Eine Annotation von Eberhard Fromm


Plaggenborg, Steffen (Hrsg.):

Stalinismus
Neue Forschungen und Konzepte.

Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1998, 452 S.

 

Stalinismus war lange Zeit eine Vokabel ideologischer Kämpfe im Kalten Krieg. Die sachliche wissenschaftliche Analyse hat darunter in der Vergangenheit häufig gelitten. Zu oft herrschten vereinfachte Klischees, leicht nutzbare propagandistische Formeln vor. Dadurch gibt es bei diesem zentralen Thema des 20. Jahrhunderts Nachholebedarf auf den verschiedensten Gebieten; das reicht von der Periodisierung bis zur biographischen Aufarbeitung der Eliten, von einer Geschichte des Stalinismus als soziale Praxis bis zu gründlichen Untersuchungen der Deportationen. Der Herausgeber des Bandes macht in seinem abschließenden Beitrag „Stalinismusforschung: Wie weiter?“ auf eine Fülle von Problemen aufmerksam, die noch auf ihre wissenschaftliche Bearbeitung warten.

In der Sammlung stellen dreizehn Autoren fünfzehn verschiedene Themen vor, die in fünf Komplexen zusammengefaßt sind: I. Historiographie, II. Konzepte, III. Soziale Gruppen, IV. Terror und V. Perspektiven. Im I. Teil befassen sich Stefan Plaggenborg bzw. Joachim Hösler mit den Herangehensweisen der westlichen bzw. der sowjetischen/russischen Forschung an den Stalinismus. Plaggenburg weist dabei nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie darauf hin, daß bei einer neuen Herangehensweise nicht so sehr die „überindividuellen Ebenen der Geschichte interessieren, sondern Alltag, Lebensweise, kleinräumige und lebensweltliche Daseinsformen. Die Vergangenheit in der Subjektivität der Menschen zu rekonstruieren rückt in den Vordergrund.“

Dieser Ansatz wird dann vor allem im III. Teil genutzt, um sich mit einzelnen Betrieben, Gebieten und Bereichen zu befassen. Dabei untersuchen allein drei Beiträge von Robert Maier, Rosalinde Sartorti und Susanne Conze die Stellung der Frau bzw. zur Frau innerhalb des Stalinismus. Interessant auch die Fragestellung von „Wissenschaft und Wissenschaftler im Stalinismus“ von Christoph Mick, der das Problem am Fallbeispiel der Geologen analysiert. Auch im II. Abschnitt untersucht Enno Ennker in seinem Beitrag zum Stalinkult die Entstehungsbedingungen des Kults nicht an der Persönlichkeit Stalins oder an der generellen sozialen Basis des Stalinismus, sondern er bemüht sich, die Quellen des Kults im sozio-kulturellen Milieu der Stalinschen Gefolgschaftsgruppe zu ermitteln. In dem Abschnitt zum Terror stehen neben übergreifenden Fragestellungen der Terror in den Streitkräften und das sehr aufschlußreiche Problem der Behandlung der Kinder von Opfern des Stalinismus zur Debatte.

Die meisten der Beiträge arbeiten mit konkretem Material, mit Fakten, Zahlen, Aussagen. Die verarbeitete Literatur ist reichhaltig. Die inhaltliche Polemik mit verschiedenen Auffassungen und Wertungen belebt nicht nur die einzelnen Artikel, sondern verbreitet auch das vielschichtige Bild vom Stalinismus in seiner heutigen Darstellung. Deshalb ist es um so bedauerlicher, daß auf eine Bibliographie verzichtet wurde. Auch ein Personen- und Sachregister sollte bei solchen materialreichen Sammelbänden nicht fehlen, weil es den Zugang des Lesers zum Material und die wissenschaftliche Nutzung des Bandes enorm erleichtert.

Wenn der Herausgeber abschließend feststellt, „daß es ohne eine intensive Stalinforschung zu keiner Zusammenschau des 20. Jahrhunders kommen kann“, so kann man dem nicht nur vorbehaltlos zustimmen, sondern muß daraus auch zugleich die Forderung ableiten, die nüchterne Untersuchung des Stalinismus viel forcierter zu betreiben - eben im Interesse eines stimmigen Gesamtbildes des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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