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Dieter Kliche

Die fremde Stadt. Joseph Roths Berliner Feuilletons

 

Nach „der Art der Europäer, die geographische Begriffe literarisch werten“, so heißt es über Paul Bernheim in Joseph Roths Roman Rechts und links, haben Orte und die Bewegung über Grenzen hinweg zu ihnen hin oder von ihnen weg bei Joseph Roth zentrale literarische Bedeutung. Berlin ist für Roth einer der zentralen Orte seines Lebens und seiner Literatur. Die Berliner Jahre von 1923-1925, so meine vorausgeschickte These, bedeuten die tiefe Bruchstelle in Biographie und Werk Joseph Roths, an der gemessen die üblicherweise um 1930 angesetzte Wendung Roths (vom Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ zum Autor von Hiob und Radetzkymarsch) weit weniger eingreifend erscheint, ja sogar der Einschnitt 1933 an Bedeutung verliert. Dieser tiefe Einschnitt soll hier an Roths Berliner Feuilletons demonstriert werden. Ich frage zunächst in Stichworten nach den prägenden und bleibenden biographischen und weltanschaulichen Dispositionen in Vorkrieg, Krieg und Nachkrieg, die auf Roths Weg nach Berlin liegen.

Kindheit und frühe Jugend Roths im galizischen Brody und Lemberg verlaufen in einer multiethnischen (Polen, Ukrainer, Deutsche und Juden) und multisprachlichen Gemeinschaft, in der auf den Straßen polnisch, ukrainisch und jiddisch gesprochen und in den Schulen Hebräisch, Deutsch und Polnisch unterrichtet wurde. In diesem Milieu bildet sich Roths scharfe Ablehnung allen Nationalismus und Ethnozentrismus aus. Wie in Kindheit und Jugend fühlt sich Roth in seinen späteren Jahren dort am wohlsten, wo die ethnischen Gruppen möglichst bunt gemischt sind: im Völkerlabyrinth des Kaukasus und im Süden Frankreichs.

Der Übergang nach Wien ist von dem Willen bestimmt, sich als Jude zu assimilieren und voll in die deutsche Sprache und Kultur zu integrieren. Obwohl Roth darüber nicht reflektiert, gibt es eindeutige Indizien: zunächst die Wahl des Studienfaches Germanistik, dann die Verdrängung seines jüdischen Vornamens Moses (Moische), schließlich der angedichtete Geburtsort Schwabendorf, in Wahrheit ein von Deutschen besiedeltes kleines Vorwerk in der Nähe der Stadt. Das klang natürlich deutscher als Brody. Und Brody, das „neue Jerusalem“ (so Kaiser Franz Joseph nach seinem Besuch in der Stadt), verband man in Wien sprichwörtlich mit dem galizischen, als besonders rückständig und vormodern geltenden Ost-Judentum.

Als Einjährig-Freiwilliger im Kriegsdienst ist Roth Redakteur bei Heereszeitungen. Immerhin aber doch nahe genug an den blutigen Schlachten im galizischen Raum, daß ihm die Generäle Teisinger für die österreichisch-ungarische und Ludendorff für die deutsche Armee zu bleibenden Symbolfiguren für die sinnlose Verheizung von Menschen als Schlachtvieh werden und seinen militanten Antimilitarismus begründen.

Im Wien der Nachkriegszeit wird Roth nicht Germanist, wie wollte man davon leben, sondern Journalist in der Schule der von Benno Karpeles geleiteten Tageszeitung „Der Neue Tag“. Was wir seine kulturkritische, pessimistische und skeptische Grundhaltung nennen können, zeigt sich in den reifsten Feuilletons der Wiener Zeit (so in „Auferstehung des Geistes“ und „Proletarisierung der Häuser“) bereits voll ausgebildet. Kultur gegen Zivilisation heißt das Stichwort, nicht aber polarisiert als Gegensatz von Völkern und Nationen wie in der deutschen Diskussion um die Jahrhundertwende, sondern als innere, zerstörerische Spannung aller Moderne. Das Kriegserlebnis steht Pate bei der Zusammenziehung der zivilisatorischen Übel: Macht und Technik, Macht und Politik, Macht, Technik und Gewalt. Wie von Oswald Spengler geschrieben, erscheint die Schlußsequenz des Feuilletons über die „Proletarisierung der Häuser“: „Unerbittlicher Kreislauf des Geschehens: Von der Erdhöhle zur Kultur, verflacht durch Zivilisation, zum Militarismus der Technik. Von da durch Sozialisierung, Proletarisierung bis zur Erdhöhle - nur ein Schritt.“ (I, S. 171) Roth diagnostiziert bereits als 25jähriger: Der technische Fortschritt zermalmt das humanistische Ideal. Es fehlt der sittliche Schwung und der ethische Wille zur Auferstehung des Geistes. - Sind das vielleicht nur effektvolle feuilletonistische Augenblicks-Pointen? - Ganz und gar nicht! In den zitierten Formulierungen zwar besonders expressionistisch getönt, bleibt diese skeptische und pessimistische Kritik des Fortschritts und der Zivilisation bis zu den großen kulturkritischen Essays der 30er Jahre („Grillparzer“, „Der Antichrist“, „Aberglaube an den Fortschritt“), die diese Kulturkritik auf für Roth typische Weise mit Faschismuskritik verbinden, der grundlegende Epochenbefund.

Das Zwischenfazit: Antinationalistisch, antimilitaristisch und zivilisationskritisch, verbunden mit einem starken Assimilationswillen - das sind die entscheidenden Dispositionen Roths auf dem Weg nach Berlin.

Berlin war für Roth keine Entscheidung, die von einer besonderen Vorliebe für die deutsche und preußische Hauptstadt getragen gewesen wäre. Er schließt sich dem Zuzug nach der deutschen Hauptstadt im Juli 1920 an, weil ihm die Zeitungsstadt noch am ehesten eine journalistische Chance versprach, nachdem Benno Karpeles den „Neuen Tag“ aufgeben mußte. Die journalistischen Stationen sind: das linke Boulevardblatt „Neue Berliner Zeitung“, dann ab Januar 1921 Mitarbeiter der Lokalredaktion des „Berliner Börsen-Courier“; schließlich ab Januar 1923 bis zum Januar 1933 in der Hauptsache die „Frankfurter Zeitung“. Daneben hat Roth auch andere Blätter beliefert, so im ersten Berliner Jahr das „Berliner Tageblatt“, späterhin mit zahlreichen Beiträgen den sozialdemokratischen „Vorwärts“ und die Satire-Magazine „Der Drache“ und „Lachen links“; und über die ganze Zeit hin und auch noch nach 1933, wenn auch nicht regelmäßig, das „Prager Tagblatt“.

Roths Berliner Zeit von Mitte 1920 bis Mai 1925, sie wird 1923 durch sechs Monate in Wien und Prag unterbrochen, weil hier die Inflation früher zu Ende ging, umgreift also ganze viereinhalb Jahre. In dieser Zeit schreibt Roth den überwiegenden Teil seiner Feuilletons, so daß man diese Jahre als seine feuilletonistische Produktionsphase bezeichnen kann. In den genannten Blättern erscheinen nahezu täglich, mitunter in derselben Nummer mehrere Beiträge von ihm. Journalistische Professionalität also: ein unentwegtes Produzieren für den Tagesbedarf der Zeitungen, das alle Gelegenheiten umfaßt: Berichte über Vorträge und Lesungen, gesellschaftliche Ereignisse aller Art, Theater-, Film- und Buchrezensionen, Prozeßberichte, Meinungsumfragen, kleine soziologische Erhebungen (was liest der Berliner, wie sehen die Leihbibliotheken aus), Stadt-Miniaturen und schließlich auch Sonntagsplaudereien für das feiertäglich gestimmte Publikum. Es ist vieles darunter, was (aus der finanziellen Abhängigkeit von den betreffenden Zeitungen erklärbar) als Lohn- und Tagesschreiberei erkennbar ist. Den entsprechenden Texten merkt man an, daß sie in aller Eile geschrieben sind, um noch vor dem Redaktionsschluß im Zeitungsviertel, in der Zimmer-, Beuth- oder Lindenstraße anzukommen. Die ganze journalistische Produktion der Berliner Jahre ungegliedert nach den verschiedenen Textsorten unter dem Titel Berliner Feuilleton zusammenzufassen ist nur erlaubt, wenn man den Veröffentlichungsort in der Zeitung, die Publikation unter dem Strich oder in der Beilage als zusammenfassendes Merkmal nimmt. Dem Feuilleton im eigentlichen Sinne als publizistisch-literarische Kleinform der Zeitung ist nur ein Teil, wohl aber der zentrale und wichtigste in dieser Masse der Texte, zuzuordnen - und dieser wiederum konzentriert sich um den Kern der beobachtenden Wahrnehmung der Stadt und ihrer literarischen Verallgemeinerung. Wenn ich im Folgenden von Roths Berliner Feuilleton spreche, so in dieser Eingrenzung.

Die Merkmale des Rothschen Feuilletons, die allgemeine Merkmale des Genres einbegreifen, seien knapp skizziert:

(1) Sie sind stark adressatenorientiert, weil Roth sich auf die sozialen, politischen, kulturellen und Bildungsvoraussetzungen der Leser des bestimmten Blattes einläßt und damit das Feuilleton als genuines Zeitungsgenre akzeptiert. Man vergleiche zeitgleich geschriebene Feuilletons für die „Frankfurter Zeitung“ einerseits und den „Vorwärts“ andererseits, oder für die „Neue Berliner Zeitung“ und den „Börsencourier“. Das sind Texte, die man nach Anlage und Verallgemeinerung kaum demselben Autor zuschreiben würde - wenn nicht der spezifisch Rothsche Ton wäre: die durch Kulturkritik melancholisch gefärbte Betrachtung der Dinge und Menschen.

Die ihm zur Verfügung stehende Spannweite des feuilletonistischen Tons und Arrangements reicht von der zarten poetischen Verallgemeinerung über die auf anthropologische Befunde zielende kulturkritische bis zur scharfen sozialkritischen und politisch-satirischen Verallgemeinerung - und dies nach Maßgabe der Temperamente des verschiedenen Publikums verschiedener Zeitungen.

(2) Gleichzeitig aber und nicht im Widerspruch mit der starken Adressatenorientierung beansprucht Roth die Unparteiischkeit des Feuilletons. Es legt sich nicht auf die politische Couleur der Zeitung fest, was wiederum erklärt, warum Roth sowohl für den sozialdemokratischen „Vorwärts“, die liberale „Frankfurter Zeitung“ und die rechts-konservativen „Münchner Neuesten Nachrichten“ schreiben und sich dabei zu Recht auf seinen großen Vorgänger Heinrich Heine berufen kann. Als ihm wegen des Wechsels zu den „Münchner Neuesten Nachrichten“ von Hans Bauer 1929 mangelnde Gesinnung und Charakter vorgeworfen werden, antwortet Roth: „Niemals habe ich die ,Weltanschauung‘ irgendeiner Zeitung, in der ich gedruckt war, geteilt, oder gar repräsentiert.“ Und auf die Negation folgt die Position: „Wo immer ich schreibe, wird es ,radikal‘, das heißt hell, klar und entschieden.“ (III, S. 94).

(3) Unparteiischkeit heißt drittens nämlich nicht, daß es in Roths Feuilletons keine Wertung und Parteinahme gäbe. Sie liegt nur auf einer anderen Ebene als die politische Physiognomie der Zeitung.

Die Details der urbanen Wahrnehmung, vom Punktuellen, Alltäglichen, Nebensächlichen ausgehend, werden in lockerer Fluktuation der Gesichtspunkte und Blickwinkel zu fundamentalen Urteilen über die Natur des Menschen und den Charakter der Epoche geführt. „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt“, so der erste Satz von Siegfried Kracauers Aufsatz „Ornament der Masse“, „ist aus einer Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenerscheinungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ Dieses Verfahren hat man den symptomatischen oder physiognomischen Blick genannt, der in der Zwischenkriegszeit sowohl der Soziologie (man denke an Kracauers Studie „Die Angestellten“), als auch der literarischen Reportage und eben auch dem Rothschen Zeitungsfeuilleton neue analytische Schärfe für die Bewertung der Massenphänomene in den modernen Industriegesellschaften und der Wahrnehmung der Urbanität in den großen Metropolen vermittelte. Auf die Ethik dieser Kultur- und Zivilisationskritik, sie ist auch die Ethik des Feuilletons, beruft sich Roth, wenn er es bei der Aufkündigung seiner Mitarbeit am „Börsen-Courier“ ablehnt, der Sonntagsplauderer für ein bürgerliches Publikum zu sein, oder wenn er 1926 im Streit mit der „Frankfurter Zeitung“ zutiefst verletzt und stolz und selbstbewußt zugleich seine Feuilleton-Position als eine der wesentlichen Stimmen der Zeitung verteidigt: Unter dem Strich wird von der Hauptsache gesprochen und werden die ernstesten Dinge verhandelt, so ernst, wie in keinem anderen Teil der Zeitung.

(4) Voraussetzung für den symptomatischen und physiognomischen Blick auf die Urbanität ist die penible Beobachtung und der unverstellte und ungeprägte Blickkontakt mit der Stadt: „Ich schäle aus den Hüllen des Wissens und der Kultur das Staunen heraus. Ich schlage gleichsam meine offenen Augen noch einmal auf ... Ich gehe zu Fuß durch die Straßen der Stadt. Ich bilde mich zum Ungebildeten. Ich lerne Unwissenheit. Ich gedenke zu vergessen.“ (I, S. 787). Und dafür wiederum ist die weitere Voraussetzung die Rolle und der Standort des Beobachters, der sich in den Rothschen Feuilletons literarisch in der Ambivalenz unvollständiger Integration vergegenständlicht: Kontakt mit dem Beobachteten und Distanz zu ihm, der Stadt zugehörig und zugleich Fremder, als Beobachter verdächtig und zugleich als Passant unauffällig, in der Masse untertauchend und zugleich außerhalb von ihr, weil sie beobachtend. Unverkennbar ist damit die Rolle des Flaneurs und die Bewegung der Flanerie beschrieben.

Diese Verfahren des symptomatischen Blicks und der Flanerie bringen ihn in die Nachbarschaft zu anderen Feuilletonisten und Reportern der Weimarer Zeit. In der besonderen Art der Verbindung des Alltäglichen und Banalen mit dem Wesentlichen und Fundamentalen entdecken wir aber zugleich eine nur für Roth charakteristische Weise, die die Eigenart eines Großteils seiner kulturkritischen Feuilletons ausmacht und vielleicht auch den Unterschied zu Siegfried Kracauers (der „metaphysische Flaneur“) Stadt-Entzifferungen oder, um einen anderen Feuilleton-Protagonisten zu nennen, zu Franz Hessels die Stadt ästhetisierenden Berliner Spaziergängen ausmacht. Man kann das Rothsche Verfahren, im Einverständnis mit ihm, da er seiner 1930 erschienenen Feuilletonsammlung den Titel „Panoptikum“ gibt, panoptikale Gestaltung nennen. Als 1923 Castans Panoptikum in der Lindenpassage/Ecke Friedrichstraße unter den Hammer kam, weil die technische Entwicklung neuer Bildmedien über dieses Kind des 19. Jahrhunderts hinausgewachsen war und dem bildhungrigen Massenpublikum neue Sensationen anzubieten hatte, entdeckte Roth in der Konkursmasse die „paradoxale Philosophie des Panoptikums“, die auf die Wahrheit des panoptikalen Daseins verweist: Dank einer symbolischen Innenarchitektur trennt nur ein Schritt die Schreckenskammer vom Märchensaal, nur ein Schritt den großen Verbrecher von den Säulenheiligen der Nation und nur ein Vorhang die Fürsten Europas, ihre Paraden und Krönungen vom Lachkabinett. Genau das ist das feuilletonistische Verfahren Joseph Roths. Beispiel ist das Feuilleton „Unterm Bülowbogen“: Im alltäglichen Straßengetriebe Berlins beobachtet er in der Bülowstraße harmlose Würstchenesser unter dem Hochbahnbogen. Der symptomatische Blick hakt sich an dieser Straßenszene fest. Unvermittelt stellt sich die Assoziation ein zu dem genau an dieser Stelle, vielleicht von einem dieser Würstchenesser, vor wenigen Tagen begangenen nächtlichen Mord. Ein harmlos scheinender, in Wahrheit unheimlicher Ort, die Geheimnisse von Berlin enthüllend. Und über dieser sozialromantisch angelegten Szene von Normalität und Verbrechen, die ja in der Stadtgeheimnisliteratur des 19. Jahrhunderts (Stichwort Eugène Sue) ihren literarischen Vorläufer hat, als dritte paradoxale Komponente: oben auf dem Viadukt die donnernde Hochbahn in ihrem unaufhaltsamen Zug nach dem zivilisierten Westen der Stadt, in Richtung Amerika.

Das paradoxale und panoptikale Sehen und Gestalten haben ihr Pendant in der apokalyptischen Phantasie Joseph Roths, der Fähigkeit, aus den scheinbar harmlosen Szenen des städtischen Getriebes, oder aus den harmlosen Massenvergnügen im Luna-Park vor dem Halenseer Tor oder aus dem Berliner Sechstage-Rennen das Schlimmstmögliche zu imaginieren: „Ich sehe durch Lupen. Ich schäle die Häute von den Dingen und Menschen, lege ihre Geheimnisse bloß ... Früher als das Objekt, das ich betrachte, weiß ich, wie es sich gestalten wird, verändern und was es tun wird.“ (Briefe, S. 75).

Wie sind nun die Lesemöglichkeiten der Stadt als Text: Zunächst und vor allem beobachtet Roth im öffentlichen Raum der Stadt: auf den Straßen und Plätzen, in den Verkehrsmitteln, auf den Bahnhöfen und unter den Hochbahnbögen. Dann aber auch den Blick in die halböffentlichen Orte, in die Häuser und Gebäude, in die Asyle, Wärmestuben, Kneipen und Vergnügungsetablissements hineinwendend und schließlich: Häuser buchstäblich aufmachend, indem er in die verschiedenen Wohnungen eines Hauses hineingeht und mit ihren Bewohnern spricht, mit der Neugierde darauf, was sich hinter den Fassaden und jenseits der Oberfläche des Öffentlichen lesen läßt: „Draußen sind die Menschen Passanten, Merkzeichen der Straße wie Straßenbahn, Zaunpfahl, Laterne, Kiosk. Zu Hause eröffnen sie sich.“ (I, S. 390) Diesem Blick sind, soweit Phantasie das Innenleben der Stadt nicht ersatzweise imaginär ausmalt, Grenzen gesetzt. Roth reflektiert diese Grenzen in einer ganzen Reihe von Texten, die man als Fenster-Feuilletons zusammenfassen könnte. Wieder ist das Motiv leitend, sich die Stadt zu öffnen, ihre steinerne Oberfläche aufzubrechen: „Hinter den geschlossenen Gardinen der fremden Fenster konnte Unglaubliches geschehen. Gespensterwandel oder Einbruch oder verschwiegene Orgie. Es war unheimlich, geschlossene Fenster zu sehen, wie ein Anblick gehender, aber zeigerloser Uhren oder die Gesellschaft eines Taubstummen.“ (I, S. 655) Öffnen sich die Fenster, und kann man in die Wohnungen hineinsehen, so werden „Heimlichkeiten der vielen fremden Menschen (sichtbar), die mich gar nichts angehen und meine Nachbarn sind“. (I, S. 655)

An dieser Stelle muß der synchrone Blick auf die Berliner Feuilletons aufgegeben werden und ein Blickwechsel auf die zeitlichen Phasen des Feuilletonschreibens und die dabei zu beobachtenden Veränderungen erfolgen. Der Gesichtspunkt für einen Periodisierungsver-such ist der sich verändernde Zusammenhang zwischen Roths politischem Verhältnis zur Weimarer Republik; der Art der Stadtwahrnehmung und der Eigenart des Feuilletons. Zwei Phasen lassen sich ausmachen, die durch verschiedene Betonungen der Metapher von der fremden Stadt charakterisiert werden können.

Die fremde Stadt, in der man heimisch werden und sich assimilieren kann.

Roth kommt 1920 nach Berlin und identifiziert sich mit der parlamentarischen Nachkriegsverfassung der ersten deutschen Republik. So berichtet er 1920 aus Ostpreußen über den polnisch-russischen Krieg als ein deutscher Journalist: „Unser Grenzschutz braucht dringend Verstärkung“.(I, S. 313). Die deutsche Republik ist für Roth der verteidigenswerte Versuch einer neuen Ordnung nach den europäischen Verheerungen von Krieg und Revolution - eine Ordnung, die vielleicht auch eine ausgleichende soziale Ordnung herbeiführen kann. Mir scheint, was Roth seinen „Sozialismus“ nennt, ist in diesem Bekenntnis zum antiständischen und antiklerikalen Republikanismus eines zivilen Staates und der Verpflichtung sozialer Verantwortung dieses säkularisierten Staates noch am ehesten zu fassen. Wenn er frühzeitig, früher als manch anderer, die bedrohlichen Hakenkreuze wahrnimmt oder den Rathenau-Mord als ein unsühnbares Verbrechen an der Republik verdammt, so steht dahinter immer noch die Überzeugung, daß man die neue demokratische Ordnung gegen ihre Feinde verteidigen kann.

Von der geglaubten Möglichkeit der Integration als Jude, Staatsbürger und republikanischer Journalist ist die Wahrnehmung der Stadt und ihre feuilletonistische Verallgemeinerung in den ersten Berliner Jahren ganz und gar geprägt. Stadtwahrnehmung ist Aneignung der fremden Stadt, die in drei Motiven thematisiert wird: „Bewegung im Stadtraum“, „Wahrnehmung sozialer Differenz als Sozialkritik“ und „poetische Verallgemeinerung“. Zu den drei Motiven einige knappe Bemerkungen.

Viele der Rothschen Feuilletons lesen sich wie Erkundungen eines Labyrinths, Rekognoszierungen einer Terra incognita, als rastlose Patrouillen-Gänge entlang der Magistralen und Plätze und hinein in die Straßenverästelungen. Die Stadt wird ausgemessen, verschiedene Orte der Stadt im jeweiligen Feuilleton topographisch genau bezeichnet und ruhelose Bewegung im Raum der Stadt suggeriert - oft in den einzelnen Feuilletons selbst, so wenn Roth exploriert, ob die Berliner ehrlich sind: am Spittelmarkt, an den Bahnhöfen Friedrichstraße und Charlottenburg, schließlich im Zeitungsviertel in der Zimmerstraße. Suggestion ruheloser Bewegung erfolgt aber auch über die Sequenz der einzelnen Feuilletons, die der Leser während einer Woche oder eines Monats von Roth zu lesen bekam. So hört das Publikum des „Berliner Börsencouriers“ im November 1920 während zehn Tagen vom Beobachter Roth über einen Stromausfall zwischen Behrenstraße und Unter den Linden, von einem Adressenkopisten in der Stallschreiberstraße, von einer Prügelei im Café des Westens, von einem Club armer Türken in der Grenadierstraße und schließlich von einer Ausstellung des Berliner Hausfrauen-Vereins im Warenhaus Tietz am Alexanderplatz. Zwischen diesen Stationen liegen nicht unbeträchtliche Entfernungen. Über die reflektiert der Feuilletonschreiber nicht. Er ist eben da, immer zur Stelle, fast zu gleicher Zeit an den unterschiedlichsten Punkten der Stadt, ein versierter Lokal-Reporter, der die Stadt genauestens kennt und sich von einem zum anderen Ende mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt. Der Reporter und Feuilletonist ist hier zu Hause und im vertrauten Raum.

Ein Locus amoenus wird die Stadt aber nicht. Entlang einer West-Ost-Achse nimmt Roth die sozialen Kontraste zwischen dem Westen und dem Osten und Norden Berlins wahr. Will man die Stadt in ihrer Gänze wahrnehmen, so muß man den Westen und den Osten und Norden sehen und vergleichen, in denen die Gesichter der Häuser und Straßen, die Bewohner und Passanten und die Art der Vergnügen so grundverschieden sind. Topographie und Topik: Aus der sozialen Semantik dieser Ost-West- und Nord-West-Achse entsteht die topologische Bedeutung der Berliner Orte: der Alexanderplatz und das Scheunenviertel - das Stadtzentrum der kleinen Leute und die verruchten Kaschemmen und Kneipen; der Wedding als das proletarische Berlin par excellence; Grenadier- und Hirtenstraße als das jüdische Ghetto von Berlin; die Friedrichstraße mit ihrer Mischung von Geschäft, Vergnügen und Sünde; der Kurfürstendamm als die Meile der Reichen, der Müßiggänger, Bohemiens und Emigranten; das Gleisdreieck als Herrschaftsort und Sieg der Technik über Natur, Mensch und Urbanität, der Potsdamer Platz als der temporeiche und chaotische Verkehrsknotenpunkt der Stadtmitte, der die Ost- und Weststadt auf nur schmaler Zunge miteinander verbindet.

Die poetisch-lyrische Aneignung der Stadt umspielt das Thema Fremdsein/Zu-Hause-Sein, bzw. als Fremder ankommen und am Ort heimisch werden. Das Feuilleton „Die fremde Stadt“ von 1921 setzt als Prämisse: „Das ist gewiß, daß ich ein Einsamer bin in dieser fremden Stadt und daß mich des Morgens, wenn ich durch die Straßen gehe, ein Schauer der Heimatlosigkeit überfällt.“ (I, S. 638) Der Schlußsatz lautet: „Immer heimischer werde ich in der fremden Stadt.“ Zwischen These und Antithese liegt ein Erlebnis: Ein Fremder, der ihm täglich grußlos auf der Treppe begegnet, von Beruf Repräsentant (was er repräsentiert, bleibt offen), beugt sich eines Tages zu dem blauäugigen Mädchen namens Lili herab und hebt ihm seinen Handschuh auf. „Es war, wie wenn ein historischer Kaiser plötzlich zu lachen anfing oder wenn ihm sonst was Menschliches passierte. Immer heimischer werde ich in der fremden Stadt.“ Auch der Fensterblick zu den fremden Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite vermittelt Zu-Hause-Sein. Der Fensterbeobachter entdeckt in den geöffneten Fenstern sein eigenes alltägliches Leben: Es sind die fremden Menschen und zugleich seine ihm ähnlichen Nachbarn. Die bedrohlichen Geheimnisse von Berlin erweisen sich in diesen glücklichen Momenten lediglich als die normalen Heimlichkeiten ganz gewöhnlicher Leute. Schließlich: Natur und Stadt: Die Anwesenheit der natürlichen Jahreszeiten in der Stadt, die sich am Verhalten ihrer Bewohner, in ihrem Rhythmus von Abreise und Heimkehr aus der Sommerfrische, an dem Verhalten der Büromädels, am Leben auf den Straßen lesen läßt, schaffen Heimat und das Gefühl des Zu-Hause-Seins. Alle drei genannten feuilletonistischen Sujets (Bewegung, Sozialkritik und poetisch-lyrische Verallgemeinerung) sind Aneignung der fremden Stadt. Die Integration scheint gelungen. Wird aber Roth immer heimischer in der Stadt?

Die fremd werdende Stadt.

Das Krisenjahr 1923 bringt den tiefen Einschnitt und Umbruch. Ab diesem Jahr reden die Feuilletons eine andere Sprache. Sie lassen die zunehmende Entfremdung von der Stadt erkennen - und Berlin steht gleichzeitig für Deutschland. Roth sieht: Die Inflation verschärft das Nachkriegselend zu den schreiendsten Kontrasten. Die parlamantarische Republik erweist sich als weitgehend machtlos gegen antirepublikanische Feinde. Mit zunehmender Bitterkeit notiert Roth die Wucherungen des Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus. Die Feuilletons des Frühjahrs 1924 verdichten diese Kritik, indem Vorgänge aus verschiedenen Ereigniszusammenhängen und verschiedenen gesellschaftlichen Milieus zur paradoxalen Gleichung des Unvergleichbaren gebracht werden. Dafür sind wiederum die Feuilletonsequenzen interessant, so die vom März 1924, in dessen Verlauf Roth den Ludendorff-Hitler-Prozeß als Verhöhnung der Republik und die republikanische Ordnung umkehrenden politischen Karneval kommentiert, das Box-Championat im Sportpalast als Brot-und-Spiele-Zirkus sieht, die Berliner Halbwelt und ihr Nachtleben-Amüsement studiert (eine lächelnde Welt ohne Katastrophen, ohne Kriege, ohne Revolution und ohne Tuberkulose), weiterhin Ludendorff als Schlächter des Ersten Weltkrieges denunziert, den Zug der Elenden und Obdachlosen die Frankfurter Allee hinauf zum Asyl in der Fröbelstraße in dramatischer Inszenierung beschreibt und schließlich die Reichstagsauflösung als Tod des ersten deutschen republikanischen Parlaments beklagt. Hatte vorher die Simultanität der Berliner Orte sich zum Bewegungsraum des Stadtreporters zusammengefügt, so vermittelt jetzt die Simultanität der als Symptome gefaßten Ereignisse und Figuren das panoptikale Bild einer zutiefst krisenhaften Gesellschaft: Deutschland ist ein böser Fastnachtstraum. Man tanzt auf dem Vulkan.

Eine letzte Steigerung bis zur Groteske erfährt das panoptikale Prinzip in der 18 Stücke umfassenden Feuilletonfolge des „Berliner Bilderbuches“, das vom März bis Juli 1924 im Satire-Magazin „Der Drache“ erscheint. Nun werden innerhalb eines jeden der wöchentlich erscheinenden Feuilletons die „Symptome der Zeit und des Ortes“ in Einzelbildern und mit hartem Schnitt aneinandergefügt. Bereits die erste Folge zeigt das Prinzip: Erste Szene: Auf einer Berliner Straße wird eine Inderin verprügelt, ohne daß die zuschauenden Passanten eingreifen. Zweite Szene: Die Entrüstung „der demokratischen Kulturjuden Berlins“ über dieses sie ja auch selbst betreffende Ereignis ist gering, weil die Redaktionen der jüdischen Blätter Furcht vor einem „auch nur zuschriftlichen Pogrom“ haben. Dritte Szene: Das Sechstagerennen im Velodrom am Kaiserdamm. Das Publikum bejubelt ein Rennen, das sich „ziellos in einem unbarmherzig geschlossenen Kreis ohne Anfang und Ende“ bewegt. Vierte Szene: Ein anderes Velodrom, der Reichstag. Roth beobachtet im Kasino die Volksvertreter, wie sie gleichgültig gegenüber dem sich gerade ereignenden parlamentarischen Tod ungerührt Knackwürste essen und sich Witze erzählen. Und am Schluß dieses grotesken Bilderbogens dann mit der analytischen Hellsicht der Angst das Menetekel: „Eine große Furcht überfiel mich, die Furcht vor dem noch gar nicht gewählten, aber unausbleiblichen Reichstag, und ich hatte die Vision einer Verschmelzung von Sitzungssaal und Reichstagsbuffet. Ich sah die Bierfässer in den Saal rollen, die völkischen Schinken, die agrarischen Schweinskeulen, die junkerlichen Ochsenköpfe. Noch grausiger aber war die Vision, die mich draußen, vor dem Hause, befiel: Da sah ich, rings um die Siegessäule, zu faschiertem Fleisch gewandelt, das deutsche Volk, dessen Vertreter drinnen ,berieten‘.“ (II,S.94)

Die Entfremdung von der Stadt ist, das sei wiederholt, gleichzeitig Entfremdung von Deutschland. In diesem Entfremdungsvorgang beginnt nun Roth sein Judentum stark zu betonen und andere assimilierte und akkulturierte jüdische Schichten aufzufordern, dies auch zu tun. Als die gerade gegründete Republikanische Partei, der viele jüdische Intellektuelle angehörten, im April 1924 zusammen mit nationalistischen Verbänden zum Denkmal Bismarcks wallfahrte, bricht es aus ihm heraus: „Was soll diese krampfhafte Bemühung jüdischer Intellektueller um die nationale Demonstration ... Man bekenne doch endlich, daß man Jude, intellektuell, also gescheit, also republikanisch ist ... Man sehe ein, daß man mit der den andern abgelauschten, aber anders kostümierten Geste keinen einzigen Goj der völkischen Partei abspenstig machen kann.“ (II, S. 100). Der „Frankfurter Zeitung“ wirft er vor, daß sie als jüdische - weil von Juden besessene - Zeitung sich zu diesem Status nicht bekenne und den Gojs zu viel Raum gebe. Diese durch den sich massierenden Antisemitismus herausgeforderte Gegenreaktion ist eindeutiges Indiz dafür, daß Roth sein persönliches Assimilationsprojekt, die Integration als jüdischer Journalist in ein demokratisch und republikanisch verfaßtes Deutschland, als gescheitert ansieht. Den letzten Anstoß, Berlin zu verlassen und nach Paris zu gehen, geben, wie bekannt, der Tod Friedrich Eberts und die Wahl Paul von Hindenburgs zum deutschen Reichspräsidenten. Mit dem Weggang nach Paris wird, obwohl Roth bis 1933 oft und oft auch über mehrere Wochen in der Stadt ist, Berlin nun endgültig zur fremden Stadt und Deutschland zum fremden Land. Man lese dazu die Briefe der zweiten Jahreshälfte 1925, adressiert an Bernard von Brentano und an Benno Reifenberg - und darin die begeisterten Hymnen auf Paris und Frankreich und die geradezu physische Angst vor Deutschland: „Ich begebe mich in Lebensgefahr, wenn ich nach Deutschland fahre.“ und: „erst in Köln fängt der Mensch an“. Man lese dazu auch die „Briefe aus Deutschland“, die von der vorsichtigen Annäherung des Fremden, aus dem heimischen Frankreich kommend, über die Grenzprovinzen nach Deutschland hinein wie von einer Höllenfahrt berichten. Und auch Berlin liegt geographisch und biographisch hinter ihm. Kehrt er in den folgenden Jahren notgedrungen in die Stadt zurück, ist sie nur wie der Wartesaal eines großen Bahnhofs. (II, S. 308)

Mein Fazit ist: Joseph Roths Emigration beginnt, begleitet von einer tiefen Identifikationskrise, bereits 1925. Mit ihr endet aber auch die Lebens- und Schaffensphase, in dem das Feuilletonschreiben das literarische Credo war. Die Erklärung, daß Roth sich nunmehr den komplexeren Prosaformen zuwenden und aus der Tagesschreiberei heraus möchte, ist nicht falsch, aber greift zu kurz, weil sie verkennt, daß das Berliner Feuilleton Rothscher Art den Boden unter den Füßen verliert: Man kann kein Feuilleton über etwas schreiben, was einem nur fremd oder sogar feindlich ist, und: Das Feuilleton verlangt den relativ ortsfesten Beobachter, und verlangt es nicht auch das Vertrauen in Demokratie, weil es auf die publizistische Wirksamkeit der Zeitung baut? - Die Zeit des Feuilletons wird 1925 abgelöst durch die Zeit der europäischen Wanderungen, die sich nun in den Reisebildern und -reportagen, aber auch in seinen Romanen und in den „Juden auf Wanderschaft“ literarisch vergegenständlichen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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