Eine Rezension von Helmut Eikermann
20 Jahre bundesdeutsche Justizgeschichte
Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht 1954-1974
Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts.
Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 496 S.
Der Name des bundesdeutschen Juristen Heinrich Hannover ist auch einem breiten Publikum in der DDR bekannt geworden; daß der engagierte - und vorzugsweise links engagierte - Anwalt ein gebürtiger und 1945 im Osten auf tückische Weise enteigneter Anklamer ist, erfährt man auf den ersten Seiten seines Buches, mit dem er an sein Werk Politische Justiz von 1918-1933 anknüpft. Mit Noli me tangere. Eine Jugend in Deutschland (1925-1954) beginnt er seine Erinnerungen und handelt anschließend zwanzig Jahre bundesdeutscher Justizgeschichte an achtundzwanzig markanten Fällen ab.
Sachlich, in allen Punkten juristisch abgesichert und dadurch mitunter ein wenig karg und trocken, schildert Hannover meist lediglich die juristischen Vorgänge, und die sind erschreckend genug. Wir, die wir erfahren mußten, jahrzehntelang in einem Unrechtsstaat gelebt zu haben, nehmen einmal mehr zur Kenntnis, daß auch auf der anderen Seite Kalter Krieg geführt wurde bis tief hinein in die Rechtsprechung - besetzt mit jenen Juristen nämlich, die Tucholsky schon anno 1921 ahnungsvoll als die Deutsche Richtergeneration 1940 voraussah: zum Hakenkreuz erzogen ... Denen setzte kein rächender Pastor mit eigener Behörde eine Grenze, da konnten nazistische Marine-Richter ungestraft Ministerpräsidenten werden. Die Ohnmacht der Ludwigsburger Zentralstelle unter der anfänglichen Chefregie eines ehemaligen Nazis ist hinreichend bekannt, und die DDR überließ es auch nur ihrem Geheimdienst, die vorhandenen Dokumente - selbst im Mordfall Thälmann - im Sinne von Partei und Regierung zu manipulieren.
Von dieser anderen Seite ist bei Hannover allerdings nicht die Rede. In einigen Fällen wäre die Gegenüberstellung seiner Darstellung mit den Akten aus der Gauck-Behörde sicherlich aufschlußreich. Heinrich Hannover konzentriert sich allein auf das, was er aus erster Hand und Akteneinsicht hundertprozentig kennt und weiß. In ihm fanden Kriegsdienstverweigerer, Kommunisten, Landfriedensbrecher, Anarchisten und andere Unruhestifter, denen auch heute noch seine deutliche Sympathie gilt, einen mutigen und kompromißlosen Verteidiger. So berichtet er über seine schwierige Mandantin Ulrike Meinhof oder von Daniel Cohn-Bendits Sprung über die Barriere im Jahre 1968. Dieses geschichtsträchtige Jahr spielt denn auch in Hannovers Erinnerungen wie in seiner Karriere eine besondere Rolle: Den Bremer Straßenbahnunruhen, dem Völkermord in Vietnam und der Ehre der Politiker, dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke und seinen Folgen und der beginnenden Verfolgung des kritischen Journalisten Wallraff sind jeweils eigene Abschnitte gewidmet. Für literarisch Interessierte aber ist das bemerkenswerteste Kapitel sicherlich Der Fall Peter Paul Zahl. Keine Gnade für ein Fehlurteil (1973-1982), in dem Hannover das juristische Schattenboxen um den oppositionellen Dichter und Schriftsteller vorführt, der in den Verdacht geraten war, an einem Banküberfall der RAF beteiligt gewesen zu sein - was nie bewiesen wurde. Bei seiner Festnahme gab Zahl mehrere ungezielte Schüsse auf die ihn verfolgenden Polizisten ab. Das Landgericht Düsseldorf verurteilte ihn deshalb 1974 wegen fortgesetzten Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. In der Revisionsverhandlung lautete das Urteil auf 15 Jahre Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes in zwei Fällen - eine Strafe, die auch auf dem Gnadenwege nicht gemindert wurde. Zahl saß - unterbrochen von einem Hafturlaub zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises 1980 - zehn Jahre im Gefängnis. Er lebt heute als erfolgreicher Krimiautor in Jamaika. Als ihm 1995 in Potsdam für seinen Roman Der schöne Mann der Glauser, Krimipreis der Autoren, verliehen wurde, stellte sich im Vorfeld heraus, daß die altbundesdeutsche Linke bezüglich ihrer Haltung zu Peter Paul Zahl noch heute tief zerstritten ist. Die Gründe dafür nachzuvollziehen, fällt einem nach Heinrich Hannovers klarer Darstellung schwer.
Sein Buch ist ansonsten keine Lektüre für den Sensationen erwartenden Leser von Biographien oder True Crime, es ist eher ein Nachschlagewerk zur Geschichte der politischen Justiz in der BRD, und zwar eins, auf dessen Fakten man sich verlassen kann.