Eine Rezension von Manfred Lemaire
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Der unvorhergesehene Schaden
William Boyd: Armadillo Roman. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
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Lorimer Black ist ein junger erfolgreicher Schadensregulierer. Es wäre ungenau, ihn als Versicherungsdetektiv zu bezeichnen (wie es der Verlag im Waschzettel tut). Betrug aufzudecken gehört zwar zu seinen Aufgaben, ist jedoch nicht die Hauptsache. Das kleine Londoner Unternehmen, in dem er arbeitet, ist der scheinselbständige Ableger eines englischen Versicherungskonzerns - eines fiktiven, versteht sich -, der bei Eintritt eines versicherten Schadens nur ungern die für diesen Fall vertraglich vereinbarte Summe vollständig auszahlt. So kommt der Schadensregulierer ins Spiel - nicht etwa, um den Schaden zu regulieren, nämlich durch die zugesagte Zahlung in Ordnung zu bringen, sondern um die auszuzahlende Summe auf das erreichbare Minimum zu kürzen. Hier entsteht der Eindruck, daß es in England keine unabhängigen sachverständigen Gutachter gibt, jedenfalls läßt der Autor diesen Schluß zu, eine etwas irritierende Vorstellung, durch dichterische Freiheit herbeigeführt, aber mit der ansonsten zutreffend geschilderten Wirklichkeit kollidierend. Ein kleiner, gewissermaßen verdeckter Mangel des Buches für Kenner der speziellen Materie.
Der Regulierer hat eine psychologisch wirksame Methode, und die entspricht nun wieder nationalen wie internationalen Gepflogenheiten: Der Geschädigte, der seine Prämien brav gezahlt und sich korrekt verhalten hat, wird entweder indirekt verdächtigt, den Schaden selbst verursacht zu haben, etwa durch Brandstiftung, oder ihm wird unterstellt, er verlange eine unangemessen hohe Summe. In jedem Fall wird ihm nahegelegt, sich mit viel weniger Geld zufriedenzugeben, als ihm zusteht. Soll er doch vor Gericht gehen - das dauert und verursacht für den Kläger erst einmal Kosten, und solange ein Prozeß durch die Instanzen geschleppt oder verschleppt wird, zahlt der Versicherer keinen Penny. Daran kann eine Firma, die keine Reserven hat, schnell zugrunde gehen.
Schadensregulierer der geschilderten Art sind also Gangster, betuchte kleine Gangster im Dienst betuchter großer Gangster. An der eingesparten Summe sind sie prozentual beteiligt. Wird eine an sich berechtigte Forderung von 90 Million Pfund um ein Drittel reduziert, bekommt der Regulierer als Prämie ein paar Hunderttausend. Probates Lockmittel: Er bringt sein reduziertes Angebot in Form von Bargeld gleich im Koffer mit. Wenn sich ein Geschädigter schon vorher aus Verzweiflung aufhängt, und damit beginnt das Buch, ist dies seine Sache. Die Polizei konstatiert Selbstmord. Der rigorose Regulierer ist unschuldig.
Der Autor führt uns diese Welt anschaulich vor. Und er läßt hinter den Kulissen einen riesigen Betrug ahnen, der nach einem Hotelbrand mit Hilfe des Versicherungskonzerns inszeniert wird. Weil der Schadensregulierer dem Schwindel auf die Spur kommt, verliert er nicht nur seine hohe Prämie, sondern auch noch seinen Job - mit der Aussicht, nach einem Jahr wieder beschäftigt zu werden, wenn die Staubwolken sich gelegt haben und er den Mund hält. Allein schon die Bekanntschaft mit diesen Spielregeln des Kapitalismus pur macht das Buch lesenswert.
In seinen tagebuchartigen Notizen hält Regulierer Black den allerersten Fall seines allerersten Vorgängers fest. Er ereignete sich - gut erfunden oder tatsächlich - anno 1853 in England. Ein Mann versicherte sein Leben für ein Jahr mit 383 Pfund und zahlte dafür acht Prozent Prämie. Als er vier Wochen vor Ablauf der Jahresfrist starb und die Hinterbliebenen die Versicherungssumme forderten, weigerte sich die Versicherung mit dem Hinweis, daß ein Jahr, streng definiert, aus zwölfmal vier Wochen zu je achtundzwanzig Tagen bestehe, so daß der Verstorbene die Versicherungsfrist überlebt habe. Diese feine Art von Rechenkunst und dieser redliche Geist sind für den Regulierer und seine Firma nachahmenswert.
Aber der Autor hat weit mehr zu bieten als solche Einblicke. Sein Roman porträtiert das heutige London mit seinen Juppies, mit seinen Pubs und Cafés, mit seinem Gemisch aus Engländern und Einwanderern, Frauen und Männern auf der Suche nach zweifelhaftem Glück, mit Adligen und Arbeitern, Kleinbürgern und einem Heer von Bürohengsten. Der Juppy Lorrimer Black, von dem die Geschichte handelt, ist selbst der Sproß einer Zigeunerfamilie vom Schwarzen Meer, was er nicht wahrhaben will und der er doch verbunden bleibt, obwohl er einen englischen Namen angenommen hat. Er wird gekonnt, mit einer kleinen amüsierten Distanz des Autors zu seinem Geschöpf, in das Londoner Umfeld gestellt. Es ist in vielen Farben und Details erlebbar, die Straßen, Plätze, Gebäude, Stadtviertel sind echt.
Wir dürfen keinen Kriminalroman erwarten, wenngleich mit hinreichend Spannungsmomen ten gearbeitet wird, die wiederum das Geschehen nicht überlagern. Vielmehr dürfen wir auf gute Literatur mit glänzenden Dialogen vertrauen, die sind eine besondere Stärke des William Boyd. Die Handlung übrigens läuft ins Ungewisse - der Schadensregulierer, den gewissermaßen das Schicksal seiner Opfer ereilt hat, ist dabei, London mit einer verheirateten Schönheit zu verlassen, der er auf fast unwirkliche Weise verfallen ist. Ob ihm dies zum Verhängnis werden wird, bleibt ebenfalls offen. Auch dieser Schluß paßt zu der Mischung aus eindeutigem Realismus und einem merklichen Hauch von Romantik, die das Buch trägt. Es bedarf einer gewissen Zeit, eines Stücks Lektüre, sich an diese Mischung zu gewöhnen. Dann aber nimmt sie den Leser gefangen und trägt zu seinem Vergnügen bei. Es wird durch eine feine englische Ironie noch gefördert.
Armadillo ist der spanische Name des süd- und mittelamerikanischen Gürteltiers, das mit seiner panzerartigen Lederhaut vor unangenehmen Überraschungen sicher scheint. Unser skrupellos agierender Held, der übrigens eine Sammlervorliebe für antike Rüstungen und Helme hat, wähnt sich sicher wie ein Armadillo. Er erfährt seine Verwundbarkeit durch Ereignisse, die er nicht vorhersehen konnte. Ein Schadensfall, den seine Bosse auf seine miese Weise regulieren. Der Autor überläßt es dem Leser, den Roman als Gesellschaftskritik aufzufassen, legt diese Zuordnung jedoch nahe.