Eine Rezension von Albert Kurth


Todesfahrt ohne Halt

Sven Moeschlin: Das Doppelleben des Jacky Houston

Roman.

Rothenhäusler Verlag, Stäfa 1998, 160 S.

„Mary, I really love you!“ und „You are wonderful!“ und noch viel mehr solcher Liebesschwüre und Komplimente flüstert der Hollywood-Filmstar Jacky Houston, ein Supermann wie aus dem Bilderbuch, der hübschen Cutterin Mary ins Ohr. Dann kommt es, wie es kommen muß: der erste Kuß, die erste Nacht, Hochzeit, Schwangerschaft, Kind, die ersten ehelichen Unstimmigkeiten, Seitensprünge, Geständnis und Bitte um Verständnis. Doch nun verläßt der Roman das übliche Muster, ein dramatischer Knoten eigener Art wird geknüpft. Der größte Teil des Buches beschäftigt sich danach mit den Folgen dieses ungewöhnlichen Geständnisses, also mit dem zunächst offenen Bruch der Familienbeziehungen und dem bald dauerhaft harmonischen, jedoch vom Schicksal überschatteten Familienleben. Jacky offenbart nämlich seiner mit Bestürzung reagierenden jungen Frau, daß er bisexuell veranlagt ist und sich immer wieder erotisch zu Männern hingezogen fühlt. Es dauert auch nicht lange, bis sich der kräftige, kerngesunde Schauspieler während eines Drehtermins in den Tropen bei einem Schwulen mit AIDS infiziert. Nun beginnt für ihn an der Seite seiner mitfühlenden Frau, die nach vorübergehender Trennung wieder zu ihrem Mann zurückgefunden hat, eine Todesfahrt ohne Halt, nur unterbrochen von zwischendurch eingelegtem hoffnungsvollem Schleichtempo.

Schon lange hat sich der Autor mit den Themen AIDS, Homo- und Bisexualität beschäftigt. So folgt auch sein Roman vielfach tatsächlichen Begebenheiten, gibt eigene Erlebnisse und Beobachtungen wieder. Denn Sven Moeschlin ist von Beruf Arzt und arbeitete einige Jahre in den USA. Dort hat er u. a. einen Patienten behandelt, dessen Krankheitssymptome man sich in den 60er Jahren nicht recht erklären konnte. Deshalb wurden für spätere Untersuchungen Blutproben eingefroren, bei denen dann ein AIDS-Test positive Resultate brachte. Aus berufenem Munde erfährt hier der Leser einiges über diese furchtbare Geißel der Menschheit, über das Ansteckungsrisiko, den Krankheitsverlauf, den Umgang mit den davon Betroffenen, die damit verbundenen psychologischen Probleme wie über die Schwulenszene in den USA, wo AIDS zuerst die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wie der Weltöffentlichkeit erregt hat.

Man spürt, daß es dem Medizinprofessor, der bis zu seinem Ruhestand als Chefarzt einer renommierten Schweizer Klinik wirkte, darauf ankam, auf unterhaltsame Weise aufklärend zu wirken. So kommt die Krankengeschichte als ein Liebesroman daher, in die, eingebunden in die Handlung, sowohl Informationen über AIDS als auch verschiedene Reiseimpressionen eingestreut sind. Zu jeder dieser Stationen, die der Schauspieler für Außenaufnahmen oder bei Urlaubsfahrten besucht, gibt der Autor nebenbei plastische und interessante Schilderungen über Land und Leute. Dabei breitet er nicht (nur) Buchwissen aus, läßt nicht (nur) seine Phantasie spielen. Moeschlin kennt genau die Schauplätze, von denen er schreibt. Denn Studien-, Forschungs- und Arbeitsaufenthalte, die Teilnahme an Kongressen sowie touristische Reisen haben ihn in die halbe Welt geführt.

Das Musische und die Liebe zur Sprache war dem Autor bereits bei seiner Geburt 1910 mit in die Wiege gelegt worden. Denn seine Mutter war die schwedische Kunstmalerin Elsa Hammer, sein Vater der Deutschschweizer Schriftsteller Felix Moeschlin, seine Heimat das Tessin. So ist schwedisch seine Muttersprache, deutsch seine Alltags- und hauptsächliche Schriftsprache, italienisch seine Umgangssprache mit den Nachbarn, hinzu kommen englisch und französisch sowie Grundkenntnisse anderer Sprachen. Das schlägt - wie hier eingangs angedeutet - bei seiner tragischen Geschichte des Jacky Houston durch. Die englischen und französischen Sätze, Wendungen oder einzelnen Wörter sind auch für den Sprachunkundigen leicht zu verstehen oder indirekt übersetzt. So bringt der Sprachenwechsel zusätzlich Farbe und Authentizität in die Romanhandlung.

Das Doppelleben des Jacky Houston ist keineswegs das erste Buch, das der hochbetagte Autor vorgelegt hat. Als er noch im Berufsleben stand, publizierte er vor allem wissenschaftliche Arbeiten, so die in fünf Sprachen übersetzte Giftfibel („Klinik und Therapie der Vergiftungen“), ein in Krankenhäusern und Rettungsstationen geschätztes Standardwerk. In den letzten Jahren ist er jedoch mit seinen Lebenserinnerungen („Rezept eines Arztlebens“ und „Unter meinem chinesischen Kampferbaum“) sowie mit dem ebenfalls aus seinem Leben schöpfenden Roman „Das Doppelleben des Jacky Houston“ hervorgetreten.

Der Roman, den der Schweizer Rothenhäusler Verlag Ende 1998 herausgab, war bereits um die Jahreswende 1997/98 im KIRO-Verlag Schwedt erschienen. Allerdings hatte der brandenburgische Verlag nur eine Auflage von schätzungsweise einem Dutzend (!) Exemplaren gedruckt, obwohl vertraglich mehrere tausend vereinbart waren. Da der Rechtsstreit um Einhaltung des Vertrages und um die Veruntreuung des für den Druck bestimmten Geldes nach mehreren Monaten kein befriedigendes Ergebnis gebracht hat, übernahm dankenswerterweise Rothenhäusler das Manuskript. Obwohl liebevoller betreut als bei KIRO, spielte die Druckerei dem Verlag einen Streich, indem sie auf der Titelseite den Namen des Romanhelden in „Housten“ änderte und bei vier Innenseiten die Schlußzeilen wegließ (auf eingelegtem Korrekturblatt ergänzt).

Nach dem vorliegenden jüngst veröffentlichten belletristischen Werk hat Sven Moeschlin bereits ein weiteres im Manuskript abgeschlossen, das er als sein bisher bestes einschätzt. Wir dürfen darauf gespannt sein.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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