Eine Rezension von Bernd Heimberger


Roman um Roman

Stephan Krawczyk: Bald

Verlag Volk und Welt, Berlin 1998, 361 S.

Die Augen der Leser sind ein Kescher. Sie lauern auf den schönen Satz und fangen ihn ein. Mit einer Schöne-Sätze-Sammlung läßt’s sich leicht Eindruck schinden. Dann und wann kann zum passenden Anlaß Passendes zitiert werden. „Steff und der Mond waren voll, als sie auf den Marktplatz kommen“, ist gewiß keiner der ganz großen schönen Sätze. Ist dennoch ein schöner, weil sinnbildhafter Satz. Oder? Geschrieben wurde er von Stephan Krawczyk. Zu lesen ist er in seinem zweiten Prosabuch. Mit dem ersten - Das irdische Kind-, den Szenen einer Biographie, schrieb sich der Autor an den Roman heran. Bald soll und will nun tatsächlich nicht nur ein deklarierter Roman des singenden, komponierenden Schriftstellers sein. Ist Bald ein Roman? Möglicherweise sogar einer, in dem sich wirklich schöne Sätze fürs Zitieren fangen lassen? Zum Beispiel Sätze wie: „Sprache ist Bogen, wenn die keine Pfeile sind“?

Bald ist der erste Roman des Stephan Krawczyk. Bald ist ein Roman mit einigen schönen Sätzen, mit vielen sinnbildhaften Sätzen. Bald ist ein Roman, in dem Satz-Bildungen, Satz-Gefüge zu bedeutungsvollen Chiffren für die Handlungs-Lebens-Geschichte des Roman Bald werden. Auch sein Familienname ist nicht nur eine beliebige Leihgabe für den Buchtitel. Worte sind für Bald die Chance, sich von allem Genormten, Geformten, Geordneten zu befreien. Als Befreiter bedroht Bald mit seinen Worten alles Genormte, Geformte, Geordnete. Zu gut deutsch: Das nichtkonforme Subjekt Roman Bald bringt sich in Gefahr, weil sich das konforme Objekt Gesellschaft durch ihn gefährdet fühlt. Berechtigt und unberechtigt? Wieso ist einer kein glücklicher Gefangener der Gesellschaft, dem gerade ein Sohn geboren wurde?

Stephan Krawczyks Roman um Roman beginnt mit der Geburtsgeschichte von Bela Bald. Beginnt abermals die Geschichte eines „irdischen Kindes“? Zunächst sieht alles danach, nur danach aus. Schon nistet sich die Vermutung ein, hier bahnt sich ein Jurek-Becker-Schicksal an. Nach dem vielversprechenden Jakob der Lügner mußten sich die Leser mit Irreführung der Behörden begnügen. Etwas, was sich gut „weglas“. Die flüssige Familiengeschichte, die Krawczyks neues Buch den Lesern eintrichtert, hat etwas Süffiges. Etwas von der Art Weiße mit Schuß. Also doch eine Fortsetzung von Das irdische Kind - leicht gesüßt? Altes und Neues von der Alltäglichkeit des Allgemeinen und der Allgemeinheit des Alltäglichen? Ein weiteres Komprimat der „kunst“losen Realität? Die Dialoge des Romans Bald kopieren sämtliche Standardsätze, die die Kommunikation des Menschen mit dem Menschen ausmachen. Die Hohe Schule der Zauberberg-Dialoge hat keine der Personen besucht. Keine Frage, die Dialoge sind ein unterhaltendes Mittel des Charakterisierens und Typisierens. Sie beweisen, welch ein genauer Zuhörer der Autor ist und wieviel Heiterkeit in ihm. Bald ist nicht der Roman eines Ironikers oder Satirikers. Bald ist ein humoristischer Roman. Den Lesern wird keine simple Posse aus der Provinz präsentiert. Obwohl vieles penetrant nach Provinz stinkt. Voran die schlichte Familiengeschichte der vier Jung-Balds plus kompletter Schwiegereltern und Eltern. Voran das Kaff Fehrungen, das wo bloß angesiedelt ist? Es darf vermutet werden. Wie vermutet werden darf, in welchem Land das Örtchen zu orten ist. Wie vermutet werden darf, daß alles, was in Bald geschieht, in einem verschwundenen Land geschah. Oder? Der etwas blaß bleibende Roman Bald ist kein Jedermann. Eher ist das Land ein Jedermann-Land.

Stephan Krawczyks Roman kann als eine Persiflage des Überwachungsstaates gelesen werden, den George Orwell zum großen Thema größerer Literatur machte. Der Roman kann als Posse des Provinziellen gelesen werden, der Staat und Gesellschaft Vorschub leisten und deren Opfer sie sind, sobald sie versuchen, Menschen dem totalen Reglement auszusetzen. Daß einer solchen überregionalen Wirklichkeit kaum mit der reinen Realitätsbeschreibung beizukommen ist, hat der Verfasser von Das irdische Kind nicht nur geahnt. Wissend hat er daher in seinem Roman Bald rigorose Realität mit surrealer Phantastik zum gestalterischen literarischen Mittel gemacht. Stephan Krawczyk hat das scheinbar Unwahr-Wahre, das scheinbar Wahr-Unwahre in der Literatur harmonisiert. Um das Unharmonische aller Lebensläufe so zu erzählen, daß wir uns wieder mal über das Klägliche, Kümmerliche, Kleinliche - sagen wir auch das Absurde des Alltäglichen - „’n Kopp machen“ müssen. Und das mindestens mit anderthalb lachenden Augen. Stephan Krawczyk ist nämlich kein Romanautor, der den Lesern eine Klagemauer hinstellt und sich wie ein Klageweib gebärdet. Schrecklich nur der Gedanke, zu viele Rezensenten könnten es sich nicht verkneifen, von einem Stasi-Roman zu reden.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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