Eine Rezension von Sebastian Kiefer


Dichter und Forscher

Otto Krätz: Goethe und die Naturwissenschaften

Georg D. W. Callwey Verlag, München 1998, 236 S.

 

Nicht der "Faust", nicht "Tasso" und nicht "Werther", sondern zuallererst die Farbenlehre sollte auf den Lehrplänen stehen, wenn es nach Goethe selbst ginge. "Auf alles, was ich als Poet geleistet habe", ließ der alte Geheimrat rückblickend seinen unentbehrlichen Eckermann wissen, "bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere mit mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zu gute." Angefangen hatte alles ganz unscheinbar und recht bald nach der italienischen Reise. Seiner eigenmächtigen Entfernung aus Karlsbad gen Süden wegen empfing den Heimgekehrten die Hofgesellschaft kühl (die unzüchtige Liaison mit Christiane tat ein übriges), und Goethe stürzte sich, wie oft in Krisenzeiten, ins Tüfteln, Laborieren und naturwissenschaftliche Studieren. Die 1784 gemachte Entdeckung des Zwischenkieferknochens - kein beliebiger, sondern einer, der nicht weniger als die bruchlose Entwicklung vom Tier zum Mensch beweisen sollte - wird nun publik gemacht. A. G. Werner, Freiberger Professor für Mineralogie und Bergbaukunde, bestätigt und formt alte Intuitionen Goethes vom Urelement Wasser und überzeugt ihn restlos vom "Neptunismus"; Goethe pflegt seine wissenschaftlichen Beziehungen zur Universität Jena, regt naturkundliche Sammlungen und einen botanischen Garten (mit) an, die "Metamorphose der Pflanze" erscheint, und im Januar 1790 ist es dann soweit: Hofrat Büttner läßt sich nicht länger vertrösten, schickt einen persönlichen Boten, und der säumige Goethe muß die vor Zeiten ausgeliehenen Glasprismen, ob er will oder nicht, wieder aus den Händen geben. In der Eile will Goethe wenigstens einen einzigen Blick hinein getan haben und siehe da: "Aber wie verwundert war ich, als die durchs Prisma angeschaute weiße Wand nach wie vor weiß blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran sich stieß, sich eine mehr oder weniger entschiedene Farbe zeigte [...] Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, daß eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei." In einer Sekunde ist es entschieden, und vier verbleibende Lebensjahrzehnte können daran nichts mehr ändern - Goethe steht quer zu Newton und damit zu einem ganzen Jahrhundert. ("Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben. Gar manches / Hat er euch weis gemacht, das ihr ein Säculum glaubt.") Eine tragische Verirrung, ja, eine Lebensneurose den einen, ist die Farbenlehre den anderen noch heute eine quasi-religiöse, bedeutsame Geheimlehre - nur die Künstler von Runge bis Itten, die machten, unbeeindruckt von diesem Zank, ganz einfach und dankbar Gebrauch von ihr.

Wie es zu diesem Zwist kam, was Goethe sich aneignete, was er wußte und nicht wußte - daß er zum Beispiel von Newton nur höchst Ungefähres wußte, als er den schicksalhaften Blick durch Hofrat Büttners Glas tat -, das läßt sich schwerlich genauer, vollständiger, lesbarer und nicht zuletzt angenehmer illustriert nachlesen als im Buch von Otto Krätz, seines Zeichens Wissenschaftshistoriker am Deutschen Museum in München. Es ist eine glückliche Verbindung von Fachkenntnis, die alles, was ein Germanist sich in Sachen Wissenschaftsgeschichte aneignen könnte, naturgemäß übersteigt, und einer unprätentiösen, im besten Sinne populär gehaltenen, lebendigen Darstellungsmanier, die die Lebensgeschichten stets eng mit einbezieht und so nicht zuletzt eine Biographie des Wissenschaftlers Goethe ist.

Vieles, was sich sonst nur an entlegener Stelle finden ließe - hier wird es kurzweilig und mit leichter Hand eingeflochten, das sattsam Bekannte nicht nur anekdotisch ergänzend. Und Krätz bringt das Kunststück fertig, ganz selbstverständlich auch dem Goethe-Kenner Unbekanntes einfließen zu lassen, ohne die Lesbarkeit zu trüben, neue Details etwa in den Beziehungen zu anderen Wissenschaftlern - zum genialischen Pfarrer Hahn aus Stuttgart zum Beispiel, einem Pionier der Rechenmaschinen (der allerdings von Ideen des G. W. Leibniz' zehrt). Zu ihm und zu seinen Konstruktionen trat Goethe, wie Krätz nun zeigt, schon geraume Zeit vor dem bekannten Halt auf dem Rückweg der zweiten Schweizer Reise in Kontakt. Den nicht unbekannten, im regalfüllenden Kompendium "Goethe von Tag zu Tag" verzeichneten, Besuch von Friedlieb Ferdinand Runge, der sich aus erdrückenden Verhältnissen hocharbeitete, dann sein Medizinstudium aufgab zugunsten der Chemie, weil er die pupillenerweiternde Wirkung des Bilsenkrautsaftes entdeckte, vergißt Krätz nicht, doch gibt er eben auch Vor- und Nachgeschichte der Begegnung dazu. Der Besuch hatte nämlich auf beiden Seiten bemerkenswerte Folgen, nicht nur auf Goethes, der an Katzenpupillen die Experimente bald selbsttätig und ein klein wenig abgewandelt wiederholte: Auch Runge ging angeregt davon und übernahm, als er später in Berlin bedeutende chemische Entdeckungen machte, den für Goethe so grundlegenden Begriff des "Bildungstriebes" in der Natur. Wir erhalten so feine Ansichten der Sozial- und Wissensgeschichte und zugleich mit der Erzählung der Vor- und Nachgeschichte einen genauen Eindruck von der Tragweite solcher Begegnungen, deren es schier unzählige gab in Goethes rastlos tätigem Leben.

Wie sich die praktischen Zwänge amtlicher Pflichten mit einem nie gestillten Wissensdurst vereinen können, das erfahren wir von Krätz nicht nur am wohl berühmtesten Beispiel, dem Fall des Bergwerkes zu Ilmenau, das Goethe für seinen Herzog wieder flottmachen sollte, auf daß es der stets maroden Wirtschaft des kleinen Landes aufhelfe: "Ich kam höchst unwissend in allen Naturstudien nach Weimar, und erst das Bedürfnis, dem Herzog in mancherlei seiner Unternehmungen, Bauten, Anlagen, praktische Ratschläge geben zu können, trieb mich zum Studium der Natur. Ilmenau hat mir viel Mühe und Geld gekostet, dafür habe ich auch etwas gelernt und mir eine Anschauung der Natur erworben, die ich um keinen Preis umtauschen möchte", bilanziert der greise Dichter ein halbes Jahrhundert später (und Kanzler Müller hört zu). Auch das gehört zum Genie Goethes, dieses energische Interesse an höchst praktischen Dingen, die dann unter seinen Händen doch auch stets ein Stück Wissen und Weisheit abzuwerfen pflegen. Ganz genauso geschah es, als Goethe die Aufsicht über den Landstraßenbau übertragen wird und noch oft danach. Die rührende Seite des Goetheschen Dranges zum Wissen ist eine ganz handfeste Lust am Herumprobieren, die man einem Olympier nicht ohne weiteres zutraut: Goethe war nicht nur leidenschaftlich interessiert an der Theorie der Verbrennung und der Chemie der Gase, die im ausgehenden Jahrhundert viele Gemüter bewegte, er stellte auch eigenhändig den sensationellen ersten "Montgolfiere"-Flug im Kleinformat (zunächst glücklos) nach - ein kleines, hübsches Ballönchen mit Wasserstoffüllung ließ er den Apotheker am Ort eigens dazu anfertigen. Es ist Spiel, und es ist Ernst und gewichtig, wie wir dem launigen Bericht Goethes entnehmen können: Hofapotheker Buchholz - damals noch ein Amt, das außer zum Verkaufen auch zur wissenschaftlichen Tätigkeit verpflichtete - "peinigt vergebens die Lüfte, die Kugeln wollen nicht steigen. Eine hat sich einmal bis an die Decke
gehoben und nun nicht wieder. - Ich habe selbst in meinem Herzen beschlossen, es stille anzugehen, und hoffe auf die Montgolfiers Art eine ungeheure Kugel gewiß in die Luft zu jagen."

Später vertraut Goethe seinem Notizblock sogar an, wie sehr es ihn damals, im Spätherbst 1783, traf, den (bemannten) Luftballon nicht gleich selbst erfunden zu haben. Spiel, Bastelei und Probierlust schlagen um in höchste (oder besser: überspannte) Hoffnungen, sich in der Wissenschaftsgeschichte einen Namen zu machen, auch das gehört zu Goethe. Zu guter Letzt aber, in den "Maximen und Reflexionen", findet Goethe schöne, abgeklärte Worte für die "Weltbewegung", die die ersten Luftschiffer auslösten, auch wenn er selbst - wieder einmal - mehr provinzieller Zaungast als Protagonist war.

Die Anhäufung von Wissen in Anatomie, Mineralogie, Geologie, Botanik, Chemie, Zoologie wäre nicht möglich gewesen ohne den Verkehr mit einer Unzahl von wissenschaftlich regen Geistern - von einem rührigen Steinschneider in Karlsbad, mit dem Goethe ein Werkchen über die lokalen Mineralien verfaßt, bis hinauf zu Lichtenberg, in dessen Göttinger Vorlesungen Goethe höchstselbst pilgert, der ihn später verstört, weil er auf die Thesen zur Farbenlehre mit Schweigen reagiert, und bis ganz hinauf zu Alexander von Humboldt, dessen enzyklopädischen, experimentierfreudigen und doch stets auf ein ganzheitliches Bild der Natur ausgehenden Geist sich Goethe verwandt und zugleich (ein einmaliger Fall) unterlegen fühlte. Einige tüchtige, wenngleich nie so überragende Köpfe, daß sie das schmale Salär in Weimar oder Jena ausschlagen könnten, bildet Goethe sich im Verein mit seinem in naturforscherlichen Dingen kaum weniger interessierten Brotherrn Carl August regelrecht heran: Der junge Provisor des Hofapothekers Göttling ist
einer von ihnen. Er wird mit Staatsgeldern nach Göttingen geschickt und nach der Promotion in Jena zum Professor gemacht. Die Professur war so kläglich ausgestattet, daß sie die Familie des Schützlings dem Hunger nahe brachte, doch der fleißige und ergebene Göttling vergalt die in ihn gesetzten Hoffnungen bald. Er ging Goethe zur Hand bei allerlei farbchemischen Versuchen, stopfte - mit eingeschränktem Erfolg - empfindliche Wissenslücken des Geheimrates auf dem Feld der Chemie und erfreute seinen Mentor, als er sich einen Namen als Gegner der verbreiteten, wiewohl schon damals, 1794, fast ein Jahrhundert alten Phlogiston-Theorie machte (nach der ein "Phlogiston" genannter Stoff aus brennenden Körpern entweichen sollte). Auch hier gibt Krätz uns Stoffreiches aus Goethes Leben und zugleich kleine Bildnisse aus der Sozialgeschichte, die wir sonst nur entlegener Fachliteratur entnehmen könnten.

Daß auch ein so sorgfältiges, kurzweilig belehrendes und doch dichtes Buch seine Grenzen hat, ist kein Makel, sondern liegt in der Natur der Sache. Krätz hat hie und da im Bemühen um ein deutliches Bild ein wenig mehr Eindeutigkeit walten lassen, als es die Geschichte zugelassen hätte - so war Goethe, wiewohl von A. G. Werner beeindruckt, kein ganz so vorbehaltloser Adept des "Neptunismus", wie es hier nahegelegt wird. Doch sind solche Fälle allenfalls Schönheitsfehler, wirkliche Grenzen ergeben sich aus der Konzentration auf das Wissenschaftshistorische: Goethes Überlegungen, mit dem Komponisten Reichardt auf dem Gebiet der Akustik zusammenzuarbeiten, werden nicht erwähnt und ebensowenig seine Entwürfe zu einer "Tonlehre", die ein Gegenstück zur "Farbenlehre" bilden sollte. Die Verarbeitung der naturwissenschaftlichen Einsichten und Überzeugungen in Goethes literarischen Werken wird kaum eines Wortes bedacht. Vor allem aber wird Krätz, ganz gegen sein Bemühen um größtmögliche Allgemeinverständlichkeit, sehr einsilbig, wenn es um geistige Überlieferungen im Hintergrund der Forschermühen geht, und das ist ein Makel, sind doch naturwissenschaftliche Überzeugungen im 18. Jahrhundert, ganz besonders aber die Goetheschen, nur selten abzutrennen von einem umfassenderen, nicht durch Experimente gewonnenen Bild der Natur. In den ersten Kapiteln ist regelrecht störend, daß schwierige und dunkle Traditionen wie die Alchemie, die Kabbala, die Physikotheologie ins Spiel kommen, als verstünde sich von selbst, was darunter überhaupt und zur Goethezeit im besonderen verstanden werden muß. Statt einer Erläuterung sind in den Text malerische Abbildungen eingerückt, die ihrerseits kaum erklärt werden und durch die Dunkelheit des darauf Dargestellten eher noch größere Verwirrung stiften beim nicht einschlägig vorgeprägten Leser. Die Zurückhaltung vor den geistigen Hintergründen der naturwissenschaftlichen Dinge verhindert auch, daß, bei allem Detailreichtum, ein geschlossenes Bild des forschenden Goethe entsteht: Wer die eigenartige, bei allem Reichtum zwiespältige Leidenschaft Goethes für Naturwissenschaftliches letztlich verstehen will, der kommt ohne die zugrunde liegenden individual- und geistesgeschichtlichen Faktoren nicht aus. Goethes Option gegen den Vulkanismus etwa ist keine argumentativ gewonnene, sondern eine Folge seiner unüberbrückbaren Aversionen gegen alles "Ungebändigte" und Diskontinuierliche, die sich in allen Lebensbereichen zeigte, etwa in Goethes Abscheu vor der Französischen Revolution. Ebensowenig ist Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens die Lösung eines rein naturwissenschaftlichen Problems: Die uralte Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklungskette der Dinge, die bis auf Platon zurückgeht und von Goethe wegen jener grundlegenden Aversion gegen das Plötzliche und Diskontinuierliche übernommen wurde, brachte es mit sich, daß er schon v o r seinen dementsprechenden Studien wußte, was er finden und welche Bedeutung das haben werde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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