Eine Rezension von Walter Flegel
Das Beispiel Prora
Wilhelm Boeger: Der Leihbeamte
Mitteldeutscher Verlag, Halle 1998, 240 S.
Drei Vorbemerkungen:
1. Prora liegt in Deutschland
2. Prora ist nicht nur eine ebenso begehrte wie belastende Liegenschaft auf der Insel Rügen, sondern außerdem eine unumstößliche Hinterlassenschaft.
3. Prora ist eine Quelle für Legenden
Für Wilhelm Boeger ist Prora über all das hinaus die Fabel für ein Buch über sich selbst.
Von Bonn aus im April 1991 freiwillig nach Schwerin gegangen, um der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern auszuhelfen, wird er nach Prora geschickt, um in dem Objekt etwas Vernünftiges zu entwickeln. Er tut es, indem er eine Umschulungs- und Bildungsbasis aufbaut für NVA-Offiziere, Lehrer und andere, aus ihrer bisherigen Tätigkeit entlassene Deutsche. Er organisiert Begegnungen, Gespräche, ein Schriftstellertreffen West-Ost, also Annäherung.
Im Verlaufe dieser Tätigkeit stellt sich heraus, daß der Auftraggeber viele waren und der Auslegungen des Wortes vernünftig noch mehr. Jeder, der an dem Projekt beteiligt war, erwartete etwas anderes und immer das Seine von Boeger, und am Ende waren sie alle sich nur in einem einig: in der Unzufriedenheit mit der Tätigkeit des Leihbeamten.
Dabei hätte der das besser wissen und können müssen. Hat er doch zuvor bereits Jahrzehnte mit deutschen Ministern, Staatssekretären und Beamten aller Stufungen zu tun gehabt. Er hätte das Unausgesprochene hören müssen. Er hätte längst gelernt haben müssen, sich in der Bürokratie der Parteien- und Verwaltungslandschaft ein- und unterzuordnen, abzuwarten und zu kassieren, oder sollte er gar bewußt ...?
In Prora bündeln sich viele Lebenserfahrungen Boegers. Es ist, als hätte dieses Stück bebauter Ostseestrand auf ihn gewartet und ihn nach dem Eingeständnis, dort gescheitert zu sein, aufgefordert, über sich zu schreiben. Wer das Buch als eine bloße Satire auf die Goldgräber betrachtet, die ab 1990 scharenweise in den Osten zogen, hat es nicht genau gelesen oder will etwas kaschieren. Prora ist nur eines der deutschen Beispiele und steht für viele andere. Wie weitgültig das Buch ist, wird wahrscheinlich auch dem Autor erst nach und nach bewußt. Mir fiel beim Lesen ein Satz von Ernst-Moritz Arndt ein: Der Reiz des leichten und schnellen Gewinns untergrub alle Gefühle von Menschlichkeit und Großmut.
Dieser Satz stammt aus Arndts Schrift über bäuerliche und herrschaftliche Verhältnisse in Vorpommern und auf Rügen, in der er 1817 die Zeit um die Jahrhundertschwelle zum 19.Jahrhundert charakterisiert.
Boeger schreibt nicht historische Abrisse, sondern erzählt Geschichten, aus denen, wie zu Mosaiksteinchen zusammengefügt, Geschichte sichtbar wird. Wohl eine andere als jene, die in Geschichtsbüchern steht und stehen wird. Dem Boeger und der Literatur sei Dank! Was er geschrieben hat, ist eine heitere, mitunter spöttische und manchmal fast höhnische, aber nie beleidigende oder gar entwürdigende Beschreibung von Zeit und Menschen der letzten fünf Jahrzehnte, aus der sich der Autor nie ausklammert. Seine Irrtümer verschweigt er nicht. Er versteckt sich nicht hinter anderen. Sein Geschick im Umgang mit Vorgesetzten erreicht hier und da schwejksche Züge. Seine Naivität führt zu Zivilcourage. Er macht Bürokratie durchschaubar. Er hat ausgesprochen, daß der Kaiser nackt ist. Und er läßt begreifen, wer austauschbar ist; alle, nur nicht der Apparat, die Verwaltung, die Bürokratie. Darüber hinaus läßt Boeger mich erleben, wie viele es in dieser Hierarchie gibt, die noch denken und handeln wollen nach einer Maßgabe des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg: Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen!
Besser als vorm Lesen des Buches weiß ich, was in der Politik Innovation bedeutet: Sich etwas einfallen lassen, z. B. um an Prora und dabei immer auch an sich selber denken. Sich etwas einfallen lassen, um den Aufschwung Ost möglichst unbemerkt zum flächendeckenden Abbau Ost zu machen.
Prora in drei deutschen Staatsgebilden, ein Wahrzeichen für den Charakter der jeweiligen Ordnung. Ein Schicksalsprozeß für zahllose Menschen, um den die Bücher und die Stücke noch zu schreiben sind, seine tragischen und komischen, leidenschaftlichen und alltäg-lichen Geschichten. Wilhelm Boeger hat begonnen, einen Fetzen Stoff aus dieser unend-lichen Decke sichtbar zu machen.
Solange ich las, hat er neben mir gesessen, und ich habe seine Stimme gehört, die warme, mitunter etwas eilige oder von einem Lachen unterbrochene Stimme. Das ist für mich ein Ausdruck für Erzählfähigkeit, für Eindringlichkeit von Sprache.
Wilhelm Boegers Buch gehört zu seinen aufrichtigen Bemühungen um wirkliche Annäherung, für die er mehr getan hat, als mancher wahrnehmen möchte. Und jene, die sich von diesem Buch getroffen fühlen, können überzeugt sein, daß sie gemeint sind.