Literaturstätten


 „So sonderbar es klingt, Adlershof hat auch großen Charme“

 

Die Anna-Seghers-Gedenkstätte

Die literarischen Jubiläumsjahre reißen nicht ab: Standen 1998 Theodor Fontane und Bertolt Brecht im Mittelpunkt des Interesses, nötigt uns in diesem Jahr kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe unsere Aufmerksamkeit ab. Im „magischen Jahr 2000“ wird es eine Frau sein: Anna Seghers, am 19. November 1900 in Mainz als Netty Reiling geboren.

Schon bereiten sich ihre Verehrerinnen und Verehrer in nah und fern mit vielen guten Ideen darauf vor, auch an offiziellen Veranstaltungen wird es nicht fehlen, und ganz gewiß werden ein paar bescheidene Räume im Stadtbezirk Treptow ihre freundliche Anziehungskraft ausstrahlen: die Wohnung der Dichterin in Berlin-Adlershof, die jetzige Anna-Seghers-Gedenkstätte und Sitz der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V.

Alle Gäste werden willkommen sein, sind es schon jetzt!

An einem unauffälligen Mietshaus weist eine kleine Tafel darauf hin, daß Anna Seghers hier fast drei Jahrzehnte gelebt hat, von 1955 bis zu ihrem Tod am 1. Juni 1983. Eingezogen war sie - zusammen mit ihrem Ehemann László Radványi -, als die Straße noch Volkswohlstraße hieß, was der Dichterin gut gefallen hatte. Der ganze Ort gefiel ihr, wie ihre Mitteilung an die Freundin Lore Wolf bezeugt: „So sonderbar es klingt, Adlershof hat auch großen Charme.“ Gleich „um die Ecke rum“ wußte sie ihre Freundinnen Berta Waterstradt und Steffi Spira. In der Wohnung selbst liebte sie besonders zwei Plätze: „... ein Eck am Fenster meines kleinen Schlafzimmers ..., aus dem man weit raus sehn kann und sich einbilden, dahinter läge das Meer und die Schiffe oder sonst was. Und gut ist auch, auf dem kleinwinzigen Balkon zu liegen, und ich guck mir abends die Vögel an und frage mich, warum sie herumfliegen ... Und vor allem: ich kann viel und hoffentlich zum Teil auch gut schreiben.“

Gerne kamen Gäste zu ihr, zum Beispiel Christa Wolf, die darüber berichtete: „Man hat den Klingelknopf neben dem Namensschild gedrückt, sie steckt oben den Kopf zum Fenster raus und gibt umständliche Anweisungen, wie die Tür anzufassen sei, damit sie keine Schwierigkeiten mache. Ihr ist es lieber, daß man amüsiert als daß man befangen ist. Sie hantiert in der Küche, läßt sich nicht helfen. Ich kann es nicht leiden, sagt sie, wenn alle wie verrückt umherrennen ... Faßt sie nur nicht an, beschwört sie jeden Besucher, der sich dem Kachelofen nähert, an dem die zerbrechlichen mexikanischen Tonglöckchen hängen. Vor den Bücherreihen, aus denen ungern ein Exemplar verliehen wird, haben die russischen Literaturstätten Gipselche und das ganze Puppen- und Kleintierzeug Posten bezogen, das man in Moskau in Straßenbuden auf der Gorkistraße kaufen kann. Der Zeitungsstapel neben dem Sofa wächst heimtückisch von Mal zu Mal, aber der Kaffeetisch ist friedlich, nahrhaft und erinnert an die vielen Kaffee- und Eßtische, die in ihren Büchern als Zuflucht für Bedürftige aufgestellt sind.“

Wie gesagt, diese Wohnung ist heute eine literarische Gedenkstätte, die von der Akademie der Künste betreut wird. Zwei Räume, Wohn- und Arbeitszimmer, wurden im Originalzustand erhalten. Für Anna Seghers und ihren Mann war wichtig, an soliden Holztischen arbeiten zu können und die umfangreiche Bibliothek bequem zur Hand zu haben. Die darin ältesten und wertvollsten Bücher, zumeist mit dem Exlibris Netty Reiling, hatte Anna Seghers nach Paris hinübergerettet. Dort wurden sie bis 1947 aufbewahrt und konnten nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil wieder nach Berlin gebracht werden. Die Erben von Anna Seghers haben diese Bibliothek wie auch die gesamte Ausstattung der Gedenkstätte zur Verfügung gestellt. Aus dem Nachlaß der Schriftstellerin ist im ehemaligen Arbeitszimmer von László Radványi eine kleine ständige Ausstellung zusammengefügt worden. Sie gibt durch interessante Dokumente einen chronologischen Überblick über wichtige Lebenssituationen von Anna Seghers, zeigt eine vollständige Sammlung von Erstausgaben und läßt den Besucher durch Manuskripte, Briefe und Fotos Einblick in die Autorenwerkstatt nehmen. Dazu kommen die fremdsprachigen Belegexemplare ihrer Bücher - Das siebte Kreuz z. B. auf englisch, französisch, spanisch, niederländisch, chinesisch ...

Viele Gäste besuchen die Gedenkstätte: Schüler der nahe gelegenen Anna-Seghers-Schule ebenso wie Liebhaber der Dichterin und Neugierige aus aller Welt, aus Japan wie aus den USA, aus Schweden wie aus Südamerika. Wissenschaftler dürfen ein wenig in der Bibliothek stöbern, kleine Besuchergruppen sehen sich gern einen Spielfilm an, der nach einem Roman der Dichterin gedreht wurde: wie Das siebte Kreuz, Transit, Das wirkliche Blau, Die Toten bleiben jung ...

Eine lange Tradition haben inzwischen die monatlichen Veranstaltungen in Anna Seghers’ Wohnstube. Viele bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben hier schon gelesen, unter ihnen Jurij Brézan und Daniela Dahn, Werner Liersch und Sigrid Damm, Wolfgang Kohlhaase und Renate Holland-Moritz. Freundinnen von Anna Seghers - alle Damen weit über 80! - erzählten aus der gemeinsamen Emigrationszeit in Mexiko: Sophie Marum, Lenka Reinerová, Jeanne Stern. Die Tochter Ruth und der Pariser Enkel Jean steuerten persönliche Erinnerungen bei, und profilierte Seghers-Forscherinnen und Forscher suchten nach immer neuen Wegen der Erschließung des dichterischen Werkes. Zu ihnen gehörten viele mit der Anna-Seghers-Gesellschaft eng verbundene und für sie engagierte Mitglieder wie Sigrid Bock, Ursula Emmerich, Frank Wagner, Silvia und Dieter Schlenstedt.

Insgesamt fanden bisher 80 Veranstaltungen statt - und keine, aus der die Besucher nicht ein bißchen klüger und reicher hinausgegangen wären. Viele kommen immer wieder. Warum? Was zieht sie an? Es ist die besondere Atmosphäre und der einmalige Charme der Wohnung - mit Kachelofen, Kaffeetisch, mexikanischen Tonglöckchen und Büchern, Büchern, Büchern ..., es ist das kulturvolle Gespräch geistig regsamer Menschen, und es ist das unermüdliche, gleichermaßen liebenswürdige wie kompetente Engagement von Marianne Berger, der Leiterin der Gedenkstätte, die ihrerseits jede Veranstaltung zu einem besonderen Erlebnis werden läßt. Für das Jubiläumsjahr - um darauf zurückzukommen - hat sie einen wunderbaren Plan: Es sollen Schriftstellerinnen und Schriftsteller lesen, die mit dem „Anna-Seghers-Preis“ ausgezeichnet wurden. Diesen Preis verleiht jährlich die Akademie der Künste und erfüllt damit ein Vermächtnis der Dichterin, aus den Tantiemen ihres Werkes junge Schriftsteller in Deutschland und Lateinamerika zu fördern. Im Jahr 2000 sind also Omar Saavedra Santis, Kerstin Hensel, Jens Sparschuh, Michael Wildenhain und noch viele andere zu erwarten.

Alle Veranstaltungen sind der Satzung der „Anna-Seghers-Gesellschaft“ verpflichtet, in der es heißt: „(Sie) fördert das literarische Leben. Sie widmet sich ... dem Studium sowie der Verbreitung und Vermittlung des Werkes von Anna Seghers, der Pflege ihres Nachlasses und der Erinnerung an ihr Leben. Sie dient der Zusammenarbeit aller an ihrem Werk Interessierten und soll in engem Zusammenwirken mit dem Anna-Seghers-Archiv und der Anna-Seghers-Gedenkstätte in Berlin ein Zentrum der Diskussion sein, von dem Anstöße und Anregungen ausgehen für Forschung und öffentliche Auseinandersetzung mit den Romanen und Erzählungen, den theoretischen und publizistischen Arbeiten der Autorin sowie mit ihrer Biographie.“

Die Anna-Seghers-Gedenkstätte befindet sich in 12489 Berlin-Adlershof, Anna-SeghersStraße 81. Öffnungszeiten: Di 9-12, 14-19 Uhr, Mi und Do 9-12, 14-17 Uhr und nach Vereinbarung. Der Eintritt beträgt 4,-- bzw. 2,-- DM.

Kommen Sie - Sie werden erwartet!

Gudrun Fischer


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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