Eine Rezension von Helmut Caspar
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Leben mit Lenins Leiche
Ilya Zbarski: Lenin und andere Leichen
Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 211 S. mit zahlr. Abb.
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Ob Lenins Leiche aus dem Mausoleum am Roten Platz in Moskau genommen und in Sankt Petersburg an der Seite seiner Mutter bestattet wird, wie einflußreiche Kreise des neuen Rußland fordern, ist nach wie vor unentschieden. Der Biochemiker Ilya Zbarski, der 18 Jahre seines Lebens mit der Konservierung der sterblichen Reste des Sowjetführers zugebracht hat, spricht in seinen überaus spannend zu lesenden Erinnerungen von der mit großem finanziellen und technischen Aufwand seit 1924 betriebene Konservierungsarbeit als einer wissenschaftlichen Leistung ohnegleichen. Was im täglichen Kampf gegen drohenden Verfall des von Gummibändern und Kleidungsstücken zusammengehaltenen Körpers erreicht wurde, hindere ihn aber nicht zu sagen, daß die Einbalsamierung eine unzeitgemäße, barbarische, der Kultur der westlichen Gesellschaften jedenfalls fremde Praxis ist. Zbarski hält es ungeachtet der Privilegien, die er als Mitarbeiter seines mit der Konservierung und Betreuung der Leiche betrauten Vaters, des Biochemikers Boris Zbarski, genossen hat, und der großartigen Arbeitsmöglichkeiten, die ihm im Schatten und im Schutz des Mausoleums zur Verfügung standen, für angebracht, Lenin endlich zu beerdigen.
Das Buch vermittelt nicht nur detaillierte Informationen über Lenins letzte, schmerzhafte Krankheitsphase, sondern auch über die heftigen Diskussionen in der Moskauer Führungsriege, ob man ihn beerdigen oder zu einem Denkmal erheben sollte, das die Leute anbeten. Obwohl Lenin noch nicht tot war, setzte sich Stalin gegen seine Konkurrenten und auch gegen Lenins Frau durch, die sich klar gegen eine Einbalsamierung des Toten und seine Erhebung zu einer Reliquie, vergleichbar mit dem, was die Kirche mit ihren Heiligen tut, aussprachen. Mit Lenins Tod begann der Leninkult, und mit ihm die unumschränkte Herrschaft Stalins. Gegen den Plan, Lenins Leichnam tiefgekühlt zu erhalten, setzten sich der Biochemiker Boris Zbarski und einige andere Gelehrte mit neuartigen Konservierungsmethoden durch. In einem eigens geschaffenen Labor beim erst aus Holz, dann aus Granit gefügten Mausoleum machten sich die Hüter der Leiche unter dem Schutz der Geheimpolizei so lange an dem bereits in Verwesung begriffenen Körper zu schaffen, bis er wieder in einen vorzeigbaren Zustand versetzt war, bei dem die schon dunkel verfärbte, schlaffe Haut dank chemischer Behandlung rosa erblühte. Der Autor schildert nicht ohne Stolz die Mittel und Maßnahmen, wickelt sozusagen den zur Unsterblichkeit bestimmten Lenin ein und aus, listet Chemikalien und den Terminkalender der Pflegemaßnahmen auf, nennt aber auch Verfärbungen, Flecke, Pilzbefall, den Ersatz der Augen durch Prothesen, die Schließung des Mundes durch Fäden und ähnliches. Das liest sich wenig amüsant, hier sind die Grenzen des guten Geschmacks erreicht, denn solche Details gehören in ein Fachbuch. Seinen Vater schildert der 1913 geborene Autor als autoritär, ehrgeizig, unleidlich, als einen Mann, der die Konkurrenz seines auf dem gleichen Fachgebiet, am gleichen Objekt (das 1941 bis 1945 nach Sibirien ausgelagert war) tätigen Sohnes fürchtet und ihn daher klein zu halten versucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Vater und Sohn, was den wichtigsten Pflegeauftrag im Lande betrifft, entbehrlich geworden, und so erleiden auch sie als Juden das Schicksal von geschaßten Wissenschaftlern, denen die Gnadensonne des Diktators nicht mehr scheint. Wie in der frühen Sowjetzeit die Lehre und Forschung kaputtgemacht, wie Schüler und Studenten verbogen wurden und was es bedeutete, als Forscher in die Mühlen des KGB zu geraten und mit Möchtegern-Wissenschaftlern vom Schlage des Stalin-Favoriten Lyssenko zu kollidieren, gehört zu den ergreifenden Kapiteln dieses Buches. Aufgrund unserer geographischen Nähe zum Machtzentrum hätten mein Vater und ich durchaus von den stalinistischen Säuberungen hinweggefegt werden können, schreibt Ilya Zbarski. Wahrscheinlich verdankten wir unser Überleben lediglich dem Mangel an qualifiziertem Personal, das sich mit der Technik des Konservierens auskannte. Doch die Sicherheit trog, jederzeit mußte man damit rechnen, abgeholt zu werden und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Beherrschten vor dem Krieg nur vier Personen die Materie, so gab es danach viel mehr Spezialisten, und so verloren die in Ungnade gefallenen Zbarskis ihre Arbeit, Privilegien und Freunde.
Das Buch endet mit zeitgeschichtlich aufschlußreichen Schilderungen des erbärmlichen Lebens, das ein solcher Feind gegen Ende der Stalinära und noch lange danach führen mußte, und gewährt nach einem Ausflug in die Einbalsamierung prominenter Staatsführer der kommunistischen Welt von Stalin bis Kim Il Sung interessante Einsichten in die Tätigkeit des in der nachsowjetischen Zeit zum Ritual Service mutierten Lenin-Laboratoriums, das jetzt die Leichen von russischen Neureichen und Mafiagrößen zusammenflickt und verschönt. Wäre es nicht so traurig, man könnte über die Rituale bei den Beerdigungen solcher Leute lachen, deren Hinterbliebene der nicht minder verbrecherisch agierenden Konkurrenz durch geradezu königliche Leichenfeiern, kostbare Sarkophage und aufwendige Grabmäler zu imponieren suchen.