Eine Rezension von Licita Geppert


„Adieu lieber Anfang! liebes Ende!“

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Wolfgang Klien: „Er sprach viel und trank nicht wenig“

Goethe. Wie berühmte Zeitgenossen ihn erlebten.

Langen Müller, München 1998, 244 S.

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Sybille Bertholdt: „Mir geht’s mit Goethen wunderbar“

Charlotte von Stein und Goethe - die Geschichte einer Liebe.

Langen Müller, München 1999, 299 S.

Es ist für mich ein doppeltes Faszinosum: Warum machen sich 200 Jahre nach dessen Geburt und immerhin fast 120 Jahre nach seinem Tode immer noch ernstzunehmende Zeitgenossen daran, die Persönlichkeit Goethes auszuleuchten, immer neue Schattierungen aufzudecken, ihn anzugreifen oder gegen Angriffe in Schutz zu nehmen? Und warum interessiert mich persönlich genau dieser Aspekt des größten deutschen Dichters mehr als sein gesamtes Werk? Aber dieses Problem hatte Goethe schon zu Lebzeiten, worauf Wolfgang Klien immer wieder hinweist. Gerade nach seinem großen Erfolg mit „Werther“, dem aus der Sturm-und-Drang-Zeit entstammenden Werk, hätte er sich Kontinuität in der Publikumsakzeptanz seines literarischen Schaffens gewünscht, konnte daran jedoch erst Jahrzehnte später, im Alter, mit „Faust“ anknüpfen. Als Persönlichkeit jedoch war er nicht nur in Weimar, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern international berühmt und wo nicht geschätzt, so doch zumindest anerkannt.

Ebenfalls erst im Alter erlangte er im deutschen Sprachgebiet das Privileg, das ihn und seine Verleger vor Raubdrucken schützte. Nur so war es ihm möglich, seine Familie auch nach seinem Tode finanziell abzusichern. Der Hauptgrund für die ausbleibende große Resonanz war, daß Goethe seine bedeutenden Werke nicht für den Publikumsgeschmack schrieb, der sich an simplen Gut-böse-Polaritäten orientierte und Belehrung erwartete. So ist der fehlende finanzielle Ertrag seiner literarischen Arbeit dafür verantwortlich, daß Goethe zeitlebens auf die Zuwendungen des weimarischen Herzogs angewiesen war, mit dem ihn zwar enge Freundschaft verband, über den er jedoch keinerlei Macht ausüben konnte, was die Regierungsgeschäfte anbelangte. „Wer sich mit der Administration abgiebt, ohne regierender Herr zu seyn, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr seyn.“ So war er zwangsläufig - trotz seines Sonderstatus - in der Position, abzuwägen zwischen Pflicht und Neigung, zwischen auftrumpfen und unterordnen. Wolfgang Klien, der mit über neunzig Jahren sicherlich einer der ältesten noch lebenden Goethe-Forscher sein dürfte, verteidigt Goethe daher mit einer Vehemenz gegen Deutungsversuche, die die menschliche Größe des Genies in Abrede stellen.

Nach dem Urteil vieler Zeitgenossen war Goethe im privaten Umgang ausnehmend liebenswert und liebenswürdig, er war vernarrt in Kinder, und seine wache Intelligenz ließ ihn auch noch in hohem Alter Anteil nehmen am Weltgeschehen, auch wenn er es sich aufgrund der schnell verrinnenden Lebenszeit vorbehielt, sich auf Themen und Gesprächspartner zu beschränken, die ihn interessierten und voranbrachten. Klien setzt Goethe in der Unterteilung der einzelnen Kapitel jeweils in Bezug zu einem bestimmten Zeitgenossen, abgesehen von einigen allgemeinen Passagen, die ihn entweder als Dichter, als Politiker oder auch als Mitmensch beleuchten. Die problematischsten Beziehungen lagen dabei sicherlich in seiner nächsten familiären Umgebung: seine Mutter, die er liebte, aber nur sehr selten sah, seine Geliebte und Frau Christiane, der er erst nach 18 Jahren seinen Namen gab, sein Sohn August, der um des Vaters willen die eigene Entwicklung vernachlässigte, ebenso wie sein Sekretär Eckermann. Es gibt Zeugnisse, nach denen Goethe Besucher durch sein abweisendes, als überheblich gewertetes Auftreten verschreckte. Dieser Eindruck wurde schnell korrigiert, wenn es demjenigen gelang, ein zweites Mal zum Geheimen Rath vorgelassen zu werden. Seltsamerweise war das große Genie, der geübte Staatsmann, anfangs oft gehemmt, ja geradezu verklemmt, dann später aber über die Maßen herzlich. Auch litt er verständlicherweise unter der Einsamkeit des Genies, das nur wenige gleichrangige Partner trifft, deren Anerkennung ihm dann viel bedeutete. So erfahren wir es aus den Berichten von Sulpiz de Boisserée, von Holtei und anderen. Die Beschreibung der Beziehungen Goethes zu Newton, Kleist und Heine rundet das Bild ab. Charlotte von Stein wird seltsamerweise völlig ausgeklammert, vielleicht deshalb, weil der Verlag dazu die Recherche von Sybille Bertholdt anbietet. Für Christiane aber nimmt sich der Autor Zeit, malt in warmen Farben das Bild einer aufrichtigen, hingebungsvollen Liebe, von der beide Partner ergriffen waren. Er weist es anhand einiger der schönsten Gedichte und von Briefen aus goethescher Feder nach, auch daß die Hochzeit mit Christiane entgegen einem gängigen Vorurteil bereits im Jahr vor dem Einmarsch der Franzosen geplant gewesen war. Selbst wenn sich Klien bisweilen in eine heftige Polemik mit Forschungskollegen versteigt (die er zu überblättern anbietet), so arbeitet er doch sehr klar und bezwingend heraus, daß Goethes mißdeutbares oder mißgedeutetes Verhalten in der jeweiligen Situation niemals einer niedrigen Gesinnung entsprang, sondern entweder auf mangelnder Kenntnis des Quellenmaterials seitens des Verfassers beruhte oder aber auch einer Situation geschuldet war, die ihm keinerlei Spielraum ermöglichte, sei es aus „Staatsräson“ oder eigenem strukturellen Unvermögen, wie es in seiner Bewertung Heines der Fall war. Klien bemüht sich dabei um größtmögliche Objektivität und argumentiert nur mit Belegbarem, nicht mit Emotionen. Das macht seine Studien so eingängig und überzeugend. Der Autor verdeutlicht auch, daß die sich in Goethes Lebensplan so seltsam ausnehmende Beziehung zu Frauen, dieses spannungsreiche Mit- oder Nebeneinander, einen wesentlichen, befruchtenden Faktor seiner literarischen Kreativität darstellte.

Das bei aller gelehrten Beredsamkeit in angenehmem Plauderton verfaßte und liebevoll ausgestattete Buch bereichert in jedem Fall die schon so vielfältig bestückte Goethe-Literatur und wird sowohl dem Forscher wie dem Liebhaber interessante Anregungen und Einsicht in das persönliche Leben eines faszinierenden Mannes geben.

Gleiches läßt sich auch über das „Charlotte-Buch“ von Sybille Bertholdt sagen, das ebenfalls darum bemüht ist, der Betrachtungsweise Goethes - hier in seiner Beziehung zu Charlotte von Stein - eine neue Facette hinzuzufügen.

Bertholdt kann sich hierbei nur auf die Briefe Goethes selbst stützen sowie auf einige Briefe Charlottes an Freunde, denn ihre eigenen Mitteilungen an Goethe hatte sie sich nach dem Ende der Beziehung zurückgeben lassen, welchem Wunsch Goethe offensichtlich ohne Ausnahme gefolgt war und sie allesamt vernichtete. Übrigens ist es als Glück für die Nachwelt zu werten, daß Goethe dabei die deutsche Sprache gewissermaßen hoffähig machte. Es bleibt dem Gespür Sybille Bertholdts überlassen, aus diesen einseitigen Zeugnissen die Liebesgeschichte neu zu rekonstruieren, was ihr sehr überzeugend gelingt. Selbstverständlich hat sie die bereits dazu vorliegende Literatur aufmerksam zur Kenntnis genommen. Es leuchtet daher ein, daß Goethe, der in seiner Jugend an einer sexuellen Fehlsteuerung gelitten haben mußte, nur durch die erzwungene Enthaltsamkeit bei Charlotte von Stein davon gesunden konnte, daß andererseits Charlotte, von den mehrfachen Geburten geschwächt, nicht aus Prüderie oder Konvention auf sexuellen Verkehr mit Goethe verzichtete, sondern auch mit ihrem Ehemann, um weiteren gesundheitlichen Belastungen zu entgehen und sich dem zu widmen, was wir modern als Selbstverwirklichung bezeichnen würden. Es ist kaum zu glauben, daß der Verfasser dieser schwärmerischen, teilweise larmoyanten Botschaften wirklich Deutschlands großer Dichter gewesen sein soll und nicht ein x-beliebiger Schuljunge. Frau von Stein schien jedoch die Rolle der Älteren, Erfahreneren, Überlegeneren sehr genossen zu haben, sie verstand es geschickt, zumindest in den ersten Jahren, Goethe am kurzen Zügel zu halten: „Sie (könnten) einen von sich wegzweifeln.“ (Goethe) Er ging bei Steins ein und aus, verliebte sich in Fritz, den jüngsten Sohn der Familie, dessen Erziehung er zeitweilig ganz übernahm, er sandte ihr Briefchen auch über den Hausherrn, kurz, die Beziehung entsprach durchaus den damaligen Vorstellungen von Schicklichkeit. Keiner der beiden hat wohl je in Betracht gezogen - aus den oben angeführten Gründen -, dieses Verhältnis zu legalisieren, was zwar ungewöhnlich, aber durchaus möglich gewesen wäre. Eine Beziehung, die von vornherein und unerbittlich wichtige Lebensbereiche ausgrenzte, mußte auf die Dauer zum Scheitern verurteilt sein. Knebel beschrieb Charlotte von Stein als „eine gar seltene, gute Frau“, die eigentlich bloß „in der Klarheit (lebt), die bei ihrer reizbaren, feinen Natur schon die Stelle der Wärme vertritt. Sie lebt eigentlichst im Verstand.“ Und doch war sie sich Goethes schwärmerischer Anbetung allzu sicher, besaß sie als unmittelbar Beteiligte nicht das feine Gespür für die verschiedenen Phasen, die ihre Gemeinsamkeit durchlief, wie sie die Autorin dem Leser nahebringt: die schwärmerisch-leidenschaftliche Verehrung, die ruhige, gefestigte Seelenliebe, eine eheähnliche Bindung ohne körperliche Nähe und schließlich seine Loslösung, nicht nur aus Charlottes Umklammerung, sondern auch aus den Abhängigkeiten des Weimarer Hofes. Diese unerwiderte Leidenschaft war letztendlich ein gigantisches Gaukelspiel, bei dem Charlotte die Fäden zog. Es ist einleuchtend, daß ein unruhiger, vorwärtsdrängender Geist wie Goethe früher oder später aus dieser so angestrengt wirkenden Liebe ausbrechen mußte. Obwohl er seinerseits Charlotte durch sein geheimnisvolles Verschwinden (ungewollt) dem Gespött ihrer Mitmenschen preisgegeben hatte, verstand er die brüske Zurückweisung nach seiner Heimkehr nicht. Die Italienreise markiert somit einen derart tiefen Einschnitt nicht nur in Goethes Liebe zu Charlotte von Stein, sondern in seinem gesamten Leben, daß danach nichts mehr wie vorher war.

Die Gegend schien ihm langweilig, die Freunde ließen an Wärme vermissen, selbst seine Statur und sein Aussehen wandelten sich, seine Ansprüche waren andere geworden und - er hatte Christiane kennengelernt (die eigentlich „Christiana“ hieß, wie wir durch Sigrid Damm erfahren konnten). Bettelte er anfangs noch um die Zuneigung Charlottes, der ja durch die zunächst rein sexuelle Bindung an Christiane nichts genommen würde, so band ihn ihre Zurückweisung nur um so enger an das unverkrampfte, sinnenfrohe Gegenstück zur sittenstrengen, blutleeren, nörglerischen und mit sich und der Welt unzufriedenen Charlotte. Letztendlich war es wohl vor allem gekränkte Eitelkeit, die die Reaktion Charlottes erklärt, denn gerade sie hatte sich mit Goethes Freundschaft in jeder Hinsicht zu schmücken und aufzuwerten gewußt (Eduard D’Alton fühlte sich gar durch ihre Indiskretionen mit „Vertraulichkeiten mißhandelt“), während Christiane ihm zeitlebens eine Gefährtin im besten Sinne des Wortes blieb. Wenig glaubhaft ist jedoch die Annahme der Autorin, Goethe sei mit Christiane vor allem aus Bequemlichkeit zusammengeblieben, handelte es sich doch um eine Art von Annehmlichkeit, die ihm jede Hausangestellte hätte bieten können. Dagegen spricht auch sein stetes Eintreten für seine Frau gegenüber Anfeindungen Dritter. Wer jedoch darüber mehr erfahren möchte, lese Sigrid Damms Christiane-Recherche. Auch der Film „Die Braut“ von Egon Günther bietet Ansatzpunkte für eine liebevolle Betrachtungsweise Christianes, er opfert jedoch die historische Genauigkeit einer künstlerischen Überhöhung, während die hier besprochenen Bücher eben genau den Vorzug dieser unbedingten Detailtreue aufweisen. Sybille Bertholdt faßt die Abschnitte zusammen, bevor sie den Leser seinem eigenen Urteil überläßt, das er sich jeweils anhand einer Briefauswahl bilden kann.

Beide Bücher ergänzen einander auf das beste. Sie zeigen den Dichterfürsten als Mensch, mit seinen Stärken und Schwächen, jedoch immer als verantwortungsbewußten, fürsorglichen Freund und Partner, als sozial engagierten Politiker, aber auch als Dichter in einem spannungsreichen Umfeld, der stets höchst empfindsam auf seine Umwelt reagierte. Daß beide Bücher bibliophil ausgestattet und mit Illustrationen versehen sind sowie über Register, Quellen- und Literaturverzeichnis verfügen (das bei Klien sehr ausführlich ist), versteht sich fast von selbst. Sie waren in jeder Hinsicht interessant, bisweilen amüsant und unterhaltsam, bisweilen spannend und auf jeden Fall bereichernd.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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