Eine Rezension von Horst Möller
Die wahren Reichen
Hanno Loewy/Andrzej Bodek (Hrsg.): Les Vrais Riches - Notizen am Rand
Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lódz (Mai bis August 1944).
Reclam Verlag, Leipzig 1997, 165 S.
Um nichts in der Welt dürfen die Stelen des künftigen Holocaust-Denkmals in Berlin bloß beredt schweigen. Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lódz (Mai bis August 1944) gehört in deren Stein gemeißelt. Wenn es schon lange dreiundfünfzig Jahre dauern mußte, bis die von einem Namenlosen hinterlassenen Notizen am Rand erstmals der Öffentlichkeit zugänglich wurden, so sollten sie nun jedenfalls mit heiligen Lettern in der Weise unauslöschbar werden, wie das in uralten Zeiten Ägypter, Chinesen, Maya, Griechen auf ihren großen Monumenten vermocht haben. Um keine geringere Dimension geht es bei diesen sechsundneunzig Tagebucheintragungen hier, wo es unter dem 18. und 27. 6. 1944 heißt: Verflucht sollen die sein, die ihre Mitmenschen in solche Todesqual - wie ich sie jetzt erleide - stürzen können. Ich schreibe ohne zu wissen, ob ich es morgen noch lesen kann... Während ich diese Worte schreibe, weiß ich nicht einmal, ob ich sie jemals lesen werde; ja, ob überhaupt jemand sie lesen wird. Der da die Sprache als zu arm empfindet, um sich - vermutlich auch des Deutschen mächtig - wechselweise auf jiddisch, hebräisch, polnisch und englisch über die Germanohydren wieder und wieder zu entsetzen, beruft sich auf Sophokles, Dante, Shakespeare und - man will es fast nicht wahrhaben - Goethe, wenn er sich daran klammert, was menschliches Streben an Göttlichem vermag: Du, Mensch, kannst Taucher werden, Meere und Ozeane ergründen und erforschen. Du kannst Pilot werden, zu Stratosphären aufsteigen, Planeten erreichen. Doch das Durchleiden dessen, was Menschen untereinander an Bestialischem anzutun imstande sind, läßt nur Verzweiflung übrig: Wirklich, die Menschheit hat seit den Höhlen der wilden Tiere keine großen Fortschritte gemacht ... Wir sind keine Menschen mehr und sind noch nicht zu Tieren geworden - wir sind einfach irgendeine seltsame psycho-physische Ausgeburt ,Made in Germany. Es dürfte nur wenige Texte geben, die größeres Erschrecken und schlimmeren Jammer über soviel Elend auf Erden bereiten. Aber glaube nur ja keiner, daß dieses Tagebuch eine tote Zeit beschwört! Wie lange wird weiterhin im Herzen Europas allein eine solche Klage beklommen machen: Gibt es denn für mich und meine Leidensgefährten nicht genug Brot, trockenes, unappetitliches Brot auf dieser Welt?
Das geflügelte habent sua fata libelli erhält hier besondere Bedeutung insofern, als vor allem nach den Schicksalen derer zu fragen ist, die dieses Tagebuch in ihren Händen gehabt haben. Über den Verfasser weiß man nicht mehr, als was der Text verrät: Er war der größere Bruder einer zwölfjährigen Schwester. Geschrieben hat er auf die leeren Seiten und Seitenränder eines Exemplars des am 30. 7. 1892 bei Edouard Guillaume in Paris erschienenen (und kurz darauf auch ins Deutsche übersetzten) Romans Die wahren Reichen von François Coppée. Von 274 Seiten dieses mit Textillustrationen und hinten mit einem Werkverzeichnis der Sammlung Guillaume ausgestatteten Buches sind 58 Seiten mit Tagebuchnotizen versehen; sie werden in der vorliegenden Ausgabe reproduziert. Die erste faksimilierte Seite trägt mit Datum vom 5. 2. 1918 und unleserlichem Namenszug den handschriftlichen französischen Vermerk Meiner lieben Schwester / von deinem Einundalles. In erbarmungslosem Gegensatz zu dieser rührenden Widmung ist die erste Tagebuchnotiz vom 5.5. 1944 eine Selbstverdammung. Vor übergroßem Hunger hatte der Schreiber von der winzigen Brotration seiner Schwester gegessen. Im folgenden versucht er, die wahnsinnige Last, die ihm ihr Leid verursacht, sich von der Seele zu schreiben. Er notiert ihre Aussage: ,daß das Leben wirklich nicht lebenswert ist, daß man so oder so sterben muß ... Vater ist verhungert, warum also sollten wir leben und fügt hinzu: Ehrlich, wenn die Welt ein Gesicht hätte, wie müßte sie darüber erröten, daß eine solche Philosophie die einzige Möglichkeit ist, vor ihrem Grauen zu fliehen, selbst für kleine Kinder! Noch grotesker wird der Gegensatz, wenn man in den Geschichten von François Coppée liest, wie da im weihnachtlichen Paris ein etwas melancholischer Abbé Moulin, der sich sicher war, nicht Hungers zu sterben, nach einem Festtagsmahl mit Krebsen, Trüffeln und einem guten Jahrgangswein (wo doch die arme kleine dreizehnjährige, an Anämie dahinsiechende Céleste eines Schluckes gewiß viel bedürftiger gewesen wäre) vor seinem lodernden Kamin vor sich hin schlummert oder wie da ein entzückendes Fräulein Zoé als Liebesbeweis zu gern das Mobiliar ihres Boudoirs verkaufen würde, um nicht Hungers sterben zu müssen zusammen mit ihrem Angebeteten, der aber leider reich ist und, weil er das ist, gar nicht lieben könne. Unter hungern ist hier der Verzehr von Hummer, Austern und Petits fours gemeint, und das Äußerste, was man an Seelenpein zu erleiden hat, besteht darin, daß man sich bemüßigt fühlt, mit dem Drechseln lateinischer Verse die Zeit totzuschlagen. In schärfer kaum denkbarem Kontrast hierzu heißt es dann unterm 20.6.1944: Alle unsere Knochen zitterten und in allen Fasern unserer Seele empfanden wir einen Ekel gegen das gesamte Europäertum und die verdammte und anmaßende Zivilisation, die den Menschen zu einer moralischen Höhe gebracht hat. Wehe dieser Höhe! Wir kamen alle zur Einsicht, daß wir momentan nicht in der Lage sind, die volle Tiefe der Tragödie zu fühlen, weil alle unsere Sinne auf die Frage nach dem Essen konzentriert sind. Einzelheiten der Tragödie werden berichtet. Berichtet wird ebenfalls von den Hoffnungen, die die Landung in der Normandie, der Kampf um das nur 140 km entfernte Warschau, das Attentat vom 20. Juli, die Bombardierung deutscher Städte auslösten. Und schien die Aussicht auf Überleben auch durchaus real zu sein, so bestand über die um so größere Gefahr der Verfolgung-Vertreibung-Vernichtung dennoch keine Illusion: Ihr Wahnsinn entbehrt jeder Logik, jedes gesunden oder wenigstens halbwegs gesunden Menschenverstandes. Hat doch sogar auch der Wahnsinn Logik. Aber der ihre ist der germanische Wahnsinn, teutonischer, wotanischer, ,Führer-Wahn sinn, ohne Zweck und Ziel, ohne Gewissen, gespeist von dem mystischen Glauben an ,Führer und Vaterland. Und jetzt ist dieser Glaube ganz schön erschüttert worden. Aber deutsche Kreaturen sind zu stolz und geistig zu träge, um ihre Ohren das vernehmen zu lassen, was schon irgendwo in der finsteren Nacht ihres tierischen Geistes dämmert. Ja, wirklich! Das Rätsel, deutsche Mörder und Selbstmörder (in erster Linie Selbstmörder), wird noch lange die Köpfe der übrigen Menschheit beschäftigen. ,Das deutsche Volk kann man dieser nicht zurechnen. Wie unter einem Schlaglicht tritt dann auf einer der letzten faksimilierten Seiten, wo selbst über den gedruckten Text hinweggeschrieben ist, im Werkverzeichnis der Collection Guillaume die von der Hand des Schreibers ausgesparte Stelle mit dem Hinweis auf Goethes Werther hervor.
Um der Sünden der Menschheit willen den Tod auf sich zu nehmen wäre gewiß die weniger schwere Wahl gewesen. Dennoch heißt es: Ich träume weiter, träume davon, zu überleben und berühmt zu werden, um es der Welt ,kundzutun ... Kundzutun und ,anzuklagen ... Wir werden die Totenklage anstimmen für unsere ermordeten Verwandten und die durch Hunger Verstorbenen. Wir werden für die Hälfte des heiligen Volkes, das auf solche schreckliche Weise ermordet wurde, die Totenklage anstimmen. In furchtbarer Verzweiflung und Trauer berichtet die letzte Eintragung unter dem 3. 8. 1944 davon, daß man das Ghetto werde verlassen müssen. Von Lódz sind es 220 km bis Auschwitz-Birkenau. Einer, der dort überlebte, hat das Tagebuch der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übereignet, wie die beiden Herausgeber in ihrem Vorwort mitteilen. Daß der einst renommierte Reclam Verlag dieses Tagebuch hat übersetzen lassen, was ja die knifflige Entzifferung der Handschrift voraussetzte, ist - wie die nicht hoch genug zu würdigende Reihe der Judaica insgesamt - der besseren Tradition seiner Universalbibliothek zuzurechnen. Auf der Grundlage dieser Taschenbuchausgabe hat Jan Philipp Reemtsma die Textfassung für eine Rundfunksendung gestaltet, und zwar nicht zuletzt aus dem Grund, den der Verfasser des Tagebuches selbst benannt hat: Denn unsere ganze Ehre, jedes Wort aus unserem Mund wird sich richten auf die Qualen und Leiden der Juden in Europa unter der Regierung Hitlers, und die Nichtjuden sind an solchen Sachen nicht interessiert. Sie werden sich ihren Angelegenheiten zuwenden und sich nicht der Schande der Zivilisation erinnern, ihrer Schande.
Deshalb gehört dieses Tagebuch in Stein gehauen.