Eine Rezension von Karla Kliche


Nochmals Fontane, aber wie!

Hans Blumenberg: Gerade noch Klassiker

Glossen zu Fontane.

Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998, 169 S.

 

Hans Blumenberg - ein zeitgenössischer deutscher Philosoph (1920-1996), dem die Literatur lebendiger Stoff war und dem die (Berufs-)leser, ob Schriftsteller oder Literaturwissenschaftler, dies dankten, indem sie ihn lasen (und/oder nur zitierten), vor allem seine Bücher Arbeit am Mythos (1979) und Die Lesbarkeit der Welt (1981). Allerdings: nur im Westen, im Osten wurde er (bisher) kaum wahrgenommen (was verschiedene Gründe haben mag).

Er hat diese „Glossen“ zu Fontane nachgelassen, erfährt man durch den Klappentext und ein Werbeblatt. Üblicherweise braucht Nachgelassenes einen Herausgeber, einen solchen hat es hier nicht, also kann man wohl davon ausgehen, daß die Anordnung und Betitelung dieser reflexiven Miniaturen Wille des Autors sind; eine Annahme, die nur dadurch irritiert wird, daß das Copyright „für die Texte“ bei „Hans Blumenbergs Erben“ liegt, „für diese Ausgabe“ beim Verlag - wenn dies nicht vielleicht dadurch begründet wäre, daß das Inhaltsverzeichnis eine Konkordanz zur Fontane-Ausgabe der „Hanser Klassiker“ enthält ...

Wie dem auch sei. Der Autor scheint diese Textsammlung als sein „letztes Wort“ zu betrachten. „Letzte Worte“ haben in der christlichen Tradition eine große Bedeutung, bis zur Renaissance (und auch darüber hinaus) waren sie als wesentliches Element der „ars moriendi“ entscheidend für die Wertung eines gelebten Lebens: würdig des Himmels oder verdammt zur Hölle. „Letzte Worte“ reflektiert Blumenberg hier - ausdrücklich - in vielfältiger Weise, so Fontanes möglicherweise „letztes Wort“ in Form eines Sechszeilers, den sein jüngster Sohn Friedrich in einer ersten Veröffentlichung um den „Geisterzuspruch“ „Was du tun willst, tue bald“ zunächst amputiert hatte. Ausgangspunkt des Textes, in dem dies steht, ist das Nachdenken über die quantitative Zumutbarkeit von „Nachlaß“, leitet über zu Fontanes „Befriedigung des Noch-Gelingens und den Zweifel an der Belastbarkeit seiner Leserschaft“ (angesichts des Umfangs des Stechlins, seines letzten Werkes), bringt dann die Geschichte um den Sechszeiler sowie die Vermutung, daß auch Frau Emilie durchaus beim Abschreiben des Nachgelassenen „auch für Retuschen sorgte, wo es ihr allzu heidnisch vorkam“, um mit der Ortung der Bibel-Herkunft des Ausspruchs „Eine Mine im Nachlaß“ (so der Titel) festzustellen und zu schließen: „Wer seinen Nachlaß vorbereitet, schreibe einiges hinein, was den Geist der Verschonung weckt und sättigt.“ Letzteres mag wohl auch eigene Devise gewesen sein, doch vermag man dies nur als Kenner des Blumenberg-Werkes auszumachen - der ich nicht bin.

Das Nachzeichnen der Struktur des Textstücks sollte zeigen, wie verzweigt, wie dicht die immer nur wenige Seiten umfassenden Textstücke sind - und wie reich. Fontane-Kenner werden sich an der Art, wie dieser „Gerade-noch-Klassiker“ hier gelesen wird, erfreuen, sicher gelegentlich staunen. Denn Blumenbergs Umgang mit Fontane ist nicht der übliche mit einem deutschen Klassiker, er liest ihn. Fontane hat ihn, wie er schreibt, zeitlebens begleitet („wer ein Leben mit Fontane verbracht hat“). Und das heißt: nicht als Bildungsgut. Hans Blumenberg führte einen Dauerdialog mit Fontane, dem (Balladen-)Dichter, dem Wanderer, dem Kriegsberichterstatter, dem Historiker, dem Theaterkritiker, dem Briefeschreiber, dem Romancier. Die Miniaturen gehen von einer (meist aktuellen oder den Autor bewegenden) Fragestellung aus und führen hin - zu Fontane. Oder eben umgekehrt. Fontanes Worte sind nicht sakrosankt. Sie werden ab- und beklopft, nicht hin auf einen Sinn, eine Bedeutung (ich habe durchaus Seitenhiebe gegen die Hermeneutik herausgelesen), sondern auf ihre Bedeutsamkeit. Für das 19. Jahrhundert und für die Gegenwart. Vielleicht trifft auch: Analyse gegen Auslegung? Einige Stichworte, die häufig auftauchen sind: Humanität, Realismus, Resignation (verkürzt gesagt: im Goetheschen Sinne), Geschichte, Wahrheit, das Leben; und (merkwürdige) Zusammenhänge: wie zum Beispiel der vom aktuellen Verfall öffentlichen Redens, während in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Begriff der Rhetorik höchste Attraktivität erhält.

Doch der Band ist empfehlenswerte Lektüre auch für Leser, die weder Kenner Blumenbergs noch Fontanes sind, denn: Hier lernt man lesen, und zwar an reflexionsreichem, brillantem, sprachbewußtem Text, der sich einer „hektischen Rezeption“, wie Blumenberg sie anhand von Ibsen für Deutschland typisch charakterisiert, verweigert. Es empfiehlt sich, ihn in kleineren Portionen zu genießen (wobei dieses Verb nur dem Bild geschuldet ist, nicht die angemessene Lesehaltung beschreibt!).

Ist es noch nötig, darauf zu verweisen, daß dies „Glossen“ nicht im heutigen Sinne einer flotten Feuilleton-Rubrik „polemischer, spöttischer Kommentar“ sind? Sie sind es im älteren Sinne, etwa als „erläuternde Bemerkungen“, die aber weit entfernt sind von belehrender Trockenheit, eher ins Anekdotische gehen (und Anekdoten auch spielen im Text eine große Rolle). Kein Zufall, denn zur Anekdote heißt es hier: Sie „mythisiert ihre Helden und ,Subjekte‘ nicht: Sie reduziert ihre Distanzen auf vertrauliche Nähe“ - so verfuhr Fontane mit seinen Anekdoten-Helden (etwa der „Wanderungen“) und Blumenberg seinerseits mit seinem „Helden“ Fontane (und einer Fülle weiterer).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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