Wiedergelesen von Stephan Reimertz


Heinz Berggruen: Abendstunden in Demokratie

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1998, 139 S., Vierfarbdrucke nach Mischtechniken von Paul Klee.
(erschien 1947 unter dem Titel „Angekreidet“ im Rowohlt Verlag)

 

Der Rowohlt. Berlin Verlag hat im Herbst ein Buch herausgebracht, das sich trotz seines Oktavformats aus den Büchermassen heraushebt. Die treffliche Gestaltung macht den hochformatigen Band auf jedem Büchertisch zum Schmuckstück. Pappdeckel und Lesebändchen sind in hellem Rostrot gehalten, abgestimmt auf „Die Zeit“, eine Mischtechnik von Paul Klee aus dem Jahre 1933, die den weißen Umschlag bestimmt; ein Gegenbild der hackenden Swastika auf der roten Fahne des Nationalsozialismus. Die Umschlaggestaltung von Walter Hellmann ist vorbildlich in ihrer Prägnanz.

Der Name des Autors ist es jedoch vor allem, der den Kunst- und den Literaturfreund aufhorchen läßt, ein Name, der seit einem halben Jahrhundert für höchste Qualität bürgt: Heinz Berggruen. Als deutscher Journalist, amerikanischer Besatzungsoffizier, Pariser Kunsthändler, schließlich als international anerkannter Sammler und Mäzen und nicht zuletzt auch als Schriftsteller hat er das Leben vieler Menschen bereichert. Wenigen ist es wie ihm vergönnt gewesen, Geist und Kunst in ein Jahrhundert zu bringen, das alle voraufgegangenen an Vulgarität überboten hat.

An Dankbarkeit hat es nicht gefehlt. Das schönste Kompliment für den im Januar 85 Jahre alt gewordenen, junggebliebenen Mäzen ist vielleicht der große Ansturm gerade junger Besucher auf sein Museum gegenüber dem Schloß Charlottenburg. Die Sammlung Berggruen hat die Besucherzahlen aller anderen Berliner Kunstmuseen in den Schatten gestellt. Das Museum selbst ist ein Kunstwerk. Jeden einzelnen Raum hat der Sammler selbst liebevoll eingerichtet.

Auch als Autor hat sich Berggruen seiner Vaterstadt Berlin wieder in Erinnerung gebracht. Seine Memoiren Hauptwege und Nebenwege, 1996 erschienen, gehören zu den schönsten Büchern seiner Art und, neben Nicolaus Sombarts Pariser Lehrjahren und den Erinnerungen des Grafen Christoph Schwerin zu den bemerkenswertesten Memoirenwerken der deutschen Literatur in den neunziger Jahren. Die drei Autoren haben allerdings eines gemeinsam: Sie verbrachten, ob freiwillig oder nicht, viele Lebensjahre im Ausland, namentlich in Paris; und dies hat ihren Büchern keineswegs geschadet.

Erich Kästner klopfte nach dem Krieg dem 32jährigen Berggruen auf die Schulter und sagte: „Nicht schlecht, mein Lieber, machen Sie so weiter!“

Tatsächlich hätte besser Berggruen dem guten Kästner auf die Schulter geklopft; denn ein Buch von solch kaustischem Witz und feiner Skurrilität, ein subtiles Werk wie Abendstunden in Demokratie, hat der Autor von Emil und die Detektive nie geschrieben.

Verwundert steht und spricht man: Was hat dieser Berggruen, was andere nicht haben?

Die zwanzig Glossen, die das schmucke Bändchen Abendstunden in Demokratie versammelt, hat Berggruen 1946 für die Zeitschrift „Heute“ verfaßt, die vom State Department zum Zwecke der „Entnazifizierung“ herausgegeben wurde. Ein Jahr später erschienen sie unter dem Titel Angekreidet bei Rowohlt.

Es handelt sich bei der erneuten Veröffentlichung also um eine zweifache Wiederkehr: Zum einen wird ein bedeutendes Zeugnis der Nachkriegsliteratur wieder zugänglich gemacht. Hier zeigt sich, daß die deutsche Literatur seit 1947 auch einen ganz anderen Weg hätte gehen können. Berggruens kultivierter, verschlagener Humor kommt aus einer anderen Welt als das Pathos der frühen Jahre, das einem aus den Werken Borcherts und Bölls entgegenkommt. Berggruen ist kein Kahlschlagliterat, sein Schlüsselwerk zum Verständnis des Nachkriegsdeutschlands hat eine Qualität, die man bei Böll, Grass und wie sie alle heißen vergeblich sucht: das Mozartische.

Zum anderen ist es natürlich kein Zufall, daß Abendstunden in Demokratie gerade jetzt wieder veröffentlicht wird. Denn es beschreibt eine Zeit des Umbruchs und findet immer dann neue Aktualität, wenn eine Ideologie durch eine andere ersetzt wird. Das Buch könnte, statt 1946 in München, auch 1946 in der SBZ spielen oder 1990 in der DDR. Das Motto des ewigen Opportunisten lautet:

„Ich war immer schon dagegen.“

Eine weitere Schlußfolgerung, die man aus der Lektüre zieht, ist, daß die Deutschen mit der Freiheit, die ihnen geschenkt wurde, im Grunde gar nichts anfangen können. Im Anhang listet der Autor ein paar Redewendungen von 1947 auf. Die Hälfte davon hört man heute noch auf deutschen Straßen.

„Haben wir nicht, und kriegen wir auch nicht wieder rein.“ (Statt, wie in zivilisierten Ländern: „Das können wir Ihnen bestellen.“)

„Das sind bloß Schaustücke im Fenster.“ (statt, wie in zivilisierten Ländern: „Das können wir Ihnen bestellen“, oder: „Dürfen wir Ihnen das bestellen?“)

„Da müssen Sie sich woanders erkundigen.“

„Sonn- und feiertags, nachmittags sowie Dienstag, Mittwoch und Sonnabend vormittag kein Parteienverkehr.“ Und so weiter.

Auch das heutige Deutschland ist eher Obrigkeitsstaat als Dienstleistungsgesellschaft. Schulpflichtige Kinder werden von oben herab geduzt, und in den Geschäften übernehmen die Verkäufer die Rolle der Unteroffiziere.

Der Leser erschrickt, daß sich an den Verhältnissen wenig und an den Menschen überhaupt nichts geändert hat. So wird das schmucke Bändchen zum erschütternden Dokument. Alles, was man dunkel ahnte, hier steht es schwarz auf weiß. Mit feinem Lächeln führt der Diagnostiker das Skalpell, und der Eiter alter Zeiten tritt heraus. Und man begreift: Die Zeiten sind vorbei, aber die Krankheit ist noch nicht ausgestanden.

Berggruen verfügt über ein spezifisches humanes Idiom, einen feinen Skeptizismus, den er auch dem Wiedererstarken der Ideologen von gestern und den lauter werdenden Rufen nach dem Staat entgegenzusetzen hat. Seine Betrachtungen von 1946 sind wirkungsvoller als mancher Schimpf über die mangelnde Zivilität von heute.

Ein gutes Buch, ein schönes Buch; zum Preis von einem Blumenstrauß ein Geschenk von bleibendem Wert und - leider - bleibender Aktualität. Denn eines, das lernt man aus diesem Werk, scheint eine Art bleibendes Erbteil der Deutschen zu sein: ihre frappierende Unverschämtheit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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