Eine Rezension von Sibille Tröml
Heimat-Sprache oder Vom Walserschen Wunsch nach Erzählüberfluß
Martin Walser: Ein springender Brunnen
Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 416 S.
Martin Walser ist ein Meister der - ob ihrer Üppigkeit nicht von allen geschätzten - Details, weswegen auch bei der Lektüre seines neuesten Werkes das Buch in der einen und eine gewisse Portion Zeit und Muße in der anderen Hand liegen sollten. Doch keine Sorge: Auch wenn Ihnen im Moment (wieder einmal) weder das eine noch das andere der beiden letztgenannten vergönnt ist, dürfen Sie sich auf ein von Genuß getragenes Leseerlebnis freuen.
Es stürzen hier nämlich weder wilde Walsersche Erzählwellen auf Sie darnieder (wie etwa in Halbzeit, 1960), noch wird Sprache als Material experimentell (und damit anstrengend) verarbeitet (wie etwa in Fiction, 1970). Im Gegenteil: Ein springender Brunnen ist ein Roman, der sich leicht und locker liest. Grund dafür ist das mal unbändig-heftige, mal langsam-ruhige Fließen der Wörter und Bilder, in denen die Geschichten einer Kindheit, frühen Jugend und Dichterwerdung in der deutschen Provinz zwischen 1932 und 1945 erzählt werden. Und gerade dieses Er-Zählen (in seiner ursprünglichen Bedeutung), dieses von wertenden und (be)deutenden Kommentaren und Reflexionen freie Sich-Anvertrauen gegenüber der Sprache und gegenüber dem, was sich heute, in der Gegenwart, als d i e Vergangenheit aufdrängt, das macht den Reiz dieses Romans aus. Es ist ein Reiz, den der deutsche Leser von Gegenwartsliteratur selten in Werken einheimischer Autoren sucht und findet und der Martin Walser bereits hier und da dezenten oder heftigen Widerspruch eingebracht hat. Von einer nicht vorhandenen kritischen Vergangenheitsbewältigung ist da zum Beispiel die Rede und davon, daß die Geschichte des Johann eine Kindheits- und Jugendgeschichte im Dritten Reich ohne das Wort Auschwitz sei. Wer so argumentiert, tritt indes nicht einfach nur mit eigenen Erwartungen an ein literarisches und damit künstlerisches Werk heran, er erhebt auch jene eigenen Vorstellungen und Wünsche zum Maßstab und formt daraus seine (vermeintliche) Beurteilung. Im Falle von Ein springender Brunnen aber bedeutet dies neben dem in der Literaturkritik (zumeist) üblichen Niedersausen der Meßlatte und dem Ignorieren dessen, was man gemeinhin Autoren-Intention nennt, auch das Vergessen - oder besser: Mißachten? - einer gleich zu Beginn des Romans ausdrücklich und unmißverständlich dargelegten Schreibposition, die da (sogar zweimal) lautet: Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.
Nicht das Einbringen heutigen (also: späteren) Wissens in das Einstmalige und damit eigentlich das Verändern, das Verfälschen dieses Vergangenen, liegt dem Autor am Herzen, sondern das Erzählen, wie es war, wie es jenseits heutiger Erkenntniszuwächse gewesen sein könnte. Der Leser wird deshalb nicht einfach nur zurückversetzt in eine andere, frühere Zeit, sondern auch in eine frühere, überwundene und schwer rückholbare Stufe individuellen Wissens, Denkens, Umherblickens und Wahrnehmens. Wasserburg am Bodensee, der Heimatort Johanns (und Martin Walsers) ist das Dorf und die Welt in einem. Und es ist eine Welt, in der es nicht nur alles gibt, sondern von allem auch noch das Gegenteil. Da ist z. B. Helmer Gierers Hermine, die in den Villen der Zugezogenen putzt und von der man einfach alles erfahren konnte, während die Lippen der Zeitungsfrau Fürst - zumindest bis 1933 und nach 1945 - aussahen wie zugenäht. Oder da ist Adolf, der Freund, der dank seines Vaters und dessen Fotoapparat schon 1932 ein ganzes Album mit Familienfotos zeigen kann, während in Johanns Familie bis zum Erscheinen eines Wanderfotografen lediglich fünf Bilder anzuschauen sind. Da ist auch Josef, der zwei Jahre ältere, stundenlang Klavier spielende Bruder, gegen den Johann in Ringkämpfen mit Beständigkeit, aber ohne Zorn verliert (und der 1944 in Ungarn fällt), und Irmgard, das Mädchen, das kleiner ist als Johann und dem der 5-6jährige gar nicht nahe genug kommen kann. Und da sind neben vielen, vielen anderen die so gegensätzlichen Eltern: die Mutter, eine Autorität, verantwortlich für das Zusammenschimpfen und unermüdlich gegen eine Zwangsversteigerung der Restauration arbeitend, und der kranke Vater, der Musik und Literatur liebt, den kleinen Johann einmal pro Tag mit dem Eskimogruß beglückt und ihm durch das Buchstabierenlassen von nahezu unlesbaren fremdklingenden Wörtern wie Bhara-tanatyam, Popocatepetl, Rabindranath Tagore einen Wörterbaum schenkt, der dem Jungen auch nach dem Tod des Vaters eine Welt in der Welt schafft und seine Phantasie beflügelt.
Inflation, der Eintritt der Mutter in die Partei, Versailles, der Krieg, in dem der Vater und andere im Dorf gekämpft haben, der Machtantritt Hitlers und der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich - das alles (und vieles mehr) gibt es (natürlich) in dieser kleinen großen Wasserburger Welt, doch ist all dies, was wir Zeitgeschichte nennen, dem Kind und dem Pubertierenden in erster Linie eine Sache der (nicht immer zu verstehenden) Erwachsenen, ist vor allem Hintergrund angesichts der ganz persönlichen, ganz eigenen alltäglichen großen und kleinen Freuden, Sorgen und Nöte des Erwachsenwerdens. Für Johann nämlich ist es viel wichtiger, daß er bei Schulantritt endlich längere Haare haben darf, daß das kunstgestopfte Loch im mitwachsenden Weihnachtspullover von 1932 möglichst unbemerkt bleibt, daß er bei der von ihm ausgesuchten Waffengattung eine fesche Mütze tragen darf und daß er für das (aufkeimende) Gefühl gegenüber dem anderen Geschlecht und die (erwachende) eigene Sexualität weder Wörter noch Sprachmut zu finden vermag.
Und auch dies ist eines der den gesamten Roman durchziehenden Themen: Sprache und Sprechen. Hochdeutsch und Mundart, der Dialekt der Wasserburger und der der Zugereisten, die Wörter von Helmer Gierers Hermine, Vaters Wörter, Herr Seehahns Wörter, die Sprache der Kirche und die der - von Winnetou bis Faulkner reichenden - Literatur, die Sprache des Fahneneids und die des Krieges, die Wörter vergangener Zeiten und verlorener Erscheinungen und die (Nicht-)Wörter für Erotisches, Sexualität und Liebe. Ein springender Brunnen ist auch ein Roman über Sprache, über ihre Findung und ihren Verlust, über ihre Vielfalt und ihre Schablonisierung, über das So-Reden und Anders-Denken, über das Geschwollen-Daherreden-Wollen und das Nicht-(immer-)Können - kurzum: über ureigene Walsersche Themen also.
Getragen von einer Erzähllust, die in vielen Figuren und Episoden ihre Kraft und Farbe entfaltet und die - was den Sprachstil betrifft - in Teil I und II des in drei Teile (Phasen) gegliederten Romans gelegentlich (und nicht unvorteilhaft) an Jugendbücher erinnert, ist das Ganze aber auch ein Roman vom (Nicht-)Wahrnehmen, Vergessen, Erinnern und vom Verwachsen-Sein in einer Region, die Heimat ist und für deren Existenz und Gewährung der Autor plädiert. Ob es neben oder gerade aufgrund von alledem vielleicht auch ein (weiterer) kleiner Gruß an den verstorbenen einstigen Freund und Kollegen Uwe Johnson ist, darf spekuliert werden. Aber Vorsicht: Falls Sie es tun wollen, tun Sie es am besten nach und nicht während der Lektüre, denn dies ist auch ein Roman wider das, was am Ende das Zielen genannt wird. Gemeint ist damit jenes die Unbekümmertheit verstellende Bedeutungssuchen und Bedeutungsgeben, dem hier das genußvolle Aufschreiben von reichlich vorhandenen Erzählwelten entgegengestellt wird.
Legen Sie deshalb erst einmal ihren psychologisch, germanistisch oder mit irgendeinem anderen -isch gespitzten Bleistift beiseite und ergeben sich einfach dem, was hier in Anlehnung an Walsers schönen Begriff vom Traumüberfluß der Erzählüberfluß dieses Buches genannt werden soll - Sie werden staunen, wieviel Freude man an Details haben kann.