Eine Rezension von Horst Wagner
Die Erlebnisse der Glücksucherin Henrike
Gisela Karau: Go West. Go Ost.
edition reiher im Dietz Verlag, Berlin, 1998, 223 S.
Gute Beobachtungsgabe, Detailtreue und eine ungeschminkte Darstellungsweise zeichneten schon Gisela Karaus Kolumnen in der zu DDR-Zeiten bei den Ostberlinern recht beliebten BZ am Abend aus. Gut beobachtet, detailreich und ungeschminkt geschrieben ist auch ihr neuester Roman. Wie schon Die Liebe der Männer (1990), Buschzulage (1996) sowie Küsse auf Eis (1997) dürfte auch dieser auf ein breites Leserinteresse stoßen: wegen seiner Zeitbezogenheit und nicht zuletzt auch wegen der freizügigen Behandlung des Themas Sex. Manche Kritiker werfen der Autorin zu große Zugeständnisse an einen Kolportage bevorzugenden Zeitgeschmack, andere Nähe zur Pornographie vor. Letzteres dürfte diesmal auf die unverblümte Beschreibung der Praktiken in einem sogenannten Salon für erotische Massagen zielen. Ich kann mich beiden Vorwürfen nicht anschließen, halte es dagegen für einen Vorzug, daß sich Gisela Karaus Buch leicht liest, weder spröde noch prüde geschrieben ist.
Im Mittelpunkt steht die Geschichte einer jungen Frau, ihr Lebens- und Liebesanspruch, ihr Erlebnis unterschiedlicher Werte in Ost und West. Man könnte auch sagen: Das Buch ist eine Vier-Generationen-Geschichte. Da ist Käte Pietermann, die verständnisvolle, coole Oma in Wismar, die ehemalige Deutschlehrerin, die um humanistische Ideale und selbständiges Denken bei ihren Schülern bemüht war. Da ist Mutter Ulrike in Rostock, die Maskenbildnerin, die stolz ist, einen Beruf zu haben, der mehr ist als ein Job zum Geldverdienen, und nicht zu Hause sitzen und auf den Mann warten zu müssen wie die Seemannsfrauen früher. Ihr Mann, Henning Pietermann, DDR-Schiffsoffizier, der beste und schönste Vater, den sich Ulrike vorstellen kann, geht zugrunde am Schmerz über den verlorenen Beruf, den verlorenen Staat und die verlorene Tochter. Denn Henrike, die Glücksucherin, ist noch vor der Wende über Ungarn in den Westen gegangen, um den in einer Rostocker Bar kennengelernten wohlhabenden Hamburger heiraten zu können, den sie zu lieben glaubt, den sie aber bald ältlich und langweilig findet. Worauf sie sich scheiden läßt und nach etlichen Abenteuern einem ebenso charmanten wie brutalen Zuhälter verfällt. Vor dem endgültigen moralischen Verfall schafft sie es, sich von ihm zu lösen, und betreibt die Rückwende gen Osten zu einem, für meinen Geschmack ein bißchen kitschig beschriebenen Happy-End: mit Jochen Heinrich, Oma Kätes Schüler, der DDR-Diplomat war und nun Sicherheitsposten an einer Eisenbahnstrecke ist. Da ist, nicht zu vergessen, die vierte Generation: Henrikes Sohn Ulli, dessen Freundin Mandy und sein neuer Hamburger Freund Pawel, der findet, daß die DDR viel zu schnell aufgegeben worden ist, und gern noch einmal die Oktoberrevolution wiederholen würde.
Es ist nicht so sehr die etwas abenteuerliche, aber ohne große Spannung erzählte Story, die das Buch lesenswert macht. Gisela Karaus Stärke ist die Schilderung von Situationen, das Porträtieren von Personen, die Wertung menschlicher Beziehungen. Stimmig und differenziert wird der Denk- und Wertewandel in Henrikes Heimatstadt Rostock reflektiert. Dichte Atmosphäre haben die Szenen in Hamburgs Straßen, Hotels und zweifelhaften Vergnügungsstätten. Beklemmend und doch hoffnungsvoll die Situationsschilderung um den Tod des Seemann-Vaters. Nachdenkenswert die Dialoge über die Licht- und Schattenseiten der DDR und die Ursachen ihres Scheiterns. Auch die alte Genossin Pietermann, die Ex-Lehrerin und Urgroßmutter, habe, heißt es da, schmerzlich begreifen müssen: Man kann niemand zu seinem Glück zwingen. Die DDR ist an dem Irrglauben, daß dies möglich wäre, zugrunde gegangen. Es wurden den Leuten zu wenig Freiräume für das eigene Wollen, den eigenen Kopf gelassen. (S.193)
Was schließlich den Vorwurf der Nähe zur Pornographie betrifft: Die Szenen im Massagesalon sind zugegebenermaßen schonungslos schockierend und breit ausgemalt. Aber durchaus als eine realistisch-kritische Widerspiegelung von Zuständen zu verstehen, in denen menschliche Beziehungen immer wieder reduziert werden auf die gefühllose bare Zahlung. Glaubhaft gezeigt wird, wie sich Henrike mit der ihr verbliebenen emotionalen Kraft gegen diese Gefühllosigkeit wehrt. Bettfreuden, von denen sie träumt, die sie genießt und die von Gisela Karau durchaus mit anatomischen Details, aber auch mit Esprit und Ironie geschildert werden, heißen für Henrike vor allem auch menschliche Nähe und Geborgenheit. Vielleicht mag es manchen männlichen Leser verblüffen oder schockieren, daß diese Dinge hier so konsequent aus weiblicher Erlebniswelt dargestellt sind und die Männer dabei häufig - nicht immer - schlecht wegkommen.