Eine Rezension von Christa Niemann<


Purpurne Flüsse - Chiffre für ein grauenhaftes Geheimnis

Jean-Christophe Grangé: Die purpurnen Flüsse

Thriller.

Aus dem Französischen von Barbara Schaden.

Ehrenwirth Verlag, München 1998, 394 S.

Jean-Christophe Grangé, französischer Journalist, Jahrgang 1961, schreibt als freier Mitarbeiter Reportagen für verschiedene internationale Zeitungen und Zeitschriften. Mit seinem ersten Roman Der Flug der Störche avancierte er in Frankreich gleich zum Topautor im Genre Thriller. Daß dies keine Eintagsfliege war, stellt er mit Die purpurnen Flüsse, 1997 in Frankreich und 1998 auch in Deutschland erschienen, nachdrücklich unter Beweis.

Ausgangsmotiv des mörderischen Geschehens ist der unglaubliche Versuch einer Gruppe von Menschen, ein staatlich gelenktes System zur Aufwertung von Erbgut zu errichten. Durch gesteuerte Fortpflanzung soll das Idealbild des „athlon“, des Mannes der Antike, der Verstand und Körperkraft, Geist und Natur vereint, in seiner Vollendung wiederbelebt werden. Dieses Thema wird anfänglich hinter den Ereignissen um die bizarren Morde versteckt und erst am Ende der Aufklärung der Fälle offenbar. Die Geschichte lebt im wesentlichen von den kraftvoll gezeichneten Porträts der ermittelnden Kriminalisten, die Hauptfiguren zweier anfangs getrennt verlaufender, gleichermaßen spannender Handlungsstränge sind.

Pierre Niémans, schon als Kind ein verschlossener Einzelgänger, war in seiner Jugend von dem Wunsch besessen, in der Armee eine Soldaten- und Offizierslaufbahn einzuschlagen. Als der Stabsarzt, ein Psychiater, ihm eröffnet, daß er dafür wegen seiner offenkundigen Ängste nicht taugt, ist er enttäuscht, gibt jedoch nicht auf. Wenn er nicht Soldat werden konnte, würde er einen anderen Kampf - den Kampf der Straße - aufnehmen und Polizist werden. Dieses Ziel verfolgte er verbissen und schaffte es, einer der Besten zu werden. Er wird ein „städtischer Krieger“, der seine inneren Ängste in der Gewalt ertränkt, ein herausragender Polizist, zäh und dabei selbst gewalttätig, für den die Existenz als Kriminalist sein einziger Daseinsgrund ist. Zur Aufklärung eines ebenso schrecklichen wie mysteriösen Verbrechens wird er nach Guernon, eine Kleinstadt in der Nähe von Grenoble, abkommandiert. Der hiesige Universitätsbibliothekar wurde ermordet und grauenhaft verstümmelt in einer Felsspalte aufgefunden. Wegen der Art der Verletzungen geht man zunächst von einem Ritualmord bzw. der Tat eines Wahnsinnigen aus, bis kurze Zeit später ganz in der Nähe eine zweite Leiche - auf die gleiche Weise zugerichtet - im Gletscher entdeckt wird. Beide Taten hängen zusammen, und Niémans ahnt, daß es hier um Rache geht und die Toten keinesfalls nur unschuldige Opfer sind. Da zu befürchten ist, daß weitere Morde folgen, ist Eile geboten. Er setzt Heerscharen von Ermittlern ein und veranlaßt eine aufwendige Spurensuche.

In Sarzac, einem „Provinznest“ 250 km westlich von Guernon, fristet Leutnant Karim Abdouf, Franzose nordafrikanischer Abstammung, ein tristes Polizistendasein. Ohne Eltern, in verschiedenen Heimen zwischen Wohnsilos von Nanterre aufgewachsen, hat er sich frühzeitig der Straße verschrieben. Einerseits fühlte er sich wohl in diesem Milieu, genoß die Freundschaften und Freiheiten und nutzte vorhandene kriminelle Neigungen, um durch Diebstähle seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, andererseits blickte er distanziert auf die Verbrechen und das Elend, das ihn umgab. Mit beachtlicher Intelligenz ausgestattet, erkannte er, daß nur eine gute Ausbildung einen Ausweg bieten kann. Während er weiter eifrig stahl, verdoppelte er seine schulischen Anstrengungen, machte ein ausgezeichnetes Abitur und studierte Jura. Trotz hervorragend absolviertem Studium hatte er als Araber keine Perspektive für eine juristische Karriere. Um nicht arbeitslos zu bleiben, beschloß er, Polizist zu werden. Das ermöglichte ihm, sich weiter in der Schattenwelt der Straße zu bewegen, jetzt jedoch auf seiten der Gesetze. Hochqualifiziert - mit außergewöhnlich gutem Abschluß an der Schule für den höheren Polizeidienst -, wollte er in einer Truppe arbeiten, die auf Beschattungen, Verbrechen auf frischer Tat und Sturmangriffe spezialisiert war. Auch dort hatte er keine Chance. Die Mitarbeit in einer Division für „Spitzeldienste“ in den Unruheherden der Vorstädte lehnte er ab. Eine Weigerung, die ihn teuer zu stehen kam. Er wurde nach Sarzac versetzt und muß sich mit Alltagsroutinefällen wie Verkehrsdelikten, Ladendiebstählen und der Kontrolle von Autobahnvignetten herumschlagen. Eines Nachts wird in einer Grundschule des Ortes eingebrochen. Karim kann bei der Untersuchung des Tatortes kein Motiv für die Tat finden. Es wurde nichts beschädigt oder gestohlen, nur einige alte Aktenschränke mit Archivunterlagen wurden fachkundig geöffnet. Als in der gleichen Nacht ein weiterer Einbruch - in diesem Fall in eine Gruft des städtischen Friedhofs - gemeldet wird, bei dem das Schloß genauso präzise geöffnet war wie in der Schule, ahnt er einen Zusammenhang. Aus der Gruft wurde das Bild eines zehnjährigen jüdischen Jungen entfernt, der vor vierzehn Jahren hier beigesetzt wurde und dessen Sarg ebenfalls Spuren einer Öffnung aufweist. Als sich herausstellt, daß sowohl in der Grundschule als auch in der Gemeinde alle Unterlagen, die auf die Identität des Jungen hinweisen könnten, verschwunden sind, ist Karim klar, daß die Spur des Kindes ausgelöscht werden soll. Er spürt, daß er „seinen“ Fall gefunden hat, der ihn nicht mehr losläßt und in dessen Aufklärung er sich stürzt. Bei den komplizierten Recherchen stellt er fest, daß einer der Grabschänder der zweite Tote im Fall des Kommissars Niémans ist, der die Morde in Guernon aufklärt. Am Tag nach dem Einbruch in die Gruft wurde er tot im Gletscher gefunden. Jetzt arbeiten die Kriminalisten gemeinsam - getragen von unterschiedlichen Motiven - besessen an der Aufklärung. Es stellt sich heraus, daß beide Fälle ihren Ausgangspunkt in einem äußerst gemeinen Verbrechen haben, bei dem die Opfer zugleich Täter und die Täter Opfer sind.

Dieser Thriller bezieht seine Spannung im wesentlichen aus der differenzierten psychologischen Auslotung der Helden der Story, der Polizisten Niémans und Karim, aus der Schilderung ihrer Lebensumstände und -anschauungen, ihrer Ängste und Beweggründe. Sie ermitteln - jeder auf seine Weise - akribisch und unbeirrt, kombinieren Indizien und Spuren, bis alle Hinweise zusammenpassen. Die Jagd nach den Tätern in der sprachlich perfekt und handwerklich hervorragend konstruierten Geschichte mit wechselnden Schauplätzen, in der verschiedene Handlungsstränge geschickt zusammengeführt werden, ist voller Dynamik und spannend bis ins Detail. Ein echter Lesegenuß - nicht nur für Fans dieses Genres! Ich meine, zu Recht schreibt eine französische Tageszeitung: Der beste Thriller seit „Das Schweigen der Lämmer“. (Le Figaro)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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