Eine Rezension von Helmut Hirsch


„Rätin, er lebt!“

Klaus Seehafer: Mein Leben ein einzig Abenteuer
Johann Wolfgang Goethe - Biografie.

Mit 22 Abbildungen
Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 496 S.

 

Im Sommer nächsten Jahres laufen nicht allein die Räder der Jahrhundert- und Jahrtausendfeierlichkeiten heiß, die vermutlich glühend-hysterischen Blicke ins nächste Jahrtausend, das ja erst mit dem 1. Januar des Jahres 2001 beginnen wird, wie Rechner längst festgestellt haben, also: Jene fiebrigen Blicke ins bevorstehende Jenseits aller Diesseitigen haben am 28. August 1999 noch eine gute Gelegenheit für einen klassischen Rückblick. Goethes 250. Geburtstag wird gefeiert. Die Verlage haben bereits im Frühjahr 1998 damit begonnen, Goethe-Titel auf den Markt zu bringen. Goethe im Roman, auch ein Goethe-Krimi, Goethe selbst und natürlich Bücher über Goethe. Der Berliner Aufbau-Verlag hat sich mit der „Berliner Ausgabe“ von Goethes Werken in zweiundzwanzig Bänden schon vor Jahrzehnten verdient gemacht. Jetzt hat er es gewagt, allen Biographien über den Klassiker aus Weimar noch eine weitere hinzuzufügen.

Ein Wagnis ist das allemal, die Biographie dieses universellen Mannes in nur einem Buch vorzustellen. Klaus Seehafer, Buchhändler und Bibliothekar, hat es diesmal versucht. Und man kann es gleich zu Beginn dieser Besprechung mitteilen, es ist ihm nicht mißlungen. Wer vieles bringt, muß jedem etwas bringen. Und so ist diese Goethe-Biographie Mein Leben ein einzig Abenteuer - für Leser verschiedenster Art geeignet. Literaturhistoriker werden damit weniger zu tun haben wollen, denn eigentlich gibt es nichts Neues zu entdecken. Keine Geheimnisse, kein neoklassizistischer Klatsch, keine artifiziellen Interpretationen. Kenner oder wenigstens Goethe-Leser werden an vieles erinnert und auf neue dokumentarische Einblicke aufmerksam gemacht. Zuallererst aber spricht dieses Buch Neulinge an, also doch wohl jüngere Leute, die sich nicht so rasch auf klassische Literatur einlassen werden. Man muß ihnen deshalb mit einer artistischen Brücke kommen. Auch Goethe ging ja gern über solche Brücken, etwa zum Gartenhaus an der Ilm. Die Brücke, mit der Klaus Seehafer beginnt, stammt aus dem Jahre 1873. Damals „war viel die Rede von einem jungen Mann, der seine Lehre schmiß, sich eine Weile ausklinkte und in einer Schrebergartenlaube versteckte. Gleich in der ersten Nacht muß er im Finstern aufs Klo, sucht natürlich Papier, greift neben sich und ertastet ein Reclam-Heft, dessen erste und letzte Seite er für sein dringliches Anliegen verwendet. Als er das Buch ohne Titel später zu lesen beginnt, hat er keine Ahnung, was es ist, noch von wem es ist.“

Die Leiden des jungen Werthers, Goethes erster Roman, der einst so viel Furore gemacht hatte, wurde von Ulrich Plenzdorf in der Erzählung Die neuen Leiden des jungen W. auf ungewohnte Art vorgestellt und spielerisch-ironisch einer jungen, skeptischen Generation (Ost und West gleichermaßen, wie der Erfolg des Buches, der auch ein Erfolg auf vielen Bühnen wurde, zeigte) nahegebracht. Das war seinerzeit ein Coup, über den Literaturhistoriker die Nase rümpften, jugendliche Leser aber in helle Begeisterung gerieten. Ein Buch durch ein Buch vorstellen, einen Klassiker durch einen Gegenwartsautor bekannt machen, das war die Absicht Plenzdorfs. Goethes Roman wurde damals wieder häufiger gelesen. Und das in einer Zeit, in der heftige Anti-Goethe-Debatten in der DDR tobten. Daran beteiligt haben sich fast alle namhaften Autoren, weil es damals viel mehr um E.T.A. Hoffmann, Novalis oder Jean Paul ging als eben um das „Standbild“ Goethe.

Klaus Seehafer erinnert nun an jenes Vergnügen, denn ihm geht es um „Auffrischen und Lesen“. Mit einem Spruch Goethes läßt sich immer etwas anfangen: „Das Jahrhundert ist vorgerückt; jeder Einzelne aber fängt doch von vorne an.“ Ein treffliches Wort, für Seehafer die Konstellation für ein ganzes Buch: „So ist es zu Goethes Zeiten gewesen, und heute ist es nicht anders. Indem ich mich also auf den Weg mache, folge ich dem, was andere vor mir entdeckt haben, schau’ s mir auf meine Weise an und erzähle davon.“ Neugierde immerzu, um zu vermeiden, daß Goethe auf einem Podest erscheint, eine Wanderung also, und bei der hofft der Autor, am Ende „ein paar Wanderer mehr“ gewonnen zu haben.

Klaus Seehafer weiß, daß Historiker gern und ausgiebig von Goethes Lebens-Werk gespro chen haben. Er dreht den Spieß gleich zweimal um und sagt, Goethe „hat zweierlei Werk geschaffen: ein niedergeschriebenes und ein gelebtes“. Man kann diesen Ansatz als Methode gebrauchen, ganz zutreffend ist das aber nicht: „An seiner persönlichen Entwicklung hat er mindestens so gearbeitet wie an seinen Gedichten.“

Zu den erfreulichen Erfahrungen bei der Lektüre dieses Buches zählt nun, daß Seehafer - ist es Ironie oder Absicht? - im Laufe seines Erzählens Stück für Stück beweist, daß dies gar nicht auseinanderzuhalten ist. Wer nur den „Werther“ oder nur den „Faust“, wer nur die „Italienische Reise“ oder nur die „Wahlverwandtschaften“ liest, liest zwar immer Goethe, nie aber erhält er das Bild dieses vielseitigen Mannes.

Klaus Seehafer folgt „wechselnd den Spuren seines Lebens und seiner Lebens-Landschaften“, ergo Innen- und Außenwelten.

Zum Koloß verklärt wurde Goethe oft, auch aus psychoanalytischer Sicht sein Leben durchwühlt, und nicht wenige Wissenschaftler haben das bunte, bewegte Leben neben dem Werk manchmal fast vergessen.

Seehafer will aber „Lust auf ein unabhängigeres Anschauen der Dinge im eigenen Leben machen. Denn wenigen Menschen ist es gelungen, sich die Welt derart frei und eigenwillig anzueignen, wie dem Dichter und Naturforscher Goethe.“

Erzählt wird dieses abenteuerliche, arbeitsreiche und reisefreudige Leben chronologisch. Alle wichtigen und zum größten Teil bekannten Erscheinungen, Entdeckungen und Leistungen in Poesie und Naturwissenschaft werden dargestellt. Anreger, Beförderer und Kritiker stehen neben Freunden, Feinden und aufdringlichen Umschwärmern. Ein Mosaik der Zeit, der Zeiten, bei solch einem intensiven und langen Leben, wird entworfen. Manchmal, besonders bei der Schilderung der Vorfahren, tritt Goethe sogar etwas zurück. Seehafer hebt Einzelheiten hervor, die mancher Biograph übersieht, die aber wichtig sind. So etwa der Gang in den Keller des Geburtshauses in Frankfurt am Main, wo der Vater dem Sohn den Urstein zeigt. Oft stellt der Autor Goethe aus dem Blickwinkel anderer dar, seiner Kritiker wie seiner Sekretäre. Und er hebt hervor, daß man seine Abneigung gegen einen anders denkenden Mann ändern kann, wenn man erst einmal mit ihm ins Gespräch kommt. Goethes Frauen werden liebevoll als eigene Wesen geschildert, immer ist Willkommen und Abschied, ein durch die ganze Lebenschronik sich hinziehendes Thema. Alle Wellen des Lebens, Haupt- und Neben-Bekanntschaften, Lektüreerfahrungen und poetische Ver- und Entwicklungen werden sichtbar. Es ist stets zu viel, um in jedem Fall auch ausreichend vorgestellt zu werden. So klaffen Lücken, kommt der Autor um Auslassungen nicht herum.

Der Blick aufs Ganze ist beeindruckend, sieht man sich aber Einzelheiten näher an, wachsen Bedenken, überrascht die willkürliche Verknappung. Auf der einen Seite: die Fülle des Lebens und die Vielfalt des Werks. Und auf der anderen Seite die vielen offenen Stellen. Denn das ergeht jedem so, der sich mit Goethe einläßt. Man stößt auf ein Erlebnis, auf ein Detail und will es beschreiben. Bald merkt man, da eröffnen sich erstaunliche Dimensionen, die ein ganzes Buch für sich allein beanspruchen können. Und viel Gescheites ist in der schier endlosen Goethe-Literatur nachlesbar. Es kommt immer hinzu, daß Goethe ja selbst so vieles, so treffliches zu seinem Werk, zu seinen Lebenserfahrungen gesagt hat. Klaus Seehafer, der viel bieten will, jagt hin und her, da ein Zitat, dort ein Auszug. Bei Friederike Brion „verstört den jungen Mann“ die „Heftigkeit des Gefühls“, einer muß leiden, und Seehafer folgert: „Das sind wuchtige Hammerschläge auf seine arme Seele, und unter dem Anprall dieser unsichtbaren Ereignisse reift er zum eigenständigen Dichter, dem ab jetzt wieder die ergreifendsten Verse gelingen werden.“ In der Verkürzung lauert immer Gefahr. Seehafer ist gründlich, was die Quantität betrifft, kann es aber nicht verhindern, oberflächlich im Detail zu sein. Das kann man ihm nicht einmal vorwerfen, denn das ist ganz unvermeidlich. Gründlicher, genauer, vor allem aus sich selbst heraus sprechend, das wäre eben noch mehr Goethe im Zitat gewesen, doch das wären zwei, drei Bücher geworden. So aber wird eines der wichtigsten nichtpoetischen Werke plötzlich mit dieser lapidaren Bemerkung eingeführt: „Auch die ,Farbenlehre‘ gedeiht weiter.“

Später ist es „mit 1487 Seiten sein mit Abstand dickstes Werk nicht nur auf naturwissenschaftlichem Gebiet“, dann wieder „Goethes größtes Werk zu den Naturwissenschaften“.

Klaus Seehafer muß oft haltmachen, damit ihn der Strom der Ereignisse in Goethes Leben nicht fortreißt. So poltern Gemeinplätze, die den weitgehend flüssigen Passagen des Buches im Wege stehen: „Seine Ansprechbarkeit über die Sinne ist sicher ein Grund für den besonderen Charakter seiner Dichtungen, aber er hat auch tüchtig darunter zu leiden.“ Oder: „Und das ganze Schulgerede von Sinn und Form und Maß und Ziel der Klassik betrachten wir wohl besser unter dem Blickwinkel, daß sich hier jemand Form erarbeitet, weil er das Formlose in sich fürchtet. Der Maßlose braucht die Begrenzung. Der faustisch gespaltene Mensch ein klares Ziel. Die große Abneigung Goethes vor den Romantikern kommt nicht zuletzt daher, daß ihnen Zwielicht und Dunkel so lieb sind. Er aber sehnt sich nach Licht.“

Da schleichen sie sich wieder ein, die alten Vorbehalte, blind nachgebetet. Kein Wunder, daß dann Schiller auch wieder als „hochgespannter Idealist“ erscheint. Das ist der Mangel an durchdachter Erzählung. Die Not, immer wieder zu charakterisieren, wo nicht gestaltet wurde, schlägt Löcher in den Text. Das wird an vielen Stellen deutlich, vor allem dann, wenn Übergänge zu schaffen sind oder Personen aus der Korrespondenz Goethes Erwähnung finden.

Lichtenberg zum Beispiel ist einmal „der kleine kluge Professor aus Göttingen“, später „der blitzgescheite Göttinger Physikprofessor“ und an anderer Stelle „der scharfzüngige Lichtenberg“. Klaus Seehafer ist sich der erdrückenden Fülle des Materials bewußt geworden, man kann auf vierhundertsechzig Seiten nicht immer wieder Goethe entdecken, neu vorstellen, seine Leistungen, seine vielgestaltige Liebe, seine Vorlieben und Launen erklären. So springt der Autor in regelmäßigen Abständen aus dem historischen Kontext heraus, bringt touristische Einsprengsel unter, Wege durch Wetzlar oder Weimar, die er selbst auf den Spuren Goethes absolviert hat. Das nimmt zwar eine gewisse Spannung aus dem überanstrengten Text, bringt aber kuriose, plötzlich ganz zeitnahe, leider auch recht banale Lichter.

Was erfährt, was lernt der Leser aus solchen Eskapaden Seehafers? „Die Altstadt von Wetzlar ist heute sauberer und gepflegter als zu Zeiten des im Straßenschlamm ausrutschenden Kestner. Bequem läßt es sich von Gedenktafel zu Gedenktafel promenieren.“ Oder: „Wanderungen auf Werthers bzw. Goethes Spuren sind natürlich besonders authentisch, wenn man sie im Mai unternimmt. Auch ist die schöne Umgebung dann von besonderem Reiz.“ Mag sein, aber derlei „authentische Reize“ gehören eher in einen regionalen Wanderführer, nicht aber in eine Goethe-Biographie. Manchmal sind aber die persönlichen Gänge durch die Städte auch ergiebig. In Leipzig entdeckt Seehafer alte Gräber, verwunschene Ecken. In Weimar sucht und findet er wiederum Gräber derer, die einst mit Goethe verbunden waren. Leider setzt er dann auch wieder seine Pointen ein, die längst Patina angesetzt haben: „Im schicksalsträchtigen Sommer 1989 vor der Wende, als viele DDR-Bürger die Flucht ergriffen, wurde den beiden Nationalhelden der Feder (Seehafer meint das Goethe-Schiller-Denkmal von Rietschel vor dem Nationaltheater, H. H.) über Nacht ein großes Schild um den Hals gehängt: WIR BLEIBEN HIER.“

Auch mokiert sich Seehafer über Goethes Humor, „noch nie weit her... kann nichts relativieren. Er nimmt alles ernst.“ Manches, nicht alles. Ernst nehmen sollte der Autor dieses Buches aber auch manches dargestellte Detail. Goethe, meint er, „hat auch Sinn für Witz und Satire. Das zeigen zuletzt die Xenien oder auch die Satire ,Musen und Grazien in der Mark‘ (1796), ein Gedicht, das den Natürlichkeitsquark in der Dichtung verspottet und das man noch heute manchem zweitklassigen Ökopoeten ins Stammbuch schreiben möchte.“ Zu weit daneben getroffen, denn die „Musen und Grazien in der Mark“ sind keine Satire, sondern eine Parodie. Sie richtet sich außerdem gegen den Pfarrer und Poeten Schmidt von Werneuchen. Auch darf es als eine Art Belohnung für den Landpoeten Schmidt gesehen werden, daß Goethe ihn parodierte. Parodie bedarf kräftiger, wenn auch enger Eigenart. Und später nannte Goethe den Parodierten zudem einen „wahren Charakter der Natürlichkeit“.

Bei der Zusammenstellung des Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre treibt Goethe, sagt Seehafer, „seine Stopfwurst-Poetik bis zum Äußersten“; fährt der Autor dieser Biographie nach Weimar, „waren es eigentlich immer die Betten, die mich bei meinen Besuchen am meisten bewegten“ (!), reflektiert er über Goethe ganz und gar, stellt er fest: „Ein Scheiternder, Fliehender, ein neu Ansetzender. Wo ist das Denkmal, das ihn so zeigt?“ Hier ist der Einwurf erlaubt, hier, in diesem Buch findet der Leser das Denk-Mal, das Seehafer ihm vormacht.

Schließlich hätte auch der Verlag (trotz Klein-Lektorat) verhindern können, was nun kommt: „Immer bekommen wir ihn nur als den Sieger, den Weltmeister in Sachen Weltliteratur zu sehen... Als Dichter sitzt er auf einem ganzen Stapel mittelmäßiger, fallengelassener und unvollendeter Werke und ist dem großen Lesepublikum nur noch Erinnerung.“

Summa summarum: ein fülliges, ein fleißig erarbeitetes Buch. Aber eines, das zu viel leisten will: Goethes Biographie noch einmal von Anfang bis Ende erzählen. Zwar ein reichhaltiger, aber auch ein lückenreicher Knüpfteppich liegt vor dem Leser. Der sollte sich aber auch durch diesen Versuch nicht entmutigen lassen, Goethe wieder oder zum erstenmal zu lesen. Denn dieser Mann ist nicht totzukriegen. Und so können wir uns getrost wieder dem Beginn dieses wichtigen, gewichtigen, tönend-widerspruchsreichen Lebens nähern. Es ist und bleibt für diese Gelegenheit so wunderbar anschaulich, was Kornelia Goethe ihrer 19jährigen Schwiegertochter nach der Geburt Goethes zurief: „Rätin, er lebt!“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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