Eine Rezension von Ursula Reinhold
Interessantes Material zur Gruppe 47
Hans Werner Richter: Briefe. Briefe von und an Hans Werner
Richter. 1947-1978.
Herausgegeben von Sabine Cofalla im Auftrag der Stiftung
Preußische Seehandlung und der Textkritischen Arbeitsstelle der Freien
Universität Berlin.
C. Hanser, München 1997, 819 S.
Sabine Cofalla: Der soziale Sinn Hans Werner Richters
Zur Korrspondenz des Leiters der Gruppe 47.
Weidler Buchverlag, Berlin 1998, 2. erw. Aufl.
(T. I und T. II der Dissertation: Eine kommentierte
Auswahledition der Korrepondenz Hans Werner Richters, FU Berlin,
Fachbereich Germanistik 1997)
Die von Sabine Cofalla besorgte Briefauswahl des Mitbegründers und Leiters der Gruppe 47 und ihr Kommentar dazu hoben - wie andere Veröffentlichungen im 40. Jahr ihrer Entstehung - das Phänomen der Gruppe 47 noch einmal ins Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit. Der vorzüglich gearbeitete Band mit 400 ausgewählten Briefen von und an den Gründer und Mentor der Gruppe wendet sich an den wissenschaftlich interessierten Leser, dürfte darüber hinaus aber auch auf das Interesse dessen rechnen, der den soziologischen, ideologischen, politischen und literarischen Aspekten der Zeitgeschichte näherkommen will. Es wird der literaturhistorischen Forschung neues Quellenmaterial bereitgestellt, Erkenntnisgewinn ist möglich. Zeitgleich erschienen im Aufbau-Verlag die Materialien des 1. Deutschen Schriftstellerkongresses vom Oktober 1947 in Berlin, die nach 50Jahren erstmalig vollständig gedruckt vorliegen. Beide Ereignisse markieren den Beginn der deutschen Nachkriegsliteratur, stehen für die getrennt in einen ostdeutschen und westdeutschen Strang verlaufende Literaturentwicklung der folgenden Jahrzehnte. Die Intentionen des Berliner Schriftstellerkongresses entstammten der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Veranstalter wollten auf einen Brückenschlag zwischen exilierten und nichtexilierten Autoren hinwirken, die humanistische Verantwortung der Schriftsteller angesichts der eben überlebten geschichtlichen Katastrophe und gegenüber den aktuellen Vorgängen betonen. In Berlin waren Autoren und Organisatoren aus Zentren des literarischen Lebens versammelt, die sich seit dem Krieg in München, Köln, Hamburg, Frankfurt, Schwerin, Dresden, Leipzig und anderswo in Deutschland gebildet hatten, um von der ehemaligen Kulturhauptstadt aus ein Zeichen gegen die ablaufenden Spaltungen für die Einheit zu setzen. Allerdings waren die Diskussionen auch schon von Konfrontation und Kaltem Krieg gekennzeichnet, so daß die Veranstaltung das Ende der Bemühungen um Verständigung in einer kurzen, noch offenen Nachkriegsphase markierte. Die nächsten Jahrzehnte waren von Spaltung und Konfrontation bestimmt, wodurch Berlin die kulturelle Funktion, die es in der Vergangenheit gespielt hatte, nicht wiedergewann.
Gegenüber der auf Repräsentanz gerichteten Berliner Veranstaltung verstand sich die Gruppe 47 zum Zeitpunkt ihres Entstehens als eine Selbsthilfeeinrichtung für mehr oder weniger junge, auf alle Fälle unbekannte Autoren, die sich über ihre Arbeit verständigen, Öffentlichkeit organisieren und in sie hineinwirken wollten. Keine Organisation oder Partei stand hinter den Initiatoren, die ihre Gruppe als eine Modellform demokratischer Meinungsbildung verstanden. Die Intentionen des ersten Treffens im September 1947 am Bannwaldsee war auf die Gründung einer literarischen Zeitschrift mit dem bizarren Namen Der Skorpion gerichtet, für die Richter allerdings keine Lizenz erhielt. Die literarischen Intentionen der Gruppe um Hans Werner Richter, Alfred Andersch, Walter Kolbenhoff u.a. war schon der Tatsache geschuldet war, daß man mit dem auf politische Wirkung gerichteten Konzept im Münchener Ruf keine dauerhafte Plattform gefunden hatte. Die Gründergeneration fühlte sich durch gemeinsame Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft verbunden, durch die politischen Erfahrungen vor dem Ende der Weimarer Republik, die mit dem Desaster der Linken geendet hatte. Man wollte eine demokratische Gesellschaft mitgestalten, glaubte an eine Synthese von sozialisierter und geplanter Ökonomie und individueller Freiheit. Die Gründung der Gruppe 47 war schon das Ergebnis eingeschränkter politischer Wirkungsmöglichkeiten, worüber wir aus dem Briefwechsel manches Neue erfahren. Für die Gründer der Gruppe 47 war die Überzeugung von der gesellschaftlichen Wirkung von Literatur maßgeblich. Man hoffte, langfristig die Mentalität der Deutschen verändern zu können, weg vom obrigkeitsstaatlichen und hin zum demokratischen Denken zu gelangen.
Charakteristisch für die Gruppentreffen über die gesamte Geschichte hindurch blieb ihr Werkstattcharakter, Lesung und Kritik von Texten standen im Zentrum. In den folgenden Jahren entwickelte sich die Gruppe 47 durch den Zugang von Lektoren, Redakteuren, Kritikern und Rundfunkleuten zu einem Organisationszentrum des literarischen Betriebs in Westdeutschland, nahm Züge einer literarischen Börse an. Ihre Rolle als Organisations- und Ideenforum für die Nachkriegsliteratur konnte die Gruppe nur spielen, weil es im literarischen Leben des gespaltenen Landes kein literarisches Zentrum gab. Enzensbergers Kennzeichnung der Gruppe 47 als einer mobilen Hauptstadt der Literatur trifft diese Funktion der Gruppe, deren besondere Existenzform den deutschen Verhältnissen geschuldet war. Vierzig Jahre nach ihrer Gründung und zwanzig Jahren nach ihrem eigentlichen Hinscheiden ist die Gruppe 47 längst zu einem Vorgang der Literaturgeschichte geworden, gibt es Publikationen und Legenden über sie und ihr Ende.
Der Briefband liest sich wie ein spannendes Geschichtsbuch zur politischen und literarischen Entwicklung der Bundesrepublik in ihren ersten Jahrzehnten. Die Lektüre ermöglicht neue differenzierende Einschätzungen einzelner Abschnitte und Vorkommnisse der Gruppengeschichte sowie ihres gesellschaftlichen Umfeldes und der Intentionen ihres Gründers. Die Herausgeberin hat die Auswahl aus weitläufigem Briefmaterial auf sechs Schwerpunkte konzentriert: 1. Hans Werner Richter: Leiter der Gruppe, Publizist, politischer Akteur und Schriftsteller; 2. Organisationsform der Gruppe, einschließlich der sich um sie rankenden Mythenbildung; 3. der Einfluß der Gruppe 47 auf die Nachkriegsliteratur; 4.Die Gruppe als Teil des Literaturbetriebs; 5. Kooperation der Gruppe mit den Medien; 6.Einflußnahme der Gruppe auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik. Sie begründet die Auswahl für den Leser einsehbar, entsprechend dem Aktionsradius ihres Protagonisten. In einem umfangreichen Anhang gibt es außer den notwendigen Gebrauchsanweisungen eine ausführliche Zeittafel zum Leben Hans Werner Richters, eine Übersicht über die Empfänger und Absender von Briefen, ein kommentiertes Personenregister und ein Verzeichnis der in den Kommentaren angeführten, weiterführenden Literatur. Zusammen mit den aufschlußreichen Kommentaren, die zu jedem Brief gestellt sind und so dem Leser das Nachblättern ersparen, bietet der Band ein reichhaltiges Quellenmaterial zur deutschen Nachkriegsliteratur und ihrem politischen und gesellschaftlichen Umfeld. Differenzierte Einsichten und Weiterführendes vermittelt die Autorin auch mit ihrer Darstellung Der soziale Sinn Hans Werner Richters, wo sie die Ergebnisse ihrer Arbeit auf fünf Schwerpunkte konzentriert (Positionierung der Gruppe im literarischen Feld der Nachkriegszeit, Persönlichkeit und Aktionsraum von H.W. Richter, Konstituierung, Funktions- und Wirkungsweise der Gruppe, Verbindung zum ökonomischen Feld [Buchmarkt und Medien], die politische Dimension der Gruppe) und zusammenfaßt. Methodisch schließt sie an Bourdieus Erweiterung des Kapitalbegriffs an, der ihn über den nur ökonomischen Bereich auf kulturelles, soziales, politisches und symbolisches Kapital erweitert hat und Kapital allgemein als Instrument der Aneignung von Chancen definiert. Sie gewinnt damit Analysegesichtspunkte und weiterführende Einsichten in einer Fülle von Fragen, über die in den vergangenen Jahren oftmals Legenden und Halbwahrheiten im Umlauf waren. Ich greife hier einige der Fragen heraus, über die mir Erkenntnisse zuwuchsen.
Zuallererst verdanken wir der Briefauswahl einen genaueren Eindruck von der Persönlichkeit des Schriftstellers, des vielseitigen Publizisten, umsichtigen Organisators und des so ideenbestimmten wie pragmatischen Politikers Hans Werner Richter, dessen wohlwollende Autorität und demokratische Grundhaltung schon von vielen gerühmt wurde. Die Briefzeugnisse bestätigen diese Aussagen auf eindrucksvolle Weise. Der Briefpartner Hans Werner Richter wird als Protagonist der literarischen und politischen Zeitgeschichte präsentiert, als ein Akteur, der es verstand, Freunde und Kollegen in ein Geflecht von gesellschaftlich relevanten Vorhaben zu ziehen und auftretende Widersprüche auszugleichen. Die Auswahl läßt den antifaschistisch-demokratischen Grundimpuls Richters deutlich werden, von dem aus sich alle Aktivitäten bündelten. Er verkörpert den Typ des Intellektuellen, der demokratische Mitwirkung beansprucht und diese seine Verantwortung als Bürger aus der historischen Erfahrung der durchlittenen NS- Herrschaft herleitet, deren intellektuelle und personale Kontinuitäten er im restaurativen Zeitgeist der frühen Bundesrepublik wahrnimmt. Dabei sind die Wirkungen, die Richter als Mentor der Gruppe 47 anregte, ebenso beachtlich wie die, die er als einzelner mit dem Grünwalder Kreis u.a. politischen Initiativen in die Wege leitete. Von diesem Grundantrieb her gestaltete er die Beziehungen von Literatur und Politik, wie sie für die Gesamtwirkung der Gruppe 47 charakteristisch wurden. Er befähigte ihn auch, eine demokratische Gruppenbildung zu praktizieren, durch Diskussion und Toleranz unterschiedliche literarische und politische Intentionen im Diskussionskontext zu integrieren. Die vorliegende Briefauswahl könnte eine genauere Untersuchung des Verhältnisses von politischer Aktivität und literarischem Werk bei Richter anregen und eine historisch fundierte Typisierung versuchen. Die Briefe ermöglichen es, die für jede Etappe der Gruppenentwicklung maßgeblichen Intentionen Hans Werner Richters zu charakterisieren und den Diskurs um die gesellschaftliche Funktion der Gruppe im jeweiligen Zusammenhang genauer als bisher zu rekonstruieren. Das betrifft Knotenpunkte ihrer Entwicklung, die einmal ihren Charakter als Werkstatt berühren, und zum anderen solche Phasen, in denen die restaurativen gesellschaftlichen Erscheinungen ein verstärktes politisches Wirken erforderlich machten. Zu erinnern ist an die Entwicklungen in den 60er Jahren, als die Diskussionen über die verschiedenen Haltungen und Möglichkeiten eines politischen Engagements gegenüber staatlichen Übergriffen, Notstandsgesetzgebung u.a. die Gruppe in die Zerreißprobe brachten. Aus dem Kontext der Briefpartner lassen sich die Varianten und Differenzen genauer ableiten, die im Verhältnis von Literatur und Politik in den Auffassungen von Böll, Hildesheimer, Andersch, Enzensberger und Lettau einerseits, Grass, Richter, Jens andererseits bestanden. Aus den brieflichen Verständigungen und Diskussionen mit seinen Schriftstellerkollegen lassen sich auch das Unbehagen und die Gefahrenmomente rekonstruieren, die für die Teilnehmer aus der Dominanz von Kritikern auf den Tagungen erwuchsen. Weil deren Beiträge gegenüber den anwesenden Verlagsvertretern als Regulativ wirkten. Damit veränderte sich der Charakter der Gruppe, nahm sie Züge einer Börse für den Literaturbetrieb an. Ein weiterer Diskussionspunkt bildete sich um die Frage der Öffnung der Gruppe zum Ausland hin. Richters Intention einer eigenen kulturellen Außenpolitik stand in Frage, wurde nicht von allen Mitstreitern befürwortet. Die mögliche Inanspruchnahme der Gruppe durch das offizielle Bonn schuf viel Diskussionsstoff und nicht jede Kritik erwies sich als der Gruppe förderlich. Aus dem sowohl durch gruppenferne als auch gruppennahe Kritik angeregten Diskurs, der seinen Niederschlag in den Briefen fand, in dem es fortwährend um Form und Funktion der Gruppe im literarischen und politischen Kontext ging, werden auch die komplexen Gründe einsehbar, die schließlich zu ihrem Ende führten. Es konnten die Spannungen, die zwischen den mittlerweile drei Generationen von Autoren in literarischer und politischer Hinsicht bestanden, nicht mehr überbrückt werden. Dazu kamen die äußeren Modalitäten der Tagungsorganisationen, die immer komplizierter wurden.
Wichtige Offenlegungen verdanken wir dem Briefband auch in der Frage der Wirkung der Gruppe auf den deutschsprachigen Literaturraum, einschließlich der DDR, und über ihre Beziehungen zum Prager Frühling. Frisch und Dürrenmatt blieben, trotz Einladung und Sympathie für die Gruppe, ihren Tagungen fern, wie auch Koeppen. Aber Ingeborg Bachmann, Milo Dor u.a. wurden durch sie bekannt. Seit den Anfangsjahren war Richter bemüht, Berliner Kontakte zu intensivieren. Die Berliner Hansdietrich Schnurre, Heinz Ullrich, Erich Wendt gehören zur Generation der Gründer. Seit den 50er Jahren suchte H.W. Richter auch zu den ostdeutschen Autoren Kontakt, was sich, wahrscheinlich durch die Bekanntschaft von Günter Eich zu Peter Huchel, zunächst nur auf den beschränkte. In den 60er Jahren verstärken sich die Bemühungen über Huchel und Bobrowski hinaus, auch jüngere Autoren einzuladen. Es wird sichtbar, wie die DDR-Offiziellen stets nach Ausflüchten suchten, um die Teilnahme der Eingeladenen zu hintertreiben. Aufschlußreiche Einblicke ermöglicht der Briefband auch über die Beziehungen der Gruppe 47 zur Literatur des Exils. Der Freundeskreis der Gründergeneration war nicht daran interessiert, wichtige Autoren des Exils zu den Treffen hinzuzuziehen. Das war für junge, noch unbekannte Autoren, die sich selbst erst einmal ein Forum schaffen wollten, durchaus naheliegend. Man wollte nicht ins Fahrwasser der Alten geraten, die den Kongreß in Berlin dominierten und an dem, aus dem Kreis um die Gruppe 47, nur Walter Kolbenhoff teilnahm.
Richter und Andersch vollzogen bei aller Wertschätzung eine programmatische Absage an die Exilliteratur, weil deren Prämissen für ein der aktuellen Situation nach dem Krieg gemäßes Literaturprogramm keine Geltung beanspruchen konnten. Diese Ablehnung entsprang der Überzeugung , daß nach dem ungeheuren Kulturschock des Faschismus nicht mehr so wie bisher geschrieben werden konnte. Die Generation, die aus dem Krieg zurückkehrte, sollte und wollte vor allem ihre eigenen Erfahrungen artikulieren. Damit wurde die Gruppe 47 das Organ der Literaturgeneration der Überlebenden des Krieges, die sich im Osten Deutschlands von der Dominanz der Reemigranten erst sehr viel später frei machen konnte. Für die Artikulation der Erfahrungen einer verlorenen Generation hatten die Anfänge der Gruppe 47 eine eminente Bedeutung. In ihrer Geschichte spielten die exilierten Schriftsteller keine geringe Rolle. Hermann Kesten, Hans Sahl und Walter Mehring lasen auf Tagungen, trugen in öffentlichen Auseinandersetzungen um die Gruppe mehr zur Verwirrung als zur Bestätigung ihres Anliegens bei. Emigrierte Autoren der nachfolgenden Generation, die in Deutschland (wie Wolfgang Hildesheimer) oder nicht in Deutschland lebten (wie Paul Celan), fanden über die Gruppe in die deutsche Öffentlichkeit. Die in ihren Gastländern beheimateten Autoren Erich Fried, Peter Weiss, Jakov Lind prägten in den 60er Jahren das Bild der Gruppe 47 mit, fanden hier ein Diskussionsforum ihrer literarischen Arbeit und den Weg in die Öffentlichkeit des deutschen Sprachraums.
Die Arbeiten von Sabine Cofalla können maßgeblich dazu beitragen, monokausale Erklärungsmuster über die Gruppe 47 endgültig zu verabschieden.