianek seine angeblich so schauderösen Verbrechen plante?

Man muß keine besonderen kriminalistischen Fähigkeiten entwickeln, um die Verfasser als ehemalige Mitarbeiter ebenjener Sektion Kriminalistik zu erkennen, an der - und auch das bleibt unerwähnt - das Ministerium für Staatssicherheit einen Teil seines Nachwuchses ausbildete. War die zu befürchtende mangelnde Objektivität der dortigen Wissenschaftler etwa einer der Gründe für die Abwicklung der an sich so verdienstvollen Einrichtung? Dann haben die Verfasser den Abwicklern nachträglich Argumente geliefert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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